Das Geheimnis des Fußballs: Homosexualität und Patriotismus

von Norbert Paulo (Salzburg und Graz)


„Manchmal frag‘ ich mich wirklich, was macht Fußball so attraktiv? Wenn mal wieder ein Spiel 0:0 ausging und fast jeder Angriff lief schief. Das kann doch nicht nur sportliche Gründe haben, wenn man Fußball so sehr liebt. Also woran kann es liegen, dass man deshalb Termine verschiebt?“ Mit diesen Fragen beginnt ein Text des humoristischen Liedermachers Funny van Dannen. Seine Antwort ist für das Lied titelgebend: Das Geheimnis des Fußballs sei „latente Homosexualität“.

Diese zeige sich u.a. im Jubelverhalten von Spielern und Fans, im ekstatischen Aufeinanderwerfen, in mehr oder weniger spontanen Choreographien, im Drang sich der Oberbekleidung zu entledigen etc. Männer leben nirgends so unbefangen ihre Gefühle aus wie auf und neben dem Fußballplatz. Hinterher wird dann gemeinsam geduscht.

Funny van Dannen legt in dem Lied auch nahe, dass Homosexualität im Frauenfußball nicht tabuisiert werde, was so wohl leider nicht stimmt. Zwar „bekennen“ sich anteilig sehr viel mehr Fußballerinnen offen zu ihrer Homosexualität als dies unter ihren männlichen Kollegen der Fall ist. Bis heute ist mir kein einziger wirklich berühmter Fußballer bekannt, der sich während seiner aktiven Karriere „geoutet“ hätte. Der bis heute berühmteste ist wahrscheinlich Thomas Hitzlsperger. Auch er hat sich aber entschieden, dies erst nach Beendigung der Karriere zu tun.

Dass es unter den heute aktiven berühmten Fußballern keinen gibt, der schwul ist, ist nicht nur unwahrscheinlich. Es ist statistisch nahezu ausgeschlossen. Schließlich liegt der gesamtgesellschaftliche Anteil bei ca. 10% (hier und im Folgenden vereinfache ich radikal, indem ich mit „schwul“, „lesbisch“ oder „homosexuell“ all jene bezeichne, die sich nicht als ausschließlich heterosexuell verstehen, also eher LGB als die viel umfassendere Gruppe, die mit LGBTQ+ bezeichnet wird; wenn man auch die weiteren Gruppen berücksichtigt, wäre es also noch unwahrscheinlicher, dass kein berühmter Fußballer dazu gehört). Der Fußball zieht zwar überproportional viele homosexuelle Frauen an. Aber auch wenn gleiches bei den Männern nicht der Fall sein dürfte, ist es nicht plausibel, anzunehmen, dass er signifikant überproportional viele ausschließlich heterosexuelle Männer anzieht.

Beim Fußball scheint sich ein Raum etabliert zu haben, zu dem nur „echte Männer“ Zugang haben (sollen). So kann man sich auch erklären, dass die erste Schiedsrichterin in der deutschen Bundesliga, Bibiana Steinhaus, erst 2017 aktiv werden durfte. Wer sich ihren Werdegang als Schiedsrichterin ansieht, bekommt einen Eindruck davon, was es bedeuten muss, sich als Frau in einer Männerdomäne zu behaupten. Davon könnte sicher auch Claudia Neumann ein Lied singen, die als erste Frau bei einem großen Turnier (der EM 2016 in Frankreich) fürs ZDF Spiele kommentieren durfte. Sie geriet prompt in einen Shitstorm. Gleiches wiederholte sich bei der WM. Dieser merkwürdig abgeriegelte Raum für „echte Männer“ lässt sich auch an recht harmlosen Dingen illustrieren: Die Werbeindustrie hat es geschafft, Fußball so eng mit Bier zu verknüpfen, dass sich für viele eine natürliche Verbindung zwischen Fußballgucken und Bierkonsum entwickelt hat. Werbung konditioniert. Und wer trinkt vor allem Bier? Richtig, Männer.

Auf dem Platz, im Stadion, in der Bar und vor dem heimischen Fernseher bietet der Fußball Männern also ein ganz besonderes Umfeld, das sie offenbar gerne in großen Zahlen in Anspruch nehmen. Für Bundesligaspiele von Borussia Dortmund werden im Durchschnitt über 79.000 Tickets verkauft (natürlich nicht nur an Männer); auch beim Serienmeister Bayern München sind es über 75.000 (das Stadion war in der Saison 2017/18 immer ausverkauft); aber selbst der SC Freiburg, der in der Bundesliga die wenigsten Zuschauer hatte, kommt noch auf knapp 24.000 (womit das Stadion auch fast immer ausverkauft war). Weitere 1,4 Millionen sehen im Schnitt die Spiele live auf Sky; auch die Berichterstattung in der Sportschau sehen noch knapp 5 Millionen. In Österreich liegt der Spitzenwert verkaufter Tickets immerhin bei über 18.000 (Rapid Wien), gefolgt von Puntigamer Sturm Graz (ja, die heißen wirklich nach einer Biermarke, Stichwort „Konditionierung“) mit knapp 10.000 Zuschauern. Serienmeister Red Bull Salzburg kommt lediglich auf knapp 7.000. In der Schweiz sind es beim FC Basel im Schnitt knapp 26.000, bei Young Boys Bern gut 21.000 und beim FC Zürich immerhin gut 10.000 Fans.

Die Rolle der Nation

Was all das aber nicht erklären kann, ist die besondere Rolle der Nation, die in der Bedeutung der jeweiligen Nationalmannschaften, aber auch im Mitfiebern mit Vereinen aus dem je eigenen Land in internationalen Wettbewerben, zum Ausdruck zu kommen scheint. Wie wir gerade gesehen haben, sind die Zuschauerzahlen in Deutschland, Österreich und der Schweiz selbst bei wöchentlichen Veranstaltungen, bei denen das Niveau doch erheblich schwankt, riesig. In der Champions League, wo das Niveau der Spiele üblicherweise deutlich höher ist, sind die Zahlen freilich noch größer. Das Halbfinal-Rückspiel der Bayern in Madrid haben allein im ZDF gut 13 Millionen Menschen verfolgt. In ganz anderen Dimensionen bewegen sich aber noch die großen Turniere der Nationalmannschaften. Das Finale der WM in Brasilien 2014 haben allein in Deutschland knapp 35 Millionen Menschen am Fernseher verfolgt, weltweit waren es nach Informationen der FIFA mehr als eine Milliarde. Und selbst das Vorrundenspiel der Deutschen gegen Schweden 2018 haben allein in Deutschland mehr als 27 Millionen im Fernsehen gesehen.

Nationen ziehen also offenbar mehr als Vereine, mehr sogar als sehr gute Vereine. Das Finale der Champions League zwischen Real Madrid und dem FC Liverpool hatte in Deutschland weniger Zuschauer als das Halbfinale (gut neun Millionen). Zwar waren auf beiden Seiten deutsche Spieler beteiligt, aber eben keine deutsche Mannschaft. Dass da zwei der besten – oder sogar die zwei besten – Mannschaften Europas (vielleicht sogar der ganzen Welt) aufeinandertreffen, ist wichtig, aber für viele nicht zentral. Wichtiger wäre noch, dass eine Mannschaft aus dem eigenen Land im Finale steht – und dies fast unabhängig davon, wie viele Spieler aus dem eigenen Land in der jeweiligen Mannschaft spielen. Beim angesprochenen Halbfinalspiel der Bayern in Madrid standen in den Anfangsformationen immerhin sechs Deutsche (fünf bei Bayern und einer bei Madrid) und vier Spanier (drei bei Madrid, einer bei Bayern) auf dem Platz. Aber obwohl auch vier Franzosen dabei waren, fanden wahrscheinlich nur wenige französische Fans das Spiel so interessant wie die spanischen.

Es geht also eher um die Herkunft des Vereins als um die Herkunft der Spieler auf dem Platz. Es geht auch nicht um Qualität. Schließlich ist keine Nationalmannschaft so stark wie die besten Teams in der Champions League. Weder sind die Einzelspieler selbst der besten Nationalmannschaften so gut wie bei Barcelona, Bayern, Liverpool oder Madrid, noch sind die Nationalmannschaften so eingespielt wie die Vereinsteams. Wer das nicht glaubt, sehe sich einfach nochmal die Spiele der Deutschen oder der Argentinier bei der WM in Russland an.

Es geht um etwas anderes: etwa um bestimmte Charakteristika, die einem Verein bzw. einer Nation anhaften. Egal, woher der Spieler kommt, so die Idee, wenn er für Bayern spielt, dann verkörpert auch er diese Charakteristika – zumindest wird das von ihm verlangt. Besonders schön wird dieses Ideal durch den jährlichen Besuch der Bayern-Spieler auf dem Oktoberfest illustriert, wo man offensichtlich mit der Bierzeltkultur fremdelnde junge Spitzensportler mit unterschiedlichsten Hintergründen in Lederhosen und mit Bierkrügen ausgestattet posieren lässt. Gewissermaßen ähneln die arglosen Spieler den asiatischen Touristinnen, die in Bussen ins österreichische Hallstatt gebracht werden, um dort in Leih-Dirndls vor Alpenkulisse zu posieren. Der PR-Termin der Bayern auf dem Oktoberfest soll jedes Jahr wieder sagen: „Egal woher wir kommen, jetzt sind wir Bayern wie ihr, die Fans.“

In einem Artikel für die ZEIT weist Hans Ulrich Gumbrecht auf die Merkwürdigkeit der ungebrochenen Beliebtheit von Nationalmannschaften hin. Da halte sich etwas ganz Archaisches. Viele sehen in den Nationalmannschaften bestimmte nationale Charakteristika verkörpert, bspw., dass die Deutschen nicht aufgeben und kämpfen, die Engländer forsch und robust sind, die Spanier kreativ und emotional, die Mexikaner heißblütig etc. Dabei muss man sich nur Spiele der deutschen Nationalmannschaft aus den 1970er oder 1980er Jahren im Vergleich zu denen der letzten Jahre ansehen, um festzustellen, dass es nicht allzu viele Gemeinsamkeiten gibt. Deutlich verändert haben sich neben der Spielweise auch die Namen und Phänotypen der Spieler. Die Stars heißen heute nicht mehr nur Müller oder Beckenbauer. Sie heißen auch Özil, Boateng oder Sane.

Die Rolle der patria

Was ist es aber dann, was Nationalmannschaften verkörpern? Ist es etwa Nationalismus oder Patriotismus? „Nationalismus“ ist für Deutsche aus bekannten historischen Gründen ein schwieriger Begriff. Ich meine ihn hier neutral in dem Sinne, dass er die Sorge um die bzw. die Relevanz der eigene(n) nationale(n) Identität umfasst, welche durch gemeinsame Sprache, Geschichte, Kultur etc. geprägt ist. Demgegenüber kann man „Patriotismus“ so verstehen, dass er eine besonders starke Sorge um die eigene Nation ausdrückt oder sogar eine Art Opferbereitschaft. Einfacher und klarer abgrenzbar ist aber das Verständnis von Patriotismus als Sorge um den eigenen Staat (patria) im Gegensatz zur Nation. In einem porentief reinen Nationalstaat – in dem also nur die Angehörigen der (Kultur- oder Sprach-)Nation im Staat zusammenkommen – wäre beides das gleiche. Da es das aber nicht (mehr?) gibt, können Nationalismus und Patriotismus auseinanderfallen. Wenn die Deutschen heute Boateng, Sane oder – bis vor Kurzem – Özil ebenso verehren wie Müller und Neuer, dann eben darum, weil sie nicht im benannten Sinn nationalistisch sind, sondern weil sie patriotisch sind. Die Spieler mit „Migrationshintergrund“ mögen vielleicht nicht in einem tiefen Sinn Teil der deutschen Nation sein, sie sind aber Teil der patria. So erklärt sich auch, warum die Österreicher nicht die deutsche Nationalmannschaft anfeuern, obwohl in Österreich der Gedanke an eine gemeinsame deutsche Nation stark verbreitet ist, was sich nicht zuletzt in der Regierungsbeteiligung der FPÖ zeigt.

Patriotismus erklärt auch besser als Nationalismus die beschriebene Assimilierung internationaler Spieler bei neuen Vereinen (die Bayern auf dem Oktoberfest) und die Bedeutung der Herkunft der Vereine statt der Herkunft der Spieler in internationalen Wettbewerben. Dieser Erklärungsansatz hat einen weiteren Vorteil: Wenn es gut läuft, fällt es nicht schwer, den Erfolg auch auf die Nation abstrahlen zu lassen. Bei Misserfolgen kann man aber immer auf die „Söldner“ schimpfen, die eben nicht gespielt haben, wie es für den jeweiligen Verein oder die jeweilige Nationalmannschaft „normal“ oder „natürlich“ wäre. Als ich in einem Biergarten in Salzburg kürzlich das schlechte Spiel der Deutschen gegen Mexiko gesehen habe, rief dort ein (angetrunkener) Österreicher immer wieder „Das liegt an Euren Türken!“ Kurz: Das Problem liegt nie bei der Nation selbst, sondern immer bei der mehr oder weniger zufälligen Zusammensetzung der patria. Deswegen ist bei Vereinsfans auch nichts verhasster als der Spieler, der zu einem „Rivalen“ wechselt. Er kappt nämlich diese rein positive Verbindung zwischen patria und Nation.

Die Staatsangehörigkeit kann man wechseln, die Nationszugehörigkeit aber nicht. Ein Schelm, wer in diesem Kontext an Özils und Gündogans Treffen mit dem türkischen Präsidenten denkt, auf das besagter Österreicher in dem Biergarten vermutlich angespielt hat. (Hier argumentiere ich, dass die Reaktionen auf #Özilgate damit zu tun haben, dass Nationalspieler verbreitet wie Soldaten betrachtet werden.)


Norbert Paulo ist Post-Doc am Institut für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz und am Fachbereich für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Salzburg. Außerdem ist er Fellow des „jungen ZiF“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF, Universität Bielefeld).