12 Jul

Wer einmal foult… Über einige Besonderheiten des unfairen Spiels

von Andreas Hütig (Mainz)


„Brutal gut“, „Vorbildlich böse“ – so oder ähnlich betitelten deutsche Qualitätszeitschriften oder Nachrichtenmagazine Berichte und Kommentare zum diesjährigen Champions-League-Finale der Männer. Als wichtigster Akteur, auf den sich dann auch diese Bezeichnungen bezogen, wurde wieder einmal Sergio Ramos, der Kapitän von Real Madrid (und der spanischen Nationalmannschaft), ausgemacht. In den Porträts klang eine merkwürdige Mischung aus hymnischer Verehrung („Kompletter als jeder andere Spieler der Welt.“) und Abscheu vor der Kompromisslosigkeit durch, die auch Verletzungen des Gegners, gleich ob Topstürmer oder Torwart, nicht nur in Kauf nimmt, sondern womöglich gerade sucht.

Die Einstellung, dass eine gesunde Härte zum Spiel gehört, haben Ramos und seine Bewunderer nicht exklusiv. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Länge der Vereinszugehörigkeit mit einer Zunahme einer reinen Ergebnisorientierung im Fairnessverständnis korreliert – „eines ist klar, und das gilt für Schüler genauso wie für Bundesligaprofis: bevor ich dem Gegner erlaube, ein Tor zu schießen, muss ich ihn mit allen Mitteln daran hindern – und wenn ich das nicht mit fairen Mitteln tun kann, dann muss ich es eben mit einem Foul tun. Lieber einen Freistoß als ein Tor. Wer das nicht offen zugibt, der lügt sich was vor – oder er ist kein Fußballer“, so Paul Breitner schon 1980 in seinem Buch Ich will kein Vorbild sein.

1 Die Instrumentalität des Fouls

Die Antwort auf die Frage, warum Fußballer – und auch Fußballerinnen, wie mit Blick auf ein für den Ausgang ebenfalls wichtiges überhartes Einsteigen der deutschen Spielerin Alexandra Popp mit anschließender gelb-roter Karte im diesjährigen Champions-League-Finale der Frauen hinzugefügt sei – foulen, scheint wenig kompliziert: Fußballer foulen, um einen Vorteil im Spiel zu gewinnen, sei es in der Situation oder – mit Blick auf mögliche Folgen beim Opfer – für den Rest des Spiels oder für eine noch weitergehende Konkurrenzsituation etwa im Vorfeld von Kadernominierungen. Frustfoul, Revanchefoul, taktisches Foul – auch bei diesen Varianten lässt sich ohne große Verrenkungen eine instrumentelle Rationalität feststellen, die individuell ergiebig oder mannschaftsdienlich oder beides ist. Wer Fußball, in Sonderheit Profifußball spielt, hat den Erfolg im Spiel als Ziel und den daraus resultierenden beruflichen Aufstieg, Ruhm, Verdienst oder Einfluss zum Zweck seines beruflichen und persönlichen Engagements gemacht.

Aus diesem Ziel und diesem Zweck werden die einzusetzenden, möglichst effektiven und effizienten Mittel abgeleitet: physisches und taktisches Training schon im Teenager-Alter, mentale Vorbereitung, aber auch dem Fußball eigentlich äußerliche, seiner gegenwärtigen medialen und wirtschaftlichen Verfasstheit geschuldete Maßnahmen wie Medienschulung, die Wahl des richtigen Beraters, die Auswahl der Werbepartner, Charity-Aktivitäten… Zu diesen Mitteln gehört dann aber auch der kalkulierte oder zumindest in Kauf genommene Regelverstoß innerhalb des Spiels, selbst wenn die zugrunde liegende Handlung eine Gefahr für den Gegenspieler darstellt und daher als grobes Foulspiel gewertet wird. Aus diesem individuellen Kalkül heraus stellt das Foulen also eines unter mehreren Instrumenten dar, die zum Erfolg im Spiel eingesetzt werden können. Es bleibt zunächst ebenso dem individuellen Kalkül und der individuellen Bewertung von Bestrafungsrisiken und Imageverlusten (oder sogar -gewinnen), der Gewichtung von Normen und Idealen sowie der individuellen Motivation zur Regelbefolgung oder zum Regelverstoß überlassen, über den Einsatz dieses speziellen Mittels zu entscheiden.

Überlagert und in der Regel verstärkt wird dieser individuelle Kalkül durch die extrem intensive Eingebundenheit des Profifußballs in die spezifischen gegenwärtigen Organisationsformen und Verwertungsketten (Hinzu kommt die politische Instrumentalisierung, über die etwa Norbert Paulo schreibt). Am Spielerfolg der Mannschaft und dem jeweils individuellen Beitrag dazu wird sportlicher Erfolg, etwa durch gewonnene Titel oder durch die Ligazugehörigkeit, gemessen. An diesem wiederum hängt wirtschaftlicher Erfolg, sowohl für den Verein wie auch für den individuellen Spieler. Wer egal welche Instrumente gut kalkuliert einsetzt oder sogar zum Einsatz spezifischer Mittel aufgefordert wird – wie bereits Jugendspieler durch Trainer und Eltern -, wessen Mannschaft dann auch dadurch erfolgreich ist, erhält Auszeichnungen und Titel, gut dotierte Angebote der Vereine, Medienpräsenz und lukrative Werbeverträge. Die mediale, popkulturelle und ökonomische Eingebundenheit des Profifußballs könnte gegenwärtig wohl kaum höher sein. Sie stößt allenfalls dort an gewisse Grenzen, wo zusätzliche Verwertungslogiken gegen ungeschriebene Gesetze der Fankultur verstoßen oder grundlegende Regeln des Sports in Frage stellen. Eine gesunde Härte im Zweikampf gegen den Mann – das berühmte „faire Foul“ – gehört aber wohl nicht dazu.

Dass in einer tendenziell skandalorientierten Medienwelt besonders brutale Fouls und Spieler mit besonderer Härte auch besonders gut zur medialen Verwertung taugen, sei nur am Rande erwähnt – wer will, mag sich die einschlägigen Zusammenstellungen der „Worst tackles and fouls“ bei Youtube antun. Die Eingebundenheit in sportliche Wettkampf- und Bewertungssysteme wie in medial-ökonomische Verwertungsketten trägt in jedem Fall zur Entscheidung über den Einsatz des spezifischen Instruments bei und wird diesen nicht selten unterstützen. Neben die individuelle Orientierung am Erfolg tritt daher eine systemische Aufforderung, sich der Be- und Verwertungslogik nicht zu entziehen, diese sogar durch eigenes Handeln zu exerzieren und den eigenen Körper Gewinn bringend einzusetzen – notfalls eben mit für den Gegner schmerzhaften Nebenfolgen.

2 Foul ist, wenn der Schiri pfeift

So weit, so bedauerlich? Sind Profifußballer, getrieben von Ehrgeiz, geformt und gestählt in Nachwuchsleistungszentren und von überhitzten Medien- und Wirtschaftskreisläufen angefeuert und verwertet, einfach keine guten Menschen und treten die Idee des Fußballs sozusagen ungeniert mit Füßen? Diese Sichtweise scheint einer kommerzialisierungskritischen Position zu entsprechen, die selbst fußballaffine Menschen zunehmend Abstand vom big business der Hochglanzinszenierungen nehmen lässt. Schaut man genauer hin, so beschwört etwa der DFB in seinem Regelheft den „Geist des Fußballs“ (S. 29), der vermutlich in Verbandssicht von rüden Fouls und Unsportlichkeiten deutlicher in Frage gestellt wird als durch die medialen und kommerziellen Überformungen. Im Glossar des genannten Heftes wird der genannte Geist recht vage und allenfalls extensional mit „[die] wichtigsten/grundlegenden Grundsätze/Ethos des Fußballs“ (S. 92) beschrieben. Was genau ein Foul ist, wird begrifflich nicht bestimmt, wenn auch der Ausdruck durchaus Verwendung findet – es scheint einigermaßen klar zu sein, was ein Foul ist. Beschrieben werden – in Regel 12: Fouls und unsportliches Betragen – zwar die Vergehen und Verhaltensweisen, die geahndet werden und unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen.

In letzter Konsequenz entscheidet dann der Schiedsrichter – oder auch die Schiedsrichterin – im genannten Geist des Fußballs, ob im Einzelfall die Regel gebrochen oder ein regelkonformes Verhalten vorliegt. Das Regelsystem ist aber wenn nicht darauf angewiesen, so doch darauf vertrauend, dass diejenigen, die sich ihm unterwerfen, das zugemutete Verhalten auch als normativ legitim begreifen können. Diejenigen, die die Anwendung kontrollieren, greifen auf übergeordnete normative Prinzipien zurück, um die Richtung der Anwendung zu begründen, ohne dass damit schon die Einzelfallbewertung determiniert ist. Normativität lässt sich in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, in der der Profifußball von ökonomischen und medialen Imperativen überformt ist, wohl nicht anders als mit juridischer Rahmung vermitteln. Wer in den letzten Bemerkungen Habermas, Dworkin oder Alexy herausgehört hat, kann bzw. muss daneben aber auch noch Derrida legen: Urteile sind auf ihre Konstitutionsbedingungen und Etablierungsumstände zu relativieren, damit wird die Abhängigkeit von Normativität auch im Fußballspiel von den Umständen der Regelkodifizierung und -durchsetzung deutlich. Zugleich entwertet dies die Geltungskraft nur partiell, weil die Bedingungen und Begrenzungen natürlich jedem Beteiligten klar sind und demjenigen, der freiwillig zustimmt, sich unter ein Regime zu begeben – und sei es das eines Schiedsrichters -, kein prinzipielles Unrecht durch deren Anwendung geschieht.

Weit davon entfernt, bloß einen Rahmen zu bilden, folgt damit die Regelsetzung, -anwendung und -durchsetzung einer eigenen Logik und verteilt eigene Positionierungen und Rationalitäten innerhalb des durch sie geformten Settings. Regeltheoretisch lässt sich dies mit der auf Searle zurückgehenden Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln einholen: Konstitutive Regeln zeigen an, was etwas in einem bestimmten Kontext bedeutet, regulative Regeln überformen bereits existierenden Praktiken und Kontexte mit weiteren, aber nicht zwingend konstitutiven Elementen. Übertragen auf Sportspiele bedeutet dies, dass Regeln über Verstöße und, in geringem Maße, über Strafen, tatsächlich zu den konstitutiven Regeln gehören: Sie legen fest, was zum Spiel gehört und wie dieses durchzuführen ist. Wer keinen Ball hat, kann keinen Fußball spielen, egal nach welcher Regel; wer foult, spielt zwar Fußball, aber auf eine verbotene Art und Weise, und wird daher dem Bestrafungsregime so unterworfen, wie es in den Regeln konstituiert wird. Schiedsrichter sind auch in dieser Perspektive keine Regeldurchsetzungsmaschinen, sondern konstitutiver Teil des Spiels – und das mit allen menschlichen Unwägbarkeiten und Anfälligkeiten, die auch durch den Einsatz von Technologie wie beim Videobeweis nur minimiert, aber nicht ausgeschaltet werden können. Ein Verzicht auf Schiedsrichter und auf genauere Bestimmungen der Verstöße, wie das etwa in manchen Wilden oder Bunten Ligen außerhalb des DFBs praktiziert wird, macht die dort Agierenden in anderer Weise zu am Gelingen des Spiels Mitverantwortlichen; auch eine solche Praktik können wir selbstverständlich trotzdem Fußball nennen, wenn auch in etwas anderem Sinne. Sie ist natürlich auch in keinem Maße vergleichbaren Imperativen aus Ökonomie, Medien und persönlicher Lebensplanung unterworfen.

Für das Foulen bedeutet dies, dass seine Möglichkeit tatsächlich zu den konstitutiven Elementen des Spiels in seiner ausdifferenzierten Verfassung gehört. Die Regelverletzung ist also nicht nur ein extern motivierter Effekt, der aus dem kalkulierten Einsatz körperlicher Interventionen resultiert. Sie ist vielmehr ein konstitutives Moment derjenigen Praxis, die wir gegenwärtig professionellen Wettkampffußball nennen – und nur nennen können, weil bzw. insofern diese Praxis von Regeln konstituiert wird. Im Foul bricht nicht etwa das ganz Andere einer hoch regulierten Körperpraxis oder das überwältigend Reale in das Spiel hinein, sondern es gehört zur institutionalisierten, regelgeleiteten Aktivität konstitutiv hinzu.

3 Nur ganz leicht retuschiert: Der ungeschickte Mensch

Ist damit schon alles über die Logik des Foulens gesagt? Vermutlich müssen wir den genannten Rationalitäten und Funktionalitäten noch eine weitere Dimension zur Seite stellen. Nicht zuletzt handelt es sich ja beim Fußball um eine körperliche Praxis, die mit zahlreichen künstlichen Konstrukten für den Körpereinsatz aufwartet und diese eben als konstitutive Regeln umfasst. Plakativ gesprochen: die eigentlich geschicktere Extremität des Menschen, die Hand, wird weitestgehend still gestellt, während die eigentlich ungeschicktere freigestellt wird und gewissermaßen unnatürliche Extremleistungen erbringen muss. In dieser anthropologisch interessanten Situation entsteht das Staunen über die besonderen Fähigkeiten der Talentierten und Trainierten sowie das beglückende Gefühl, das sich auf den Rängen wie auf dem Platz dann einstellt, wenn doch einmal ein eigentlich extrem unwahrscheinlicher Glücksfall eintritt und der perfekte Ball gelingt.[1] Als solchermaßen „Zelebration des Unvermögens“ (Martin Seel) bzw. seiner raren Überwindung ist Fußball aber eben wie viele Formen des Sports und der Kunst auf eine intensive Zurichtung des menschlichen Körpers angewiesen. Diese gelingt mal mehr, mal weniger – und das zeigt sich auch im Einsatz verbotener körperlicher Mittel.

Nicht selten sind es ja mangelnde Körperkontrolle und physische Defizite, die zu Interventionen am Körper des Gegners führen. Auch wenn die Gestik des Ungewollten und Versehentlichen inzwischen auch zum Standardrepertoire der Schiedsrichterbeeinflussung gehört, lässt sich doch nicht ganz von der Hand weisen, dass es solche unintendierten Zusammenstöße und unkontrollierten Foulspiele gibt. Zwar versuchen Trainingswissenschaften und -praxis, das nötige implizite Körperwissen in die jeweiligen Spieler einzuarbeiten und so empraktische Kompetenz zu erzeugen. Wie alle Kompetenzen zeigen sich diese aber erst in der konkreten Umsetzung – oder eben im fehlerhaften, misslingenden Gebrauch.

Foulen folgt also, darauf ist hinzuweisen, neben der instrumentellen und der juridischen Rationalität – inklusive der mit ihr gekoppelten normativen Grundierung – auch einer Logik des im absichtlichen Foul hoch kontrollierten und im unabsichtlichen des gelegentlich misslingenden Körpereinsatzes und ist dann Ausdruck der Körperkontrolle oder eines Unvermögens und einer misslingenden Praxis. Dies ist aber, gleich ob als Misslingen oder als gezielte Intervention, als Hintergrundfolie desjenigen unwahrscheinlichen Gelingens zu werten, das den ästhetischen Reiz noch des durchrationalisierten Profisports ausmacht. Wenn also ein im Vollsprint an grätschenden Gegnern vorbei geschlagener Pass von der linken Außenbahn kunstvoll mit der Brust gestoppt und mit links am Torwart vorbei gelegt wird und wenn das auch noch im WM-Finale passiert, dann ist das auch deshalb so wunderbar, weil wir genau wissen, wie unwahrscheinlich das in einem Spiel mit intervenierenden fremden Körpern und nicht restlos kontrollierbarer eigener Physis ist und wie oft bei solchen Versuchen nicht nur der Ball, sondern auch der Gegenspieler leidvoll das Ungenügen des Akteurs zu spüren bekommt.

4 Nach dem Spiel

Das Foulen stellt selbstverständlich kein besonders vorzugswürdiges Verhalten im Fußball dar. Regelverletzungen sind aber Effekte verschiedener, sich überlagernder und teils verstärkender, teils sich korrigierender Rationalitäten und Zuweisungen von Subjektpositionen, weil Fußball nun mal ein agonales Sportspiel ist, in dem Körper mit- und aneinander agieren. Sie werden tatsächlich von vielen der angesprochenen Logiken als sinnvoll identifiziert, empfohlen und gefördert und müssen sogar in ihrer Möglichkeit als konstitutiv für das gesamte Spiel ausgewiesen worden. „Rambo-Ramos“ und die anderen brutal guten Fußballer sind im Einzelfall damit natürlich keineswegs exkulpiert.

Wenn zugleich der Profifußball exemplarisch für andere Praktiken und Segmente unserer ausdifferenzierten Moderne steht, dann ist womöglich aber auch für unsere gesamte Gesellschaft etwas an diesem Befund abzulesen. Ob sich die Überlagerung von instrumentell-ökonomischer Rationalität, konstitutiver Rahmung und situativen Ungenügens hochtrainierter Körper je aufheben lässt, sei dahin gestellt. Ob sie eher ein Beleg dafür ist, dass unsere Gegenwart nur noch nicht vollständig durchrationalisiert ist, oder doch eher ein Indiz für eine unhintergehbare Widerständigkeit spielerisch-körperlicher Praktiken, wäre zu diskutieren.


Andreas Hütig ist Philosoph und Kulturwissenschaftler und als Mitarbeiter beim Studium generale der Johannes Gutenberg-Universität Mainz tätig. Er ist Herausgeber des Bandes Abseits denken. Fußball in Kultur, Philosophie und Wissenschaft (AGON Sportverlag 2004).


Fußnote

[1] Siehe dazu auch Andreas Hütig: „Bewegte Körper, berührte Seelen. Versuch über Transzendenz und Gemeinsinn im Fußball“, in: Gabriele Klein / Michael Meuser (Hg.): Fußball-Gemeinden. Zur politischen Soziologie eines populären Sports, Reihe „Materialitäten. Texte zur Soziologie von Körper, Bewegung und Raum“, Bielefeld 2008, 251-269.