Warum ist es moralisch problematisch, zu viel Geld zu haben?
von Matthias Kramm (Utrecht)
Bis zu der Scheidung von seiner Frau MacKenzie bleibt Jeff Bezos mit einem Besitz von 131 Milliarden Dollar der reichste Mann der Welt. Dicht auf ihn folgt Bill Gates mit 96,5 Milliarden Dollar. Die Aldi-Süd-Erben Karl Albrecht Junior und Beate Heister landen mit 36,1 Milliarden Dollar auf Platz 23 der Forbes-Liste[1]. Laut Statista[2] besaßen deutsche Bundesbürgerinnen und Bundesbürger im Jahr 2017 ein durchschnittliches Pro-Kopf-Geldvermögen von 52.390 Euro. In Österreich betrug das Pro-Kopf-Geldvermögen 53.980 Euro und in der Schweiz erstaunliche 173.990 Euro. Auch wenn noch Vermögenswerte wie Haus, Auto etc. dazu kommen würden, bleibt der Vergleich schwindelerregend: Jeff Bezos und Bill Gates würden jeweils immer noch mehr als 490.000 Schweizer, 1,5 Millionen Österreicher oder 1,6 Millionen Deutsche besitzen.
Ist ein derartiger Reichtum von Einzelpersonen noch gesund für die Gesamtgesellschaft? Oder sind Bezos & Co zu Recht so reich geworden, weil sie innovative Unternehmerinnen und Unternehmer sind, die Arbeitsplätze schaffen und deren Geld letztlich auch den ärmeren Bevölkerungsschichten zugutekommt? So behauptet es zumindest die sogenannte „Trickle-down-Theorie“ hartnäckig seit Jahrzehnten, die allerdings von namhaften Ökonominnen und Ökonomen wie Joseph E. Stiglitz[3] im Reich der Mythen angesiedelt wird. Sehr gut empirisch belegt für die Vereinigten Staaten, Japan, Deutschland, Frankreich und Großbritannien ist hingegen die These von Thomas Piketty[4], dass in der gegenwärtigen Wirtschaftssituation Reiche aus ihrem Kapital mehr Einkommen generieren können, als in demselben Zeitraum mit wirtschaftlichen Investitionen möglich ist.
Können wir überhaupt moralphilosophisch über Reichtum debattieren? Gibt es eine Reichtumsgrenze, d. h. eine Scheidelinie zwischen Vermögen, das zu einem erfüllten Leben gehört, und Überfluss-Vermögen, das umverteilt werden sollte? Laut Christian Neuhäuser[5] und Ingrid Robeyns[6] wirft Reichtum in der Tat moralische Fragen auf.
Dabei unterscheidet Ingrid Robeyns zwischen einer intrinsischen Rechtfertigung einer solchen Reichtumsgrenze und einer nicht-intrinsischen Rechtfertigung. Intrinsisch heißt, es ist für die reiche Person selbst schädlich, zu viel zu besitzen. Platon[7] und Aristoteles[8] argumentieren beispielsweise, dass jemand, der ausschließlich nach Reichtum strebt, schnell das Streben nach Weisheit oder dem guten Leben vernachlässigt. Laut Danielle Zwarthoed[9] kann extremer Reichtum die persönliche Autonomie von Superreichen untergraben. Zugleich kann uns eine solche Argumentation fremd erscheinen: Sollen wir die Reichen etwa für ihren Reichtum bemitleiden?
Nicht-intrinsische Argumente sind eventuell besser nachvollziehbar. Diese beziehen sich nicht auf die reiche Person selbst und ihr Wohlbefinden, ihre Autonomie oder Ähnliches, sondern auf andere Werte in der Gesellschaft. Ich werde mich im Folgenden auf zwei mögliche Argumentationsstrategien beschränken. Die erste bezieht sich auf den Wert politischer Chancengleichheit in demokratischen Staatsformen, die zweite auf die existenziellen Nöte von Menschen, die in extremer Armut leben.
Eine unumstößliche Voraussetzung für eine Demokratie ist es, dass jedes Mitglied auf gleiche Weise an demokratischen Prozessen teilnehmen kann. Dabei sollte persönlicher Reichtum keine Rolle spielen. Leider sind die ökonomische und die politische Sphäre oftmals nicht so strikt getrennt, wie es in einer idealen Demokratie der Fall sein sollte. Der Philosoph Thomas Christiano[10] unterscheidet zwischen verschiedenen Weisen, wie Geld in politischen Einfluss umgewandelt werden kann. Dies erfolgt erstens durch die Finanzierung von Wahlkampagnen, wobei durch Geldspenden Einfluss erkauft wird. Zudem können sich reiche Personen aussuchen, wen sie wie finanzieren. Eine zweite Weise betrifft die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Wer Geld hat, kann sich Lobbyistinnen und Lobbyisten leisten oder den medialen Diskurs mitbestimmen. Eine dritte und letzte Art, wie sich reiche Personen politische Macht erkaufen können, ist durch Druck, den sie ausüben. Wenn ihnen eine politische Entscheidung nicht zusagt, drohen sie mit der Auslagerung ihrer Produktionsstätten ins Ausland. Christiano zeigt also, dass zwischen demokratischer Gleichheit und dem Superreichtum einiger Weniger eine Spannung besteht. Eine Reichtumsgrenze könnte entsprechend dabei helfen, zu verhindern, dass Superreiche durch ihren politischen Einfluss bestehende Demokratien aushöhlen.
Damit komme ich zum zweiten Argument. Laut Oxfam[11] besaßen 2018 die 26 reichsten Menschen der Welt genauso viel wie 3,8 Milliarden der Ärmsten. Wenn Ungleichheit solche astronomischen Ausmaße annimmt, sollten wir dann nicht über Umverteilung nachdenken? Welchen Mehrwert hat der dritte Ferrari in der Garage für seine Besitzerin? Seit Thorstein Veblen[12] denken Ökonominnen und Ökonomen über den sogenannten „Geltungskonsum“ nach. Demnach kommt es beim dritten Ferrari nicht mehr auf den Fahrgenuss an, sondern darauf, mehr schicke Autos zu besitzen als der wohlhabende Nachbar. Es geht also darum, den eigenen Status zu verteidigen. Wenn aber auf der anderen Seite Menschen und Kinder hungern, gibt es dann nicht effektivere Weisen, ein solches Überfluss-Kapital zu investieren? Die moralphilosophische Frage ist also, ob wir eine Grenze definieren können, die es Menschen ermöglicht, ein erfülltes Leben zu leben. Für Vermögen, die diese Grenze übersteigen, könnte über Umverteilung oder progressive Besteuerung nachgedacht werden.
Die beiden Argumente unterscheiden sich allerdings in einigen Punkten voneinander. Die Begrenzung von Reichtum, um politische Gleichheit zu gewährleisten, bezieht sich auf einzelne demokratische Staaten. Die Umverteilung von Reichtum, um extreme Armut zu mindern, hätte hingegen eine globale Dimension. Um demokratische Teilnahme abzusichern, sind verschiedene Mittel denkbar, z. B. eine Höchstgrenze für Parteispenden oder mehr Transparenz bezüglich der Frage, wer Geld von wem erhält. Die Besteuerung von Reichen könnte dabei einen erheblichen Beitrag zur Lösung des Problems leisten. Die Bekämpfung globaler Armut würde eine radikale Umverteilung erfordern. Um nicht alle Bürgerinnen und Bürger, die reichen und die armen, gleichermaßen in die Pflicht zu nehmen und eventuell zu überfordern, wäre eine Konzentration auf Superreiche sinnvoll. Dabei wären schon kleine Maßnahmen äußerst effektiv. So könnte eine zusätzliche Erhebung der Vermögensteuer für die reichsten 1 % um 0,5 % genug Geld generieren, um 262 Millionen Kinder zu beschulen und 3,3 Millionen Menschen Gesundheitssorge zukommen zu lassen.
Es ist verwunderlich, wie weltweit über eine Armutsgrenze diskutiert wird, das Thema einer Reichtumsgrenze aber weitgehend unberührt bleibt. Ein Vorschlag für eine solche Reichtumsgrenze, bzw. eine Grenze für ein erfülltes Leben, ist von Robert und Edward Skidelsky[13] vorgelegt worden. Im Rückgriff auf Aristoteles definieren sie eine Liste von sieben Basisgütern wie Gesundheit, Sicherheit, Respekt, Persönlichkeit, Harmonie mit der Natur, Freundschaft und Muße. Eine Person, in deren Leben diese Güter verwirklicht sind, lebt ein erfülltes Leben. Wer darüber hinaus Besitz anhäuft, besitzt zu viel. Natürlich ist es einfacher, darüber zu diskutieren, was Menschen zum Leben brauchen, als darüber, was „zu viel des Guten“ wäre. Jemandem zu sagen, dass er oder sie jetzt „genug“ hat, das riecht in unserer liberalen Welt schnell nach Bevormundung. Der Theologe David Cloutier[14] wirft den Skidelskys entsprechend Elitismus vor und wählt einen prozeduralen Weg: Er identifiziert zunächst Nahrung, Unterbringung, Transport und medizinische Versorgung als Grundbedürfnisse, überlässt es dann aber Gemeinschaften vor Ort, darüber zu entscheiden, wann eines ihrer Mitglieder im Überfluss lebt. Wenn wir politische Chancengleichheit und die Vermeidung extremer Armut zur Grundlage unserer Reichtumskritik machen, würde eine Reichtumsgrenze nicht anhand von Basisgütern oder Luxusbedürfnissen ermittelt werden, sondern daran, ab wann zu viel Besitz demokratische Prozesse untergräbt oder zu Lasten der Ärmsten der Armen geht. Da beide Kriterien zu jeweils unterschiedlichen Reichtumsgrenzen führen können, bräuchte es eine zusätzliche Regel, welche Grenze in welchen Fällen ausschlaggebend sein soll. Diese Grenze wäre nicht fix, sondern müsste in regelmäßigen Abständen neu ermittelt werden.
Die Frage einer Reichtumsgrenze ist also weiterhin offen und kann von
verschiedenen philosophischen Perspektiven aus verschieden beantwortet werden. Das
bedeutet allerdings nicht, dass diese Frage unlösbar ist. Was es braucht, ist lediglich
eine gründliche philosophische Reflexion. Wenn uns die politische Chancengleichheit
in unseren Demokratien am Herzen liegt und uns die extreme Armut in anderen
Teilen der Welt moralisch herausfordert, dann sollten wir uns der Frage einer
Reichtumsgrenze erneut stellen. Das Schreckgespenst einer totalen
Gleichmacherei, das Ökonominnen und Ökonomen gerne gegen solche Überlegungen
ins Feld führen, brauchen wir dabei nicht zu fürchten. Der Einführung einer
Reichtumsgrenze muss nicht notwendigerweise ein Reichtumsverbot folgen. Eine
gerechtere Besteuerung von Einkommen und Vermögen, etwa durch einen angemessen
hohen Einkommensteuersatz, eine Vermögens- und/oder Erbschafts- und
Schenkungssteuer wären schon Schritte in die richtige Richtung.
Matthias Kramm ist Doktorand und assoziiertes Mitglied des „Fair Limits Project“ an der Universität Utrecht. Derzeit forscht er zur Rolle kultureller Traditionen innerhalb wirtschaftlicher Entwicklungsprozesse. Zu seinen Interessen gehören Pragmatismus, Wirtschaftsethik und der „Capability Approach“.
[1]https://www.forbes.com/billionaires (abgerufen am 13.05.2019)
[2]https://de.statista.com/statistik/daten/studie/164626/umfrage/geldvermoegen-pro-kopf-2009/ (abgerufen am 13.05.2019)
[3]Stiglitz, Joseph, 2012, „Der Preis der Ungleichheit“, Blätter für deutsche und internationale Politik 8, pp. 31–32
[4] Piketty, Thomas, 2017, Das Kapital im 21. Jahrhundert, übersetzt von Ilse Utz und Stefan Lorenzer, (München: C. H. Beck)
[5]Neuhäuser, Christian, 2018, Reichtum als moralisches Problem, (Berlin: Suhrkamp)
[6]Robeyns, Ingrid, 2017, „Having too much“, In: NOMOS LVI: Wealth. Yearbook of the American Society for Political and Legal Philosophy, 2017, herausgegeben von Jack Knight und Melissa Schwartzberg, (New York University Press)
und Robeyns, Ingrid, 2019, Rijkdom: Hoeveel Ongelijkheid is nog verantwoord?, (Amsterdam: Prometheus)
[7]Platon, 2017, Der Staat, übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, (Stuttgart: Reclam), 442a und 580d–581a
[8]Aristoteles, 2013, Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf, (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt), 1096a
[9]Zwarthoed, Danielle, 2018, „Autonomy-Based Reasons for Limitarianism“, Ethical Theory and Moral Practice 21(5), pp. 1181–1204
[10]Christiano, Thomas, 2012, „Money in Politics“, In: The Oxford Handbook of Political Philosophy, herausgegeben von David Estlund, (Oxford: Oxford University Press), pp. 241-257
[11]https://oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/620599/bp-public-good-or-private-wealth-210119-summ-en.pdf?utm_source=indepth (abgerufen am 13.05.2019)
[12]Veblen, Thorstein, 1899, The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions, (New York, London: Macmillan)
[13] Robert Skidelsky, Edward Skidelsky, 2013, Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, übersetzt von Thomas Pfeifer und Ursel Schäfer, (München: Antje Kunstmann Verlag)
[14] Cloutier, David, 2015, The Vice of Luxury: Economic Excess in a Consumer Age, (Washington, DC: Georgetown University Press)