Quellen der Autorität

Von Claudia Wirsing (Braunschweig)


Dass Autonomie nur darin bestehe, seinen eigenen Gesetzen zu gehorchen, hat G.W.F. Hegel schon 1801 in seiner Differenzschrift kritisiert. Eine solche moraltheoretische Auffassung zerstöre nur die „innere Harmonie“. Stattdessen gilt: „Uneinigkeit und absolute Entzweiung machen das Wesen des Menschen aus.“ (DS, S. 88) Der Mensch habe deshalb, so Hegel, nach einer Einheit zu suchen, die zu finden er jedoch nicht im Stande ist, wenn er das „Gebietende“ nur in den Menschen selbst verlegt. Vielmehr braucht es ein Maß an Widerständigkeit, damit er auch wirklich als autonomes Ich verstanden werden, und sich selbst als Autorität verwirklichen kann.

Das Besondere der Hegelschen Philosophie ist es, die fundamentale Frage nach der Verbindlichkeit von Gesetzen und die Aufgabe der Selbstbestimmung in den Blick genommen zu haben: Wie kann das Subjekt frei sein, wenn es eben jenen Gesetzen, die es frei wählt, zugleich unterworfen ist? Dieses Paradox der Selbstgesetzgebung wird noch verstärkt, wenn wir jene Freiheit nicht nur in Bezug auf die Wahl normativer Verbindlichkeiten, sondern auch in Bezug auf die Gründe ihrer Wahl hinterfragen: Wie kann das Subjekt sich selbst Gesetze geben, wenn diese immer schon durch vorhergehende gesellschaftliche Normen geregelt bzw. ontologisch von einer übergreifenden Subjektstruktur erfasst werden, die letzte Berufung auf solche Gesetze sich also nicht – wie bei Kant und Fichte – auf die Autorität eines vernünftigen Individuums bezieht, sondern in einen größeren gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang eingespannt ist?

Die Pointe der Hegelschen Philosophie ist es, den Erfüllungscharakter von Freiheit gerade an ihre gleichzeitige Beschränkung zu binden: menschliche Freiheit wird dadurch wirklich, dass sich ihr Subjekt gegenüber der Geltung eines Vorausliegenden und seinen Normen gebunden weiß. Freiheit und Selbstbeschränkung bilden damit das Handlungsformat der Intersubjektivität. Dies aber wiederum heißt sowohl auf theoretischer als auch praktischer Ebene nach dem grundlegenden Verhältnis von Geist und Welt zu fragen, um so den Quellen normativer Autorität auf die Spur zu kommen.

Hegel als Therapeut?

Die Frage nach der Autonomie und den Quellen der Autorität nimmt das Problem dualistischer Begriffstraditionen auf: Wo nämlich die zugrundeliegende Einheit von erster und zweiter Natur, d.h. Natur (Unmittelbarkeit) und Geist (Vermittlung), nicht plausibel begründet, sondern immer schon vorausgesetzt wird, bietet zumindest Hegel im Modell substantieller Subjektivität und ihrer Selbst- und Fremdbezugsbedingungen eine Rahmentheorie an, um die immer schon vorliegende Einheit von Geist und Welt begrifflich einzufangen.

Einige Hegel-Forscher haben die Frage gestellt, ob man Hegels Philosophie aufgrund ihres totalen Systemanspruchs noch aktualisieren könne, und ob sich überhaupt systemexterne Perspektiven ergeben dürfen, von denen aus eine Unterscheidung nach erhaltenswerten und unhaltbaren Momenten möglich sei. Als Ausweg bietet sich der Versuch an, Hegel als einen „therapeutischen“ Philosophen zu lesen. Dafür haben Philosophen wie Robert Brandom, Terry Pinkard oder Michael Quante z.T. sehr elaborierte Nomenklaturen „therapeutischer Philosophie“ entworfen, d.h. von Philosophie als Kurierung leiderzeugender Missverständnisse und als Problemlösungskompetenz, um darzustellen, wie Hegels eigenes Denken gerade nicht als Kritik des common sense (Horstmann), sondern gegenteilig als dessen bewahrende Transformation zu denken sei.

Geist und Welt

Hegel ist es wie keinem anderen Philosophen gelungen, Geist und Welt philosophisch zu versöhnen. Damit kuriert er das alte Missverständnis vom „abstrakten Gegensatz“ und überwindet den Skeptizismus. Aussagen über die äußere Wirklichkeit gelten damit nicht mehr (wie in der antiken Skepsis) aufgrund der Differenz von Denken und Sein als problematisch. Vielmehr werden jetzt „die Denkbestimmungen als die Grundbestimmungen der Dinge“ (ENZ I, § 28, S. 94) selbst begriffen. Indem das, was ist, gedacht wird, wird es auch „an sich“ erkannt, weil das Denken in den Phänomenen der Wirklichkeit seine eigenen logischen Strukturen erkennt. Dann aber ist das Reale nichts Unbekanntes oder ganz und gar Unbestimmtes, sondern selbst immer schon begrifflich verfasst. Jede äußere subjektive Bestimmung von Realität muss immer schon ein An-sich-Bestimmtsein dieses Realen voraussetzen. Damit aber wird es schwer zu erkennen, was als letzte Autorität gelten darf: weder das physische Sein der realen Welt noch das in begrifflich-repräsentationalistischen Formen und Gehalten geordnete Sein subjektiver Bewusstseinsinhalte darf hier als letzte oder einzige autoritative Instanz gelten. Autorität lässt sich nur inferentiell verstehen. Kein „souveränes und konstitutives Subjekt“ (VdF, 137), sondern eine selbst immer schon begrifflich verfasste Welt übt normative Autorität über unser Denken aus, das sich wiederum selbst nur im Verhältnis zu dieser Norm autoritativ verhalten kann.

Die inferentielle Struktur zwischen begrifflicher Vorstrukturierung und begrifflicher Postkonstruktion, bezogen auf das Moment der Erfahrung der Wirklichkeit, macht demnach das Genom der Kategorie der Wirklichkeit aus. Hegel wiederum integriert diese Einsicht in die Grundbestimmung einer Normativität des Wirklichen – und zwar über den Begriff des „Begriffs“ als Einheit von Sein und Reflexion. Wenn Hegel davon spricht, dass der Begriff einer Sache nicht von außen an sie herangetragen werden kann, sondern sie diesen vielmehr aus ihren eigenen Bestimmungen zu entwickeln habe, so ist damit nichts anderes gemeint als dass der Begriff sich in und durch die Sache selbst verwirklicht, sich selbst die Normen seiner Begründung auferlegt. Der wirkliche Begriff ist das normative Feld der Konstruktionsregeln und der in sie eingehenden bzw. durch sie ausgedrückten Wertnahmen, nach denen sich transzendental-kategoriale wie empirische Begrifflichkeiten in den Akten von Subjektivität richten. Dass der Begriff sich selbst die Normen seiner Begründung und damit seine Realität setzt, verweist auf die zur Kategorie des Realen wesentlich gehörige Einsicht, das Reale notwendig so zu denken, dass ihm eine protobegrifflich strukturierte Bestimmtheit zueignet, die wesentlich als Set normativer Muster über seine begriffliche Rekonstruktion besteht und vorausgesetzt werden muss. Nur so ist die Verantwortlichkeit des Denkens gegenüber der Realität, die John McDowell betont hat, auch mit den Bedingungen ihrer begrifflichen Erfassbarkeit widerspruchsfrei zu vereinen. Nach McDowell haben die Gegenstände unseres Bewusstseins dem Denken gegenüber Autorität. Das Denken muss auf anerkannte Gründe reagieren. Ein denkendes Subjekt kann solche Gründe jedoch nicht anerkennen, wenn dieser Grund nicht frei vom Subjekt als Autorität anerkannt wird. Wann immer Subjekte also Normen gesetzt haben, so bedeutet das Anerkennen dieser Normen als Autorität noch lange nicht, dass Subjekte deshalb die Kontrolle über ihr eigenes Leben verloren bzw. an eine fremde Macht abgetreten haben. (Vgl. McDowell 2004)

Die Objektivität des Geistes

Die Objektivität des Geistes rekurriert insofern auf das Problem dualistischer Begriffstraditionen, als nun im Übergang zu Hegels praktischer Philosophie anstelle des bisher diskutierten Gegensatzes von Geist und Natur die von Hegel in seiner Rechtsphilosophie aufgelöste Opposition von Subjekt und Gesellschaft, Individuum und Recht erörtert wird. In der Kritik an Kant und Fichte lässt sich mit Hegel zeigen, dass die vermeintlich ursprüngliche Struktur des reinen Selbstbewusstseins als letzter Autorität kein Erstes, sondern selbst als abstrahiert, d.h. abgeleitet aus dem konkreten Ich-Zusammenhang von absolutem und empirischem Ich begriffen werden muss. Bereits damit wird deutlich, dass dem Ich keine von seiner konkreten sozialen Wirklichkeit abgelöste, dieser vorgeordneten Wesentlichkeit zugeordnet werden kann.

Was es für Hegel heißt „Person“ zu sein, kann nur im Rahmen seiner Theorie des Willens verstanden werden, welche den Zusammenhang des objektiven Geistes fundiert. Im Willen nämlich kommt die Vernunft erst vollends in ihrer Wirklichkeit an, d.h. gibt sich in ihm einen Raum des Handelns und der Freiheit: Deshalb sind soziale Institutionen und Regeln als Modifikation von Willensmomenten zu begreifen. Als Subjekte beziehen wir uns auf eine immer schon normativ strukturierte Welt, in der die sozialen Institutionen und mit ihnen verbundene Ansprüche und Erwartungen uns nicht wesentlich fremd erscheinen, sondern eine Realisierung unserer Freiheit darstellen. Die soziale Welt ist dann keine Beschränkung mehr, sondern notwendiger Raum, in dem Individuen sich autonom entfalten können. Der soziale Charakter von subjektiven Handlungen wird hier sichtbar: Handeln verwirklicht sich nicht durch subjektive Intentionen, sondern nur in sozialen Kontexten als Regeln und Institutionen, die Anerkennungsstandards definieren, nach welchen wir eine Tat als Handlung verstehen. Der Einzelne wird dabei stets zur Verantwortung gezogen. Denn Taten sind dadurch als Handlungen anerkennbar, dass ihnen bestimmte Normen der Verantwortlichkeit zugeschrieben werden können und deshalb mit ihnen gewisse Rechte und Pflichten verbunden sind. Handlungen haben das Recht zu verlangen, nach Vorsatz, Absicht, Einsicht des Handelnden und moralischer Qualität beurteilt zu werden. Dadurch entsteht die Pflicht, Handeln begründen zu können, gegebenenfalls zu entschuldigen, und im Fall einer berechtigten Kritik Verantwortung dafür übernehmen zu müssen.

Mit Hegel über Hegel hinaus

Die Kritik, das Individuum trete hinter den sozialen Institutionen zurück und löse sich in einer allumfassenden Subjektstruktur wie etwa dem Staat auf, innerhalb dessen das Bewusstsein von Individuen nur ein „Moment“ ist, kann so in ihrer Totalität entschärft werden: die soziale bzw. institutionelle Autorität ist stets angewiesen auf die individuelle Autorität selbstbestimmter Handlungsakteure. Trotzdem mag eine solche Konzeption von Autonomie, welche die Autorität nicht gänzlich dem Subjekt überlässt, unbefriedigend sein. Hegels Beschreibung einer übergreifenden Subjektivität ist jedoch nicht naiv, sondern durchaus konsequent und realistisch, wenn es darum geht, die moderne Gesellschaft in ihrer Pluralität und Komplexität begrifflich einzufangen, und dabei auch die eigenen individuellen Handlungsspielräume auszuloten. Individualität findet in Hegels Gesellschaftstheorie wenig Platz. Ihre Abwesenheit jedoch verweist auf die wesentliche Einsicht, dass ein einzelnes Individuum allein keinen Einfluss auf die Gesellschaft hat. Individuelle Autorität hat man nicht einfach, man verwirklicht sie; man erkämpft sie in Anerkennungsprozessen innerhalb einer Gesellschaft, mit oder gegen die Gemeinschaft.

Das sich daraus ergebende Problem der Hegelschen Rechtsphilosophie ist, wie mit Störfällen im für Hegel prinzipiell reibungslosen Ineinander von autonomem Individuum und sozialer Welt umzugehen sei. Für die Frage nach dem „Spielraum“ von Subjektivität überhaupt, wo sie an Institutionen und Regeln der sozialen Welt kritisch stößt, gibt Hegel keine wirkliche Antwort. Hier gilt es weiterzudenken. Den Weg dafür hat Hegel jedenfalls freigelegt.


Claudia Wirsing ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Philosophie der Technischen Universität Braunschweig. Sie promovierte 2016 in Jena zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ im Kontext der Realitätsdebatte um 1800 (Kant, Fichte, Jacobi). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erkenntnistheorie, Ontologie, Rechtsphilosophie und Sozialphilosophie.


Literatur

DS        Hegel, G.W.F.: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801), in: Jenaer Schriften 1801-1807. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2., hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1987, S. 9-140.

Enz I     Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 8, hg. v. Eva Moldenhauer und Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970.

VdF      Foucault, Michel: Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1994.

McDowell, John: Selbstbestimmende Subjektivität und externer Zwang, in: Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep, S. 184-208.