Verdoppelt und offline glücklich in der Epoche der Algorithmic culture: wie Hegels Philosophie uns von der Selfiemanie entgiften kann.
Von Francesca Iannelli (Rom)
Wenn man die 250 Jahre, die seit Hegels Geburt vergangen sind, unter einem ausschließlich historisch-politischen Gesichtspunkt betrachtet, scheinen sie einen unermesslichen Abgrund zwischen seiner Epoche und unserer, zwischen dem damaligen und dem heutigen Deutschland geschaffen zu haben. Wenn man dagegen von einem ästhetisch-philosophischen Standpunkt ausgeht, dann scheint die Zeit stillzustehen, und die geistigen und intersubjektiven Impulse, die Hegel am Menschen beobachtete, sind zum Teil noch dieselben wie heute und werden es mit großer Wahrscheinlichkeit auch morgen noch sein. Dies ist es zumindest, was wir nachweisen wollen, wenn wir die Synergie zwischen zwei Grundbegriffen der Hegelschen Philosophie, Anerkennung und Verdopplung, aus heutiger Sicht untersuchen. Der Rückgriff auf die Autorität Hegels hat in einer Epoche wie der unsrigen, in der alles im Fluss ist, die hyper-vernetzt ist und unter Social Media Disorder leidet, also keine bloß rhetorisch-zelebrierende Funktion, sondern dient dazu, eine vor über zwei Jahrhunderten konzipierte systematische Philosophie einem Crash-Test in der Gegenwart zu unterziehen.
Wir wollen von dem Begriff Anerkennung ausgehen, der in den letzten Jahrzehnten immer wieder in den Vordergrund gerückt wurde. Angefangen bei Ricoeur, über Taylor, bis zu Habermas, Honneth, Siep und Rendón tauchte in den letzten 30 Jahren wiederholt die Frage nach dem in der Kategorie der Anerkennung steckenden theoretischen Potenzial auf, um eine Gesellschaft, die durch ihr immer stärker hervortretendes multikulturelles Profil ständig auf die Probe gestellt wird, besser verstehen zu können. Mit den durch die Migration ausgelösten sozio-politischen Krisen und der Terror-Strategie, die seit 2001 im Westen immer wieder ein Blutbad anrichtet, sind die Gespenster der Dialektik von Herr und Knecht und ihr Mangel an gegenseitiger Anerkennung auf globaler Ebene voll zu Tage getreten, wobei es nach dem Fall der Mauer schien, dass Ungleichheit und Unterdrückung nur mehr ein verblichener Alptraum für das alte Europa seien.
Es ist vor allem die Herr-Knecht-Dialektik, die trotz der ihr innewohnenden Asymmetrie den obskuren, pulsierenden Kern der Anerkennung beinhaltet: jenes dialektische Paradigma, nach dem es dem Subjekt gelingen muss, sich in der Alterität zu erkennen, und zwar nicht, weil es das eigene individuelle Erleben im Sinne einer utopischen Fusion in eine Einheit einfach auf den anderen überträgt, sondern wegen der dialektischen Vermittlung, die das Negative und seine Auswirkungen verarbeitet. Die Anerkennung ist in der Tat nichts anderes als jene geistige Bewegung der Verdopplung, der im Aufheben der Alterität gipfelt und zur Einsicht führt, dass der Andere wir selbst sind. Diese inzwischen über zweihundertjährige politisch-philosophische Errungenschaft, die schon in der Amerikanischen Revolution in der Anerkennung der unveräußerlichen Menschenrechte verankert war, dann 1789 von der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen wieder aufgenommen wurde, 1948 zu der von den Vereinten Nationen verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde und 1950 in die Europäische Menschenrechtskonvention einfloss, ist in Wirklichkeit nicht leicht zu verarbeiten. Man bedenke nur, dass die in der Agenda 2030 enthaltenen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung die Bekämpfung der Diskrimination im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, politischen und umweltbezogenen Bereich vorsehen, wobei implizit zugeben wird, dass die Sklaverei sowohl im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn in mehr oder weniger entwickelten Ländern noch auf der Tagesordnung steht.
Im Laufe der Jahrhunderte hatte die Knechtschaft viele Gesichter: im 19. Jahrhundert das des ausgebeuteten Proletariats im Aufruhr, im 20. Jahrhundert das der gefeierten, begeisternden Technik. Welchen Anblick bietet uns der Knecht im 21. Jahrhundert? Man könnte sagen, er verbirgt sich hinter den humanoiden, wenig empathischen Zügen der künstlichen Intelligenz, und läge damit nicht falsch. Ganz sicher hat der Knecht heute aber auch ein anderes Aussehen, nämlich das allgegenwärtig lauernde Gesicht der Social Media, das alles andere als das eines Freundes ist, sondern oft zum Inquisitor wird, der das Ziel hat auszuwählen, in Kategorien einzuteilen und sogar die Gesichter/Profile seiner Nutzer, seiner (Pseudo-)Herren zu verkaufen. Was uns hier jedoch besonders interessiert, ist ein Unterprodukt des vernetzten Universums, und zwar das extrem zur Schau gestellte, gefilterte und ins Netz geladene Selfie, das uns eine ständige, obsessive, aber unwirksame Verdopplung erlaubt. Sie hat nichts mit der Verdopplung Hegelschen Angedenkens zu tun, die in der Phänomenologie den Abschnitt A Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft einleitet, in dem Hegeldie Unendlichkeit des Selbstbewusstseins hervorhebt. Das Selbstbewusstsein ist es selbst nur in seiner Verdopplung, also indem es sich in Beziehung zu einem Anderen setzt, das von ihm unterschieden, aber auch nicht unterschieden ist. Wenn das Andere aufgehoben wird, hebt das Selbstbewusstsein auch sich selbst auf und indem es aus dem Anderen zu sich selbst zurückkehrt, lässt es das Andere frei, gibt es ihm sich selbst wieder zurück. Wenn nun also Hegel in den zwanziger Jahren in seinen berühmten Berliner Vorlesungen über Ästhetik (1820/21, 1823; 1826; 1828/29) auch nicht stricto sensu von einer Anerkennung spricht, die durch die Kunst zustande kommt – da dem Kunstwerk, so lebendig es auch sein mag, die völlige Gegenseitigkeit fehlt, die nur dem Menschen eigen ist – blinkt doch ein Funken wie die Verdopplung auf, der in der Phänomenologie zu der Konstellation der Anerkennung gezählt wird, was bedeutet, dass zumindest latent von der Anerkennung (lato sensu) die Rede ist.
Um seinen Hörern in der Vorlesung über Kunstphilosophie von 1823 zu erklären, warum der Mensch ein Kunstwerk produziert, greift Hegel tatsächlich auf die Ursprünge des Selbstbewusstwerdens zurück, so wie er sie fünfzehn Jahre zuvor in der Phänomenologie erläutert hatte.
Es heißt:
„Was wir hier sagen können ist dieses, daß das Allgemeine des Bedürfnißes der Kunst kein Andres ist, als das, was darin liegt, daß der Mensch denkender, bewußter ist. Indem er Bewußtsein ist muß er das, was er ist, und was überhaupt ist, vor sich hinstellen, zum Gegenstand für sich haben. Die natürlichen dinge s i nd nur, sind nur einfach, nur einmal, doch der Mensch als Bewußtsein verdoppelt sich, i s t einmal, dann ist er f ür s ich, treibt was er ist, vor sich, schaut sich an, stellt sich vor, ist Bewußtsein von sich, und er bringt nur vor sich was er ist. Es ist also das allgemeine Bedürfniß des Kunstwerks im Gedanken des Menschen zu suchen, indem das Kunstwerk eine Art und Weise ist dem Menschen was er ist, vor ihn zu bringen..“ (G.W.F. Hegel, GW 28. 1, 229).
Die Ursprünge der Kunst und des Selbstbewusstseins haben ihre Wurzeln offensichtlich in der dem Bewusstsein entgegengesetzten Dimension, die sich ein Objekt gegenüberstellt. Während das Bewusstsein sich im Kampf um Leben und Tod jedoch verdoppelt, um sich seiner selbst bewusst zu werden und sich in dem Anderen erkennt, auch wenn dieser in der Gestalt des Knechts verdinglicht ist, haben wir es im Falle des Kunstwerks mit einer Verdopplung in ein „Quasi-Subjekt“ zu tun, dem die Theoretiker der Empathie – von R. Vischer bis H. Bredekamp – später Vitalität verliehen haben.
Die ästhetische Verdopplung ist allerdings nicht bloß ein mimetischer Reflex, wie es stattdessen das Selfie ist, das auf Facebook für Freunde (und Nicht-Freunde) oder – in coolerer Version – für die potenziellen Follower auf Instagram zugänglich gemacht wird. Hegel präzisiert nämlich, dass die Kunst, wenn sie auch Schein ist, immer über das Gewöhnliche hinaus tendiert. Das Kunstobjekt übersteigt also unausweichlich die Wirklichkeit des Alltags, es fällt nicht mit einem bloßen Ding unter Dingen zusammen, sondern ist noch wirklicher als das Gewöhnliche, weil es geistiger ist.
Und hier wird der Kurzschluss zwischen Hegel und den Social Media spürbar, dies ist die Feuerprobe. Gehen wir von einer unbestreitbaren Voraussetzung aus: das geistige Bedürfnis nach Verdopplung ist typisch menschlich, das Selbstbewusstsein muss sich verdoppeln. Von daher hat das Selfie, diese beliebte, billige Form der Verdopplung einen noblen Ursprung, der jedoch in Vergessenheit geraten ist. Der Akt, ein Selfie von sich zu machen, wurzelt in dem tiefen Bedürfnis, sich seiner selbst bewusst zu werden, anerkannt zu werden. Aber die ikonische Beschleunigung der letzten Jahrzehnte hat uns so gierig und zwanghaft gemacht, dass in dieser pop-artigen, mimetischen Verdopplung zum Nulltarif das Element des Negativen völlig fehlt. Die Verdopplung ist heutzutage selbstbezogen und egozentrisch und führt nur über (mehr oder weniger ehrliche) likes einen Dialog mit der Alterität. Sie ist narzisstisch und gewöhnlich. Das Selfie gibt das Gesicht (ohne ein echtes Angesicht) des Users wider, der sich Herr fühlt, während er doch zum Knecht eines manipulierenden „künstlichen Unbewussten“ geworden ist, das ihn über Algorithmen ausrichtet und seine visuellen Erwartungen und seinen Geschmack beeinflusst, indem es ihm in der Produktion neuer, oft sehr wenig origineller Bilder formale und kompositorische Lösungen suggeriert. In der gegenwärtigen „algoritmic culture“ (so Ted Striphas), in der wir stecken, haben die Social Media die Möglichkeit, Inhalte jeglicher Art auszutauschen, sicherlich verhundertfacht. Gleichzeit sind die User je social addicted, desto unfreier und werden zu Sklaven ihres (vermeintlichen) Knechts.
Die Selbstwiderspiegelung, die täglich weltweit anhand Tausender von Selfies stattfindet, ist eine Pseudoverdopplung, die nicht zu einer echten Anerkennung führt, sondern nur zu einer Übersteigerung des Ich und einer Ausweitung des kollektiven Narzissmus. Und hier kommt der alte Hegel ins Spiel, der uns erinnert, wie wertvoll die Verdopplung ist, aber nur unter der Bedingung, dass sie geistig ist und umsichtig eingeleitet wird, da die Anerkennung nicht aus der Verdopplung durch ein einfaches Abbild, wie es mithilfe des Selfies entsteht, hervorgehen kann, sondern nur aus der forschenden und deformierenden Verdopplung der Kunst, die das Schreckgespenst der Alterität nicht fürchtet. Aus diesem Grund könnte man unter den wenigen Selfies, die Hegel wahrscheinlich geschätzt hätte, die künstlerischen der Fotografen Cindy Sherman und Noah Kalina aufführen: sie stellen Fragen, beunruhigen, mit anderen Worten, sie sind philosophisch, weil sie die Herausforderung annehmen, die zeitlichen, machtbedingten, geschlechter- und rollenspezifischen Grenzen, die die Menschen bedrücken und einengen, unerbittlich auszuloten. Von hier aus gesehen kann diese Anerkennung, zu der wir auf friedliche, introspektive Weise durch die ästhetische Verdopplung gelangen, für uns durchaus nicht nur einen sonntäglichen Zeitvertreib bedeuten, sondern uns auf eine mühsamere und konfliktreichere Anerkennung des politisch, kulturell, religiös Anderen vorbereiten und uns ein bisschen mehr Menschlichkeit außerhalb der sozialen Netzwerke verleihen.
Mit Hegel können wir uns also wieder auf den Weg machen und die Kunstwerke erkunden, wo immer sie auch sein mögen. Wir können durch die Museen laufen, auf den Plätzen der großen und kleinen Städte dieser Welt spazieren und in Nord und Süd die Parks besuchen, an den Ecken der Straßen und Gassen haltmachen, einen Blick unter die Autobahnüberführungen werfen und vom Fahrrad steigen, um Murales zu bestaunen, die über Nacht entstanden sind – und wir können so unser verlorenes Inneres wiederentdecken und uns im Werk und nicht im Smartphone verdoppeln. Das wird uns erholsame ästhetisch-philosophische off-line Pausen einbringen, die uns vor der algorithmischen Manipulation schützen und uns nicht dem Wiederholungszwang aussetzen, immer und überall Selfies zu schießen und zu posten in der Erwartung eines (schwachen) Zeichens der Anerkennung. Was verbirgt sich denn hinter diesem
Wahn, Selfies austauschen zu müssen, wenn nicht der Wunsch nach der Begierde, die Kojève als spezifisch für das menschliche Wesen bezeichnet? Der Netzwerkuser im Allgemeinen und der „instagrammatische“ insbesondere verspürt im Grunde das Bedürfnis nach Gemeinschaft, aber diese wird im besten Fall durch die virtuellen communities ersetzt,so wie er sich nach tief wurzelnder Intersubjektivität sehnt, sie jedoch preisgünstig gegen einen künstlichen Austausch von tweets, stories und posts einwechselt. Dieses als Surrogat fungierende soziale Universum darf weder einfach akzeptiert, noch verteufelt werden, sondern will verstanden sein und mit kühlem Kopf genutzt werden, indem es aus seiner virtuellen Dimension zum Teil in die Realität zurückgeführt wird, damit wir weniger verbunden und glücklicher leben können. Wenn es wahr ist, was der Schriftsteller Chuck Palahniuk behauptet, nämlich dass die sozialen Netzwerke wie die Pelzmäntel sind und aus der Mode kommen werden, dann bereiten wir uns auf das Frösteln einer ästhetischen Verdopplung vor (die dann auch politisch, gesellschaftlich, kulturell usw. sein wird), und zwar ohne den magischen Instagramm-Filter, ohne die likes von Facebook – sondern im potenziellen Austausch mit jedem anderen menschlichen Wesen.
Literatur:
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst I. Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823. In: Gesammelte Werke, Band 28, hrs. von N. Hebing, Hamburg: Meiner 2015.
Francesca Iannelli ist Professor für Ästhetik an der Universität Roma Tre (Italien). Sie war Postdoc-Stipendiatin am Deutschen Literaturarchiv in Marbach (2010), DAAD-Stipendiatin an der Humboldt-Universität Berlin (2015) und IZEA Research Fellow an der Martin Luther Universität Halle (2017). Im Jahr 2004 wurde sie mit dem Lucio Colletti Preis der Italienischen Abgeordnetenkammer für die beste Doktorarbeit über den deutschen Idealismus geehrt. Für besondere Verdienste im Bereich der Deutschen Kultur und für den bedeutenden Beitrag zur Intensivierung des wissenschaftlich-kulturellen Dialogs zwischen Italien und Deutschland wurde sie im Jahr 2014 mit dem vom DAAD gestifteten Ladislao Mittner Preis für die Philosophie ausgezeichnet. Mit A.P. Olivier (Université Nantes) koordiniert sie seit 2018 Hegel Art Net (International Research Network on Hegel’s Philosophy of Art).
Ausgewählte Publikationen:
- Das Siegel der Moderne. Hegels Bestimmung des Hässlichen in der Vorlesungen zur Ästhetik und die Rezeption bei den Hegelianern. München: Fink 2007.
- Friedrich Theodor Vischer und Italien. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2016.
- Das Ende der Kunst als Anfang freier Kunst, hg. mit K. Vieweg und F. Vercellone. München: Fink 2015.
- Hegel und Italien – Italien und Hegel. Geistige Synergien von Gestern und Heute, hg. mit F. Vercellone und K. Vieweg, Mimesis Verlag 2019