Was ist eigentlich der Begriff? Ein Plädoyer anlässlich des Hegel-Jahres 2020

Von Ermylos Plevrakis (Heidelberg)


Im letzten Kapitel der Wissenschaft der Logik – das ist das Werk, von welchem Hegel gemeint hat, dass sein „Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist[1] – ist unter anderem folgender Satz zu lesen:

„Die Methode ist daraus [d.h. aus dem ganzen Verlauf der Wissenschaft der Logik] als der sich selbst wissende, sich als das Absolute […] zum Gegenstande habende Begriff […] hervorgegangen.“[2]

Wie so häufig bei Hegel handelt der Satz von mehr oder weniger bekannten Sachverhalten (Begriff, Wissen bzw. Erkennen, Methode dieses Erkennens, das Absolute), jedoch auf eine ausgesprochen befremdliche Weise, die die verwendeten Ausdrücke von ihrem herkömmlichen Inhalt gänzlich loszulösen scheint. Ist nämlich von Begriff und Wissen die Rede, so geht man für gewöhnlich von einem Erkenntnissubjekt und einem von diesem unterschiedenen -objekt aus. Um das Objekt zu erkennen, so erwartet man, folgt das Subjekt einer Methode, die größtenteils bereits im Vorfeld der Untersuchung festgelegt worden ist, mit dem Ziel, einen Begriff des Objekts zu bilden, der dem Objekt entspricht. Mit ‚Begriff‘ ist wiederum ein gewisses Bild, eine Vorstellung oder ein Modell des zu erkennenden Objekts gemeint, sodass ebenfalls von vornherein feststeht, dass auch der Begriff vom Objekt realiter  vom Objekt selbst unterschieden sein wird. Gleiches nimmt man schließlich auch dann an, wenn es das Absolute zu erkennen gilt – ein Wort, das man heute lieber gar nicht mehr in den Mund nimmt.

Der soeben zitierte Hegelsche Satz scheint nun all diesen Punkten zu widersprechen und stattdessen folgende Thesen geltend zu machen. Erkenntnissubjekt und -objekt fallen qua Begriff zusammen. Der Begriff übernimmt auch die Funktion der Methode, die sich paradoxerweise erst am Ende des gesamten Prozesses zu erkennen gibt. Wenn ferner bereits das Erkenntnisobjekt ein Begriff ist, so scheint auch der grundsätzliche Unterschied zwischen Objekt und dem für das Ende des Erkenntnisprozesses erhofften Begriff des Objekts auszubleiben. Was aus dem ganzen Erkenntnisverlauf hervorgeht, im zitierten Satz als ‚Methode‘ akzentuiert und mit dem Begriff gleichgesetzt wird, müsste der Begriff des Begriffs sein.

Und als wäre all das nicht merkwürdig genug, kommt im selben Satz auch noch das ‚sagenumwobene‘ Absolute vor, was meist für das in jeder Hinsicht Höchste, Vollkommene und von allem anderen ‚Losgelöste‘ steht. Allerdings kommt das Absolute hier in einer überraschenden Nebenrolle vor, nämlich nicht etwa als das Satzsubjekt, sondern als etwas anderem, dem Begriff untergeordnet: Der Begriff hat „sich als das Absolute […] zum Gegenstande“, heißt es, – wohlgemerkt nicht ‚wie etwas Absolutes‘. Erstens, meint also Hegel, ist der Begriff das Absolute, d.h. in jeder Hinsicht vollkommen und von allem losgelöst, und, zweitens, er betrachtet sich als solches. Erweitert man den philosophiegeschichtlichen Horizont und berücksichtigt die lange philosophische Tradition, die das Absolute in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Bemühung gestellt hat, so zeigt sich eine weitere, dritte Pointe: Unter den verschiedenen Absolutheitskandidaten aus der Philosophiegeschichte ist es erst der (Hegelsche) Begriff, der das wahrhaft Absolute darstellt – nicht eine platonische Idee, nicht der Gott des Spinoza, nicht der christliche Gott.

Aber was ist denn dieser Begriff? Worin besteht die intrinsische, ja begriffliche Bestimmung des Hegelschen Begriffs, die solche Thesen, Charakterisierungen und Versicherungen Hegels ‚von innen‘ erklären und rechtfertigen würde? Wie erkennt er sich? Was erkennt er dabei? Wieso soll eine bzw. diese Methode höher gestellt sein als alle anderen Absolutheitskandidaten?

Man kann natürlich nicht erwarten, dass ich diese Fragen jetzt beantworte. Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, ist, auf die Eigenart und Bedeutsamkeit des Hegelschen Begriffs aufmerksam zu machen. Denn zum einen ist ein Begriff, der in der Lage ist, sich selbst, gar sich selbst als das Absolute zu erkennen, die Methode seiner eigenen Bildung herauszuarbeiten und sich als mit ihr identisch zu erweisen, offenbar nicht mit herkömmlichen Vorstellungen unserer Alltagssprache wie ‚Hammer‘ und ‚rot‘ zu verwechseln. Zum anderen müssen alle übrigen ‚Begriffe von …‘ im Hegelschen Begriffskosmos von diesem grundsätzlich neuen Begriffskonzept aus interpretiert werden. Wenn Hegel etwa seine Natur– und Geistphilosophie mit jeweils einem Unterkapitel über den „Begriff der Natur“ und den „Begriff des Geistes“ eröffnet, so ist es unverkennbar, dass Natur und Geist ohne die Rückbindung an dieses eigentümliche Begriffskonzept wortwörtlich unbegreiflich bleiben. Mehr noch: Implizit geht es überall im systematischen Werk Hegels um Begriffe und deren Begreifen, etwa um den Begriff von Dasein und den Begriff des Staates – und nicht um eine historische, soziologische oder sonst empirische Untersuchung von bestimmten empirischen Daseienden und Staaten. Ohne dieses Begriffskonzept bleibt also die gesamte Philosophie Hegels unbegreiflich. Nicht Reflexion, Inferenz, Objektivität, nicht einmal Geist oder der Begriff des Absoluten, sondern der Begriff ist es, was bei Hegel als das Absolute fungiert.

Um aber den aphoristisch anmutenden Ton solcher Aussagen zu relativieren, möchte ich zumindest kurz erwähnen, dass Hegel die Bedeutung von empirischem Wissen natürlich nicht leugnet, und dass er auch nicht behauptet, dass empirische Erkenntnissubjekte, -objekte und die dazugehörenden Vorstellungen, etwa ich und die Tastatur, die ich gerade nutze, sowie meine Vorstellungen von mir selbst und dieser Tastatur, in eins fielen. In Abgrenzung dazu steht der Hegelsche Begriff für eine hoch spezifische Methode eines sehr speziellen philosophischen Erkennens: Es handelt sich um die Methode spekulativen Erkennens bzw. begreifenden Denkens oder einfach um die Methode des Begreifens, die fast ausschließlich im Rahmen von Hegels Philosophie bedient wird und deshalb den Begriff genau dieser Philosophie bildet.

Dass man ferner empirische Forschung ersten Ranges betreiben kann, ohne eine einzige Seite des Hegelschen Werkes gelesen zu haben, oder überhaupt dass man empirische Dinge sehr wohl verstehen kann, ohne sie zu begreifen (im Hegelschen Sinne), erklärt sich von selbst, und wollte Hegel nie anfechten. Glaubt man aber – und darum geht es mir –, Hegel habe überhaupt einen klugen Gedanken gefasst (sei es in der Phänomenologie des Geistes, in der Rechtsphilosophie oder sonst wo), und glaubt man zudem, dass das kein zufälliger Ausrutscher war, sondern dass dahinter System und tiefgreifende methodologische Überlegungen stehen, so sollte man jene klugen Gedanken als Anlass nehmen, dieses Hegelsche Begreifen zu vertiefen und erst anhand desselben Eigenart, Legitimität und Bedeutung des Hegelschen Systems im Hinblick auf das Empirische zu erkunden.

Mein Plädoyer also, als Philosoph und Hegel-Forscher anlässlich des Hegel-Jahres 2020 ist, dass wir unser Augenmerk in den kommenden Jahren nicht so sehr auf vereinzelte Aspekte Hegelscher Philosophie in eklektischer Manier, sondern auf den Begriff richten sollten. Denn mit ihm steht und fällt das gesamte Hegelsche spekulative Gebäude. Näherhin sollten wir uns nicht bloß mit dem „Begriff im Allgemeinen“ auseinandersetzen, wie die Einleitung in die Hegelsche Lehre vom Begriff beschriftet ist, sondern genau ihr erstes und letztes Kapitel unter die Lupe nehmen, die systematisch vom Begriff im Sinne des zu Beginn dieses Textes zitierten Satzes handeln.

Hegel hat ja häufig mit dem Inhalt jener Kapitel kokettiert: Die dort exponierte Methode sei „die einzige wahrhafte“ und „die absolute Methode des Erkennens“[3], und zum Umfang dieses Erkennens gehöre unter anderem nichts Geringeres als Gott „wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist“. Nun sollten wir solche nicht gerade gemäßigten Versicherungen nicht bagatellisieren. Es ist sowohl ihr Inhalt als auch Hegel selbst, die verlangen, ihnen mit allem gebotenen Ernst zu begegnen: Hic Rhodus, hic saltus! Stimmt das, was in jenen Kapiteln dargelegt wird, nicht, so können wir die gesamte Hegelsche spekulative Philosophie getrost der Philosophiegeschichte überlassen. Stimmt es aber doch, so ist die systematische Bedeutung Hegels 250 Jahren nach seiner Geburt immer noch, wie ich meine, kaum wichtig genug einzuschätzen.


Dr. Ermylos Plevrakis ist akademischer Mitarbeiter und habilitiert sich derzeit am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg.


[1] Wissenschaft der Logik, Die Lehre vom Seyn (1832): 34. Hegels Texte zitiere ich nach der historisch-kritischen Edition Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke (herausgegeben von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften).

[2] Wissenschaft der Logik, Die subjective Logik oder Lehre vom Begriff: 238.

[3] Wissenschaft der Logik, Die Lehre vom Seyn (1832): 38 und 8.