Moral gestalten. Methoden der Angewandten Ethik
Von Bert Heinrichs (Bonn)
Die Angewandte Ethik hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer wichtigen Teildisziplin der Praktischen Philosophie entwickelt. Zu vielen gesellschaftlich bedeutsamen Fragen – vor allem aus dem Bereich der Lebenswissenschaften – sind vonseiten der Angewandten Ethik Analysen vorgelegt und Lösungsansätze entwickelt worden. Nicht wenige dieser Lösungsansätze sind von der Politik im Zuge von Gesetzgebungsverfahren aufgegriffen worden und haben damit erheblichen Einfluss auf das Leben vieler Menschen gewonnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Angewandte Ethik zu ihren Ansätzen kommt.
Als die Journalistin Jean Heller am 26. Juli 1972 in einem Artikel der New York Times darüber berichtete, dass in Macon County, Alabama seit 40 Jahren eine Studie zum Verlauf unbehandelter Syphiliserkrankungen bei afroamerikanischen Männern durchgeführt wird, war das Entsetzen in den USA groß. Die Studie wurde sofort abgebrochen. Im Nachgang dieser Enthüllung setzte der Kongress im Jahr 1974 eine Kommission ein, die ethische Grundsätze für die Forschung am Menschen erarbeiten sollte. Diese erste Bioethik-Kommission der USA hat während ihres vierjährigen Bestehens eine ganze Reihe von Berichten vorgelegt. Die meisten dieser Berichte behandeln spezielle Fragen der Forschung am Menschen wie bspw. Forschung an Föten, an Kindern oder an Gefangenen. Anders verhält es sich mit dem sogenannten Belmont Report, den die Kommission im Jahr 1978 veröffentlichte. Ziel dieses Berichts war es, grundlegende Prinzipien zu benennen und einen konzeptionellen Rahmen für die Analyse ethischer Problemstellungen zu präsentieren.
Im Belmont Report werden drei grundlegende ethische Prinzipien namhaft gemacht, die nach Ansicht der Autorinnen und Autoren für die Forschungsethik besonders relevant sind: das Prinzip der Selbstbestimmung (respect for persons), das Prinzip des Wohltuns (beneficence) und das Gerechtigkeitsprinzip (justice). Diese drei Prinzipien, deren Geltung als allgemein akzeptiert vorausgesetzt wird, werden zunächst erläutert und dann auf das Handlungsfeld der biomedizinischen Forschung angewendet. Es ergeben sich drei konkrete Anforderungen für die Umsetzung von Forschungsvorhaben mit menschlichen Probandinnen und Probanden: Sie dürfen nur auf der Grundlage einer informierten Einwilligung (informed consent) und nach sorgfältiger Risiko/Nutzen-Analyse (risk/benefit assessment) durchgeführt werden. Zudem muss eine faire Probandenauswahl (fair selection of subjects) sichergestellt sein. Die im Belmont Report praktizierte Methode der Anwendung (application) allgemeiner Prinzipien auf ein konkretes Handlungsfeld stellt eine erste wichtige Methode der Angewandten Ethik dar. Sie dient dazu, abstrakte Prinzipien für einen spezifischen Handlungskontext zu operationalisieren, wobei faktische Gegebenheiten und vor allem auch Ergebnisse der empirischen Wissenschaften zu berücksichtigen sind.
Regelungswerke für die biomedizinische Forschung am Menschen gab es schon lange zuvor. Der Belmont Report lieferte aber eine gewisse ethische Systematisierung, die zuvor fehlte. Damit hat er erheblichen Einfluss auf die Forschungsethik und darüber hinaus auf die gesamte Angewandte Ethik entfaltet. Tom Beauchamp und James Childress haben den Ansatz des Belmont Reports aufgegriffen und weiterentwickelt. Ihr Buch Principles of Biomedical Ethics ist zu einem Standardwerk der Bioethik geworden und liegt mittlerweile in der siebten Auflage vor. Die Autoren nehmen in ihrem Ansatz ein viertes Prinzip hinzu – das Prinzip des Nichtschadens (nonmaleficence) –, welches allerdings der Sache nach im Belmont Report schon im Prinzip des Wohltuns enthalten war. Mit diesen vier Prinzipien, die auf einer mittleren Abstraktionsebene angesiedelt sind und den Ethiktraditionen des Kantianismus, Utilitarismus bzw. Kontraktualismus zugeordnet werden können, lassen sich viele ethische Problemstellungen gut analysieren. Kritiker sprechen allerdings gelegentlich abfällig vom „Georgetown Mantra“ – wegen der akademischen Verortung von Beauchamp und Childress an der Georgetown University in Washington, D.C. Zu einem Mantra können die vier Prinzipien tatsächlich dann werden, wenn sie „gebetsmühlenartig“ und ohne weitere Überlegungen zuzulassen auf jede Fragestellung angewendet und starr abgespult werden.
Nimmt man die vier Prinzipien hingegen als Aspekte, die bei der Auseinandersetzung mit ethischen Problemstellungen in den Blick genommen werden sollten, kann dies durchaus hilfreich sein. Allerdings stellt sich schnell heraus, dass man damit von überzeugenden Lösungsansätzen für konkrete Probleme in der Regel noch weit entfernt ist. Die vier Prinzipien weisen nämlich oftmals in entgegengesetzte Richtungen oder legen zumindest sehr unterschiedliche Handlungsweisen nahe. Während beispielsweise das Prinzip der Selbstbestimmung das Entscheidungsprimat beim Einzelnen ansiedelt, kann das Prinzip des Wohltuns eine Entscheidung durch Dritte favorisieren, nämlich dann, wenn der Einzelne gegen sein – wirkliches oder vermeintliches – Wohl handelt. Soll man in solchen Fällen dem Prinzip der Selbstbestimmung oder dem Prinzip des Wohltuns folgen? Diese Frage lässt sich auch allgemeiner formulieren: Wie sind die Prinzipien gegeneinander zu gewichten? Antworten soll die Methode des Abwägens (balancing) liefern.
Bei der Methode des Abwägens geht es also darum, für ein konkretes moralisches Problem eine überzeugende Gewichtung unterschiedlicher Prinzipien zu finden. Fraglich ist, wie das genau funktionieren soll. Man könnte an ein übergeordnetes Prinzip denken – etwa die Menschenwürde – und müsste dann entscheiden, welche Gewichtung der Prinzipien am besten geeignet ist, die Würde aller Beteiligten zu respektieren. Kritikerinnen und Kritiker wenden jedoch ein, dass ein solches Vorgehen einen reinen Kantianismus gleichsam durch die Hintertür einführe und damit den pluralen Charakter des Gesamtansatzes unterminiere. Gleiches würde gelten, wenn man das Nutzenprinzip zum Masterprinzip erheben würde. Dann würde der Vier-Prinzipien-Ansatz in einen reinen Utilitarismus kollabieren.
Oftmals erfolgt das Abwägen mit Hilfe von paradigmatischen Szenarien. Man vergleicht ein vorliegendes Problem mit anderen, weniger kontroversen Problemkonstellationen und überträgt anschließend etablierte Gewichtungen auf das neue Problem. Tatsächlich zeigt sich, dass es viele Fälle gibt, in denen unsere konkreten moralischen Überzeugungen unabhängig von abstrakten ethischen Hintergrundannahmen zunächst einmal ähnlich sind. Sie können daher als gemeinschaftliche Ausgangspunkte für strittige Fälle dienen. Allerdings setzt dieses Vorgehen voraus, dass man die partikularen moralischen Überzeugungen als verlässlicher oder zumindest ebenso verlässlich wie abstrakte ethische Hintergrundannahmen ansieht. Dazu sind nicht alle bereit und revidieren im Zweifelsfall eher eine konkrete moralische Überzeugung, wenn sich zeigt, dass diese nicht mit ethischen Hintergrundannahmen kompatibel ist. Der Rückgriff auf partikulare moralische Überzeugungen als Ausgangspunkt für Abwägungen ist dann verbaut.
Ein absolutes Primat allgemeiner ethischer Hintergrundannahmen gegenüber partikularen moralischen Überzeugungen wird in der zeitgenössischen Angewandten Ethik aber mehrheitlich abgelehnt. Dazu wesentlich beigetragen hat das Konzept des Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium), das John Rawls im Rahmen seiner Gerechtigkeitstheorie entwickelt und Norman Daniels in den weiteren Kontext der Angewandten Ethik eingeführt hat. Dieses Konzept geht davon aus, dass keine Ebene unseres moralischen Denkens einen uneingeschränkten Vorrang beanspruchen kann. Es ist vielmehr die Kohärenz unseres moralischen Denkens, die entscheidend ist. Um Kohärenz herzustellen kann es notwendig sein, partikulare moralische Überzeugungen aufzugeben, es kann aber ebenso notwendig sein, ethische Hintergrundannahmen zu modifizieren. In der vergleichsweise starken Gewichtung von Einzelfällen kann man übrigens einen Einfluss des amerikanischen Pragmatismus auf die Angewandte Ethik erblicken.
Mit dem Konzept der Spezifizierung (specification) hat Henry Richardson eine weitere – und wie er meint bessere – Methode für die Angewandte Ethik vorgeschlagen. Konflikte lassen sich demnach dadurch ausräumen, dass man ein allgemein-abstraktes Prinzip durch Ergänzungen anreichert, die u.a. angeben, was, wo, wann, warum, wie, mit welchen Mitteln, von wem oder für wen etwas getan oder nicht getan werden soll. Richardson geht davon aus, dass widerstreitende Ansichten angesichts abstrakter Prinzipienkonflikte durch Spezifizierung konstruktiv aufgelöst werden können. Anders als die vage Methode der Anwendung und die stark intuitive Methode des Abwägens, sei die Methode der Spezifizierung rational ausweisbar. Später hat Richardson allerdings eingeräumt, dass es auch legitime Anwendungsfälle für die Methode des Abwägens gebe.
Man muss die skizzierten Methoden der Anwendung, des Abwägens und der Spezifizierung also nicht unbedingt in Konkurrenz zueinander sehen, sondern kann sie als Elemente einer umfassenderen Methodik begreifen, die helfen kann, Lösungsansätze für konkrete moralische Probleme zu entwickeln. Die Grundannahme der Angewandten Ethik lautet dabei, dass Moral etwas ist, was gestaltet werden muss. Es gibt zwar abstrakte ethische Prinzipien, deren Geltung wir unterstellen dürfen oder sogar müssen. Sie bilden aber lediglich einen geteilten Ausgangspunkt für die Bearbeitung von moralischen Einzelproblemen. Die genannten Methoden sind als Werkzeuge zu verstehen, die bei dieser Bearbeitung zum Einsatz kommen können. Ihre Verwendung verbürgt indes keine eindeutigen Lösungen. Im Gegenteil, die Angewandte Ethik ist von der Einsicht geprägt, dass es für moralische Fragen oftmals mehrere begründete Antworten gibt. Dies bedeutet keineswegs, dass alle Antworten gleichermaßen gut sind. Die Güte von Lösungsansätzen hängt letztlich davon ab, ob sie sich rational begründen lassen. Die Methoden der Anwendung, des Abwägens und der Spezifizierung stellen Formen der Begründung dar. Räumt man dies ein, dann kann man auch eine Position als begründet anerkennen, die von der eigenen abweicht. Man gesteht dann zu, dass sich geteilte ethische Grundannahmen auch anders anwenden, abwägen bzw. spezifizieren lassen. Nicht zuletzt diese Erkenntnis ist für plurale Gesellschaften von großer Bedeutung.
Die Umsetzung von Lösungsansätzen für moralische Problemstellungen in staatliche Regelungen und Gesetze obliegt in einem demokratischen Rechtsstaat dem Parlament. Schon Immanuel Kant hat betont, es sei nicht wünschenswert, dass „Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden“ (Zum ewigen Frieden, S. 369). Während Philosophinnen und Philosophen im freien Austausch von Argumenten um rationale Ansätze ringen, müssen Politikerinnen und Politiker kompromissfähige Lösungen erarbeiten. Geht man davon aus, dass es für moralische Probleme nicht die eine richtige Lösung gibt, dann handelt es sich dabei um eine sinnvolle Form der Arbeitsteilung. Gleichzeitig wird deutlich, was Aufgabe einer methodisch reflektierten Angewandten Ethik ist und wo ihre Grenzen liegen.
Abschließend ist noch zu sagen, dass der Vier-Prinzipien-Ansatz von Beauchamp und Childress und die mit ihm verbundenen Methoden nicht mit der Angewandten Ethik insgesamt gleichgesetzt werden dürfen. Viele Philosophinnen und Philosophen halten diesen Ansatz für unzureichend oder sogar für völlig verfehlt. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich die Autoren immer wieder darum bemüht haben, in neueren Auflagen ihres Werks auf Kritik einzugehen. Ein Haupteinwand lautet, dieser Ansatz versammle in eklektizistischer Weise Theorieteile aus grundverschiedenen Ethiktraditionen, die sich nicht einfach zusammenbringen ließen. Dieser Einwand lässt sich nur schwer entkräften. Wie gewichtig er aber tatsächlich ist, ist eine andere Frage, die hier offenbleiben muss. Richtig ist sicher, dass es Traditionslinien gibt, die bei Beauchamp und Childress weniger stark repräsentiert sind oder gar nicht vorkommen, die aber ebenfalls wichtige Überlegungen zu moralischen Problemstellungen beisteuern können. Richtig ist aber auch, dass die skizzierten Methoden einen hohen Begründungsstandard für die Gestaltung von Moral setzen, an dem sich auch andere Ansätze messen lassen müssen.
Bert Heinrichs ist seit 2015 Professor für Ethik und Angewandte Ethik am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) der Universität Bonn und Arbeitsgruppenleiter im Institut für Ethik in den Neurowissenschaften (INM-8) des Forschungszentrums Jülich. Er hat Beiträge zu zahlreichen bioethischen Themen verfasst, aber ebenso zu grundlegenden ethischen und metaethischen Problemstellungen publiziert. Weitere Angaben sowie ein Schriftenverzeichnis sind auf seiner Website.
Literatur
Beauchamp, Tom L. / Childress, James F. (2013): Principles of Biomedical Ethics. 7. ed. New York: Oxford University Press, 2012.
Daniels, Norman (1996): Justice and Justification. Reflective Equilibrium in Theory and Practice, Cambridge: Cambridge University Press.
Frey, R. G. / Wellman, Christopher H. (eds.) (2005): A Companion to Applied Ethics, Malden: Wiley.
Heinrichs, Bert (2010): Single-Principle Versus Multi-Principles Approaches in Bioethics, in: Journal of Applied Philosophy 27, 72–83.
Heinrichs, Bert (2018): Die Entstehung der angewandten Ethik aus dem Geist des amerikanischen Pragmatismus, in: Philosophisches Jahrbuch 125, 199–219.
Heller, Jean (1972): Syphilis Victims in the U.S. Study Went Untreated for 40 Years, in: New York Times (26. Juli 1972).
Kant, Iammanuel (1992): Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis / Zum ewigen Frieden, Hamburg: Meiner.
National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research (1978): The Belmont Report. Ethical Principles and Guidelines for the Protection of Human Subjects of Research. Washington/D.C.: Government Printing Office. URL https://www.hhs.gov/ohrp/regulations-and-policy/belmont-report/index.html.
Rawls, John (1999): A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge: Cambridge University Press.
Richardson, Henry S. (1990): Specifying Norms as a Way to Resolve Concrete ethical Problems, in: Philosophy and Public Affairs 19, 279–310.
Richardson, Henry S. (2000): Specifying, Balancing, and Interpreting Bioethical Principles, in: Journal of Medicine and Philosophy 25, 285–307.
Stoecker, Ralf / Neuhäuser, Christian / Raters, Marie-Luise (Hrsg.) (2011): Handbuch Angewandte Ethik, Stuttgart: Metzler.