Intersektionalität und Rassismus. Eine staatstheoretische Sicht
von Birgit Sauer (Universität Wien)
Die Krisen der vergangenen Jahre – die Finanzkrise 2008, die Covid 19-Pandemie, Inflation und Klimakatastrophe – lassen die Ungleichheiten innerhalb westlicher Gesellschaften, aber auch zwischen den unterschiedlichen Regionen der Welt, dem Globalen Süden und dem Globalen Norden, wie in einem Brennglas sichtbar werden. Die ungleiche globale Verteilung von Impfstoff gegen Covid, die Dürren, die Kleinbäuerinnen in Afrika oder Asien ihre Lebensgrundlage entziehen, die migrantische 24h-Pflegerin in Westeuropa, deren prekäres Einkommen durch Inflation dezimiert wird – all dies sind Beispiele dafür, dass rassistische Strukturen bzw. (post-)koloniale Konstellationen bis heute existieren und dass diese Strukturen mit weiteren Herrschaftsformen verknüpft sind: mit Geschlecht, Klasse, Sexualität oder Nationalität.
Der Staat als Regulierungsinstanz patriarchal-kapitalistischer Intersektionalität
Diese Beispiele verdeutlichen auch, dass verwobene Ungleichheiten nicht naturwüchsig, sondern vielmehr notwendige Elemente patriarchal-kapitalistischer Konstellationen und darüber hinaus immer durch Staaten reguliert sind. Der moderne, bürgerlich-patriarchale Staat ist jene Instanz, die diese Ungleichheits- und Herrschaftsstrukturen kodifiziert und damit auf Dauer stellt, sie aber auch immer wieder verändern kann. Eine emanzipatorische Perspektive kann daher nur entwickelt werden, wenn diese Überkreuzungen oder Interdependenzen von Herrschaftsstrukturen – mit Rückbezug auf den Schwarzen Feminismus als Intersektionalität bezeichnet (Crenshaw 1989) – wie auch die Bedeutung von Staatlichkeit – in den Strategien sozialer Gerechtigkeitsbewegungen bedacht wird.
Staatstheoretische Grundlegungen: Herrschaft und Ungleichheit als staatliche Institutionen
Dieser Text möchte einen Beitrag zum intersektionalen Verständnis kapitalistisch-patriarchaler und post-kolonialer Verfasstheit westlicher Gesellschaften leisten. Meine Grundannahme ist, dass es dazu einer feministisch-materialistischen hegemonietheoretischen Perspektive auf Staatlichkeit bedarf , da nur damit die staatlich geordneten intersektionalen Herrschaftsarrangements begreifbar sind. Diese Staatssicht sieht den Staat nicht nur als einen gegenüber der Gesellschaft neutralen Apparat, nicht nur als ein Institutionen- und Normengefüge, sondern als eine in der Gesellschaft verankerte Struktur (Sauer 2001).
Unterschiede und Ungleichheiten basieren auf widersprüchlichen sozialen Gegebenheiten und Kräfteverhältnissen, die kapitalistisch-patriarchale Gesellschaften herrschaftsförmig strukturieren. Um dauerhaft existieren zu können, brauchen diese Gesellschaften Staatlichkeit als Ordnungsprinzip, das die Widersprüchlichkeiten bearbeitet und ausgleicht, denn ohne staatliche Regulierungen neigt der Kapitalismus zu Anarchie. Ganz grundlegende Modi der Prozedierung dieser Widersprüche und zugleich der Reproduktion von Ungleichheiten sind in westlichen Gesellschaften Trennungen zwischen den gesellschaftlichen Sphären öffentlich und privat, zwischen Produktionsmittelbesitzer*innen und Arbeiter*innen sowie zwischen Nationalstaaten. Der Staat ist jenes soziale Feld, wo um diese Trennungen im Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen gerungen wird, wo also gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse institutionalisiert und dadurch politisch bedeutsam werden. Denn Bedeutung und Relevanz erhalten Unterschiede nur durch staatliche Klassifikationen und Diskurse. Diese staatlich institutionalisierten Klassifizierungsprozesse erfolgen anhand vergleichsweise arbiträrer Merkmale wie Eigentum und Besitz, sekundäre Geschlechtsmerkmale oder Hautfarbe. In der Folge entstanden historisch spezifische Grenz“regime“, etabliert beispielsweise durch Staatsgrenzen und Staatsbürger*innenschaft, durch das Ehe- und Familienrecht sowie durch das Eigentumsrecht. Auch (post-)koloniale Konstellationen basieren auf Trennungen und Klassifikationen. Staaten stellen damit ungleiche Klassen-, Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse her, genauso wie sie als Nationalstaaten rassialisierte Ein- und Ausschlüsse produzieren. Doch trotz des Versprechens von Sicherheit durch das staatliche Gewaltmonopol, sind moderne Gesellschaften durch ein systematisches Gewaltkontinuum, eben durch das staatliche Klassifikationsrecht charakterisiert: Geschlecht, Klasse, Sexualität, Ethnizität und Nationalität bilden immer wieder Ausgangspunkte für Verletzungsoffenheit und für Gewalthandlungen.
Staatlichkeit als intersektionale Arena
Staatlichkeit kann mit dem oben dargelegten Konzept auch als die Institutionalisierung von interagierenden bzw. interdependenten Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen begriffen werden. Eine staatstheoretische Perspektive auf Intersektionalität impliziert, dass es keine Hierarchien zwischen unterschiedlichen Diskriminierungsstrukturen gibt, sondern dass diese vielmehr in komplexen sozialen Auseinandersetzungen und an diskursiv konstruierten Schnittstellen und Institutionalisierungsweisen entstehen. Die unterschiedlichen Ungleichheitsstrukturen können deshalb auch nicht aufeinander zurückgeführt werden, da sie als soziale Praxen immer schon ineinander gegeben sind. Dies meint das Konzept der Interdependenz (Walgenbach et al. 2007). Dabei handelt es sich um je variierende und sich ändernde Auseinandersetzungen um die Sichtbarkeit von Differenzen, um ihre Bedeutung und politische Relevanz. Sichtbarkeit und Bedeutung sind von der Stärke der jeweiligen Akteur*innengruppen in der staatlichen Arena abhängig. Geschlecht war also schon immer durch sexuelle Orientierung, durch Klassenposition und durch ethnische Zugehörigkeit bestimmt und staatlich institutionalisiert, allerdings ohne fixierte Strukturen, sondern in Raum und Zeit flexibel und veränderbar. Im Anschluss an Bob Jessop (1990) kann man von den „kontingenten Notwendigkeiten“ sozialer Ungleichheit und staatlich konstituierten Hierarchien sprechen, nicht aber von Geschlecht als „Nebenwiderspruch“ oder von Kolonialismus und Rassismus als Klassenverhältnissen unter- oder nachgeordnet.
Im Ringen um gesellschaftliche Ordnung und staatliche Absicherung werden Ungleichheiten kombiniert und so miteinander verknüpft, dass sie in staatlichen Normen und Institutionen verkoppelt und in der Regel hierarchisiert werden. Der Wohlfahrtsstaat seit Ende des 19. Jahrhunderts ist dafür ein Beispiel: Er regelte in europäischen Staaten in unterschiedlichen Wohlfahrtsregimen die Klassenauseinandersetzungen, schuf zugleich aber wegen seiner Erwerbszentriertheit abgewertete Positionen von Frauen, deren Sorge-Arbeit ausgeschlossen blieb, wie auch von Menschen, denen ein Status als „freie Arbeiter“ abgesprochen wurde – (einst) kolonialisierte Menschen im Globalen Süden. D.h. in Klassenverhältnisse wurden im selben Zeitraum Geschlecht, Ethnizität bzw. Nationalität als ungleiche Strukturen eingeschrieben, waren und sind doch kapitalistische Produktions- und Reproduktionsverhältnisse bis heute durch eine internationale geschlechtsspezifische Arbeitsteilung abgesichert.
Der Nationalstaat wiederum schuf ausschließende ethnifizierte Regime, die gleichursprünglich mit ungleichen Klassen- und Geschlechterregimen sind. Die Migration von Pflegerinnen nach Westeuropa und ihre prekären Arbeitsverhältnisse sind ebenso Ausdruck dieser Situation wie der Familiennachzug von Migrant*innen, der vielfach Frauen in einer Abhängigkeit vom Ehemann situiert. Dies sind Beispiele für institutionalisierten Rassismus westlicher Staaten an der Schnittstelle zu Geschlecht.
Geschlecht wurde im 19. Jahrhundert im Rahmen einer neuen „Bevölkerungsweise“ (Beer 1990), also der Verknüpfung von Produktion und Generativität, zu einer politisch-staatlichen Kategorie und kann daher ohne Sexualität nicht gedacht werden: Die Absicherung der Geschlechterungleichheit im heteronormativen bürgerlichen Ehe- und Familienrecht schuf zugleich Ausschluss qua sexueller Orientierung. Gesellschaftliche Unterschiede kulminierten in der staatlichen Arena in historisch multiplen staatlichen Diskriminierungsweisen.
Institutionalisierte Herrschaftsstrukturen können aber auch staatlich entkoppelt, strategisch getrennt und gegeneinander gestellt werden. Ein Beispiel hierfür bilden die Diskussionen um Körperverhüllungen muslimischer Frauen in Europa. Mit dem Argument der Geschlechtergleichstellung wird diesen Frauen das Recht auf religiöse Differenz abgesprochen und damit ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Staatliche Intersektionalität ist somit als ein Modus zu beschreiben, um manche Ungleichheiten durch Ver- oder Entknüpfungen bedeutsamer zu machen, andere aber als unbedeutsam erscheinen zu lassen.
Intersektionalität und staatliche Kompromissbildung
Ein staats- und hegemonietheoretischer Ansatz konzeptualisiert also Intersektionalität als interdependente und interagierende gesellschaftliche Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen (Klinger/Knapp 2005), die in sozialen Auseinandersetzungen durch ganz verschiedene – auch zivilgesellschaftliche – Akteur*innen in politischen Verfahren, Normen und Symbolen institutionalisiert werden. In diesen staatlichen Institutionalisierungsprozessen werden zugleich soziale Akteur*innen mit mehr oder weniger institutioneller Macht ausgestattet. Die Be- oder Entnennung durch eine Ver- oder Entknüpfung von Ungleichheiten kann in der Folge zu Entsolidarisierung und Individualisierung führen, wie der Kampf der Arbeiterbewegung gegen die Integration von Frauen in Erwerbsarbeit Ende des 19. Jahrhunderts ebenso zeigt wie Abwehr von Trans*Frauen durch manche Feministinnen.
Intersektionalität kann freilich auch Chancen gemeinsamer politischer Mobilisierung gegen Ungleichheit eröffnen – nicht zuletzt, weil der Staat immer auf Kompromisse zwischen den sozialen Kräften angewiesen ist, um eine kohärente Struktur zu erhalten, Kompromisse, die in Auseinandersetzungen um die Organisation gesellschaftlicher Ordnung sowie um Klassifikationen geschmiedet werden müssen. Diese Notwendigkeit zur Kompromissbildungen eröffnet die Möglichkeit zur Transformation von Ungleichheitsstrukturen, also der Auflösung von Klassifikationen und der Verschiebung von Grenzen im Staat. Gesetzgebungen gegen Geschlechtergewalt wurden dann möglich, als bestimmte Kapitalgruppen am Beginn der 1990er Jahre ein starkes Interesse an der Integration von Frauen in die (neoliberalen) Erwerbsarbeitsmärkte entwickelten, paradoxer Weise aber auch als Abwehrgeste gegen männliche Migranten: Deren Klassifikation als besonders patriarchal und gewalttätig öffnete in der Bundesrepublik Deutschland nach der Silvesternacht in Köln 2015/2016 ein Gelegenheitsfenster für die Gesetzgebung, sexualisierte Übergriffe zu ahnen. Die Verzahnung von Rassismus mit Gleichstellung wird an diesem Beispiel erneut sichtbar. Allerdings: Ohne beständige Kämpfe von Frauenbewegungen wären diese Anti-Gewalt-Gesetze nicht möglich gewesen.
Intersektionale Subjektivierung als Unterwerfung und Möglichkeit der Veränderung
Darüber hinaus macht ein staatstheoretischer Ansatz von Intersektionalität deutlich, wie strukturelle Gegebenheiten, institutionell-staatliche Praktiken und Normen sowie interpersonale Interaktionen und individuelle Identitätsprozesse mehrfache, interdependente Diskriminierungen bzw. Privilegierungen produzieren, wie multiple Machtvektoren also auch Subjektivitäten und Identitäten hervorbringen.
Intersektionalität wird in staats- und hegemonietheoretischer Sicht als ein paradoxer Prozess der zeitgleichen Unterwerfung unter Strukturen und der aktiven Aneignung der Subjektpositionen, freilich auch ihrer potenziellen Veränderbarkeit konzeptualisiert. Die klassifizierenden Deutungen von sozialen Verhältnissen und die Verschränkung oder Entkoppelung von Herrschaftsstrukturen müssen nämlich in individuellen Praxen „gelebt“ werden. Gemeinsam geteilte Normen, Glaubens- und Überzeugungssysteme über Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Ethnizität, Nationalität, Religion und Klasse bilden die als selbstverständlich begriffene Grundierung jeglicher staatlichen Ordnung. Diese hegemonialen Sichtweisen werden einerseits in der Zivilgesellschaft mehr oder weniger stabil abgesichert, indem sie von den Menschen gleichsam „freiwillig“ bzw. als selbstverständlich angeeignet werden – wie beispielsweise Zweigeschlechtlichkeit, die Abwertung der Arbeit von Migrant*innen oder der Tod von Geflüchteten im Mittelmeer.
Intersektionale subjektive Aneignungsprozesse von Diskriminierungsstrukturen sind aufgrund ihrer Verknüpfungen stets durch Überdeterminierung gekennzeichnet und enthalten mithin Handlungs- und Freiheitspotenziale. Rassistische Diskriminierungen von muslimischen Frauen, auch ihre Diskriminierung gegenüber muslimischen Männern in Bezug auf Religions- und Handlungsfreiheit boten in der Vergangenheit Ausgangspunkte für gemeinsames Handeln muslimischer, vor allem junger Frauen.
Andererseits ist die Zivilgesellschaft auch immer jener Bereich, in dem anti-hegemoniales Wissen erarbeitet und anti-hegemoniale Praxen erprobt werden, Menschen sich also gegen hegemoniale Zuschreibungen und Klassifikationen wehren. Der Staat hat somit eine ermächtigende Funktion: Zwar konstituiert, reproduziert und diszipliniert er die Identitäten von Menschen intersektional und unterwirft sie unter die Herrschaft multipler Ungleichheiten, doch zugleich öffnet er eine Arena, um diese Identitäten und Subjektivierungsweisen auch zu transformieren: Frauenbewegungen, LGBTIQ und anti-rassistische Bewegungen waren in der Lage, ihre Deutungen in Staatsverhältnisse einzuschreiben, staatliche Institutionen der multiplen Ungleichheit und Marginalisierung zu transformieren. Nicht immer gelingt dies konfliktfrei, allerdings sollten Konflikte um Intersektionalität und Rassismus – ein Beispiel sind erbitterte Kämpfe von Feministinnen gegen muslimische Körperverhüllungen – immer beide Herrschaftsmechanismen im Blick haben, denn nur so kann Freiheit für verhüllte wie auch für nicht-verhüllte Frauen langfristig gesichert werden.
Literatur
Beer, Ursula. 1990. Geschlecht, Struktur, Geschichte: Soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses, Frankfurt/M.: Campus.
Crenshaw, Kimberlé. 1989. Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine. The University of Chicago Legal Forum 139: 139-167.
Klinger, Cornelia/Knapp, Gudrun-Axeli. 2005. Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz. Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, „Rasse“/Ethnizität. Transit. Europäische Revue 29: 72-96.
Sauer, Birgit. 2001. Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte. Frankfurt/M. und New York: Campus.
Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Lann/Palm, Kerstin (Hg.). 2007. Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen: Barbara Budrich.
Jessop, Bob. (1990). State Theory. Putting the Capitalist State in its Place. Cambridge: Polity Press.
Birgit Sauer ist Professorin i.R. für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschungen umfassen feministische Staats- und Demokratietheorie, vergleichende Gleichstellungspolitiken, Rechtspopulismus und Geschlecht, Politik und Emotionen.