Wie umgehen mit dem rassistischen Erbe in der Philosophie? Die richtigen Fragen stellen!

von Andrea Esser (Universität Jena)

In vielen klassischen Texten der philosophischen Tradition kann man auf Passagen treffen, die – mindestens nach heutigen Maßgaben – als rassistisch zu beurteilen sind. Die Philosophie hat, wie viele andere Fächer auch, damit begonnen, sich mit diesem rassistischen Erbe auseinanderzusetzen. Sofern philosophische Vorurteilskritik, die Prüfung erhobener Ansprüche, die Aufdeckung von Schein und Ideologiebildung in der Philosophie ihrerseits eine lange Tradition haben und durchaus zum Kerngeschäft philosophischen Arbeitens gerechnet werden, könnte man meinen, dass diese Aufgabe keine sonderliche Herausforderung für das Fach darstellt. Viele philosophische Theorien bieten ein geeignetes begriffliches und methodisches Instrumentarium zur (macht- bzw. ideologie-)kritischen Textanalyse, aber auch, um die philosophische Theoriebildung und sogar noch die Praxis des Philosophierens der Selbstkritik auszusetzen. Ob die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Erbe aber auch im konkreten Fall selbstkritisch ausfällt, hängt vor allem von den Fragen ab, mit denen sie eröffnet wird. Bereits die Fragestellung lenkt den Fokus der Auseinandersetzung auf bestimmte Gegenstände und entscheidet darüber, ob etwa vorrangig über die Vergangenheit gerichtet wird oder ob rassistische Vorurteile und ausschließende sowie einschränkende Rahmenbedingungen auch der gegenwärtigen philosophischen Praxis mit zum Thema gemacht werden. Ist Letzteres der Fall, könnte die selbstkritische Beschäftigung mit der eigenen Tradition auch neue, um die Kritik erweiterte Sicht- und Verfahrensweisen, ein geschärftes Problembewusstsein und eine gesteigerte Sensibilität für die eigene Situiertheit und die damit verbundenen Grenzen eröffnen. Für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt könnte diese Erweiterung des Fokus möglicherweise wichtig sein …

Aktuell konzentriert sich die Frage nach dem rassistischen Erbe in philosophischen Texten sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb des akademischen Diskurses häufig auf die jeweiligen Autor:innen: „Waren – zum Beispiel: Kant, Fichte, Hegel, oder auch: Hannah Arendt und Max Weber … Rassisten bzw. eine Rassistin?“. Es scheint so, als bestünde die Aufgabe einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen philosophischen Tradition darin, nun die Klassiker und ihre Schriften der Reihe nach durchzugehen, um dann ein be- oder entlastendes Urteil über sie zu fällen.

Meines Erachtens wird man damit aber dem Problemfeld nicht gerecht. Daher möchte ich im Folgenden zumindest andeuten, inwiefern diese Fragestellung die

a. philosophiehistorische,  

b. philosophische

Auseinandersetzung mit dem rassistischen Erbe auf problematische Weise verengt und dadurch einen

c. selbstkritischen Aufklärungsprozess geradezu blockiert.

Meine Überlegungen möchte ich auch an konkreten Textstellen und an Beispielen aus dem akademischen Alltag verdeutlichen.

  1. Philosophiehistorische Überlegungen

Obwohl viele Philosophien (gemeint sind hier vorrangig europäische) vor allem auf das Allgemeine zielen, nehmen in der Diskussion über Rassismen in der philosophischen Tradition dann doch die einzelnen Individuen, mitunter auch nur manche (zum Beispiel die sogenannten „großen“) eine zentrale Rolle ein. Das ist nicht verwunderlich, denn auch viele Philosophiegeschichten waren und sind weiterhin an den Klassikern, im Sinne herausragender Philosophen orientiert; in der Regel werden dabei weder die Kriterien der Auswahl noch die konkreten Bedingungen der „Klassikerproduktion“ explizit gemacht, sondern an deren Stelle eher auf die besondere philosophische Begabung und das „Genie“ der Personen verwiesen.

Was könnte an dieser Perspektive für die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Erbe problematisch sein?

Zum einen versperrt die auf die Individuen gerichtete Fragestellung denen, die zum Opfer rassistischer Diskriminierung und aus den zeitgenössischen Diskussionen und Institutionen gedrängt wurden, einmal mehr eine angemessene Aufmerksamkeit und Rezeption. Zum anderen werden durch den Fokus auf die Klassiker und „ihren“ Rassismus – den Rassismus zum Beispiel Kants, Hegels, Fichtes … – die Personenzentrierung der Philosophiegeschichtsschreibung weiter fortgesetzt und mögliche Einsichten in prägende Diskurskonstellationen zurückgedrängt. Diese Einsichten aber könnten uns Aufschluss geben über die konkrete Art und Weise, wie philosophische Begriffs- und Theoriebildung (sowie deren rassistische Irrwege) vollzogen werden, um sie zur Kritik analoger Erscheinungsweisen des Rassismus in der Gegenwart zu nutzen. Eine Fragestellung, die sich auf einzelne Autor:innen konzentriert, verhindert dagegen, an konkreten historischen Debatten, Gruppierungen und Argumentationsstrategien aufzuzeigen, welche Erscheinungsweisen des Rassismus es genau waren, in die sich die jeweiligen Philosophien zu ihrer Zeit verstrickt haben und wo ihre blinden Flecken lagen. Die Diskussionszusammenhänge unter denen philosophische Theoriebildung stattfindet, kann man nur erfassen, wenn man die jeweiligen Theorien (und nicht allein die Personen) im Kontext ihrer interpersonalen zeitgenössischen Konstellationen und deren Fragestellungen begreift und vor diesem Hintergrund die Texte und die darin getroffenen Entscheidungen rekonstruiert. Damit komme ich zu meinem zweiten Punkt:

b. Die philosophische Dimension

Auch den konkreten philosophischen Gehalt der jeweiligen Aussagen und die Frage, ob und in welchem Sinne darin rassistische Ideologien zum Ausdruck kommen, lässt sich meines Erachtens nur angemessen bearbeiten, wenn man nicht bloß einzelne Stellen oder Abschnitte „rausfischt“. Stattdessen gilt es die jeweiligen Passagen im Werk und in der zeitgenössischen Diskussion zu kontextualisieren und herauszuarbeiten, auf welche Fragen der jeweiligen Debatte sie mit ihren, mitunter auch hoch-problematischen Konzeptionen antworten. Das ist schon deshalb wichtig, weil wir davon ausgehen müssen, dass auch wir in unseren Forschungen – vielleicht als Beiträger:innen zu einer hoch ausdifferenzierten und vielleicht isoliert traktierten Frage innerhalb einer Debatte – den kritischen Blick auf die Implikationen und politischen Folgen unsere eigenen Forschungsbeiträge verlieren können.

Ich habe am Anfang in Aussicht gestellt, auf konkrete Beispiele Bezug zu nehmen. Im Folgenden möchte ich in der gebotenen Kürze an dem Race-Begriff in Kants Schriften zeigen, dass und wie schon durch eine individualisierende Fragestellung wichtige philosophische Zusammenhänge verdeckt werden. Der Bezug auf dieses Beispiel scheint mir deshalb geeignet, weil Kant mitunter als „der Erfinder“ oder (Mit-)begründer“ des Rasse-Begriffs bezeichnet wird (im Zusammenhang der Kantischen Texte bleibe ich bei der zeitgenössischen Schreibweise, um die historische Distanz zu markieren und nicht vorweg eine Identität mit dem modernen Rasse-Begriff zu behaupten). Wir erfahren aber viel mehr und genaueres über die konkrete Entstehungs- und Wirkungsweise rassistischen Denkens, wenn wir es nicht aus einem bei Kant als Person vorhandenen Rassismus heraus zu entwickeln versuchen, sondern nach einem sachlichen Motiv fragen, das Kant zur Verwendung des Begriffs der Race bewogen haben könnte. In der Diskussion etwa über den Begriff der Menschenrace, die Kant mit dem zeitgenössischen Naturforscher und weit gereisten Georg Forster geführt hat, wird deutlich: Die Einheit der Menschen trotz ihrer Verschiedenheit zu erklären, stellt für die damaligen Naturlehren (für Bonnet, Buffon, Maupertuis, Blumenbach und andere), aber auch für Kant eine theoretisch-systematische Herausforderung dar. Kant geht es mit dieser Frage darum, diese Einheit der Menschen als Gattung nicht nur zu behaupten, sondern eine wissenschaftliche Erklärung für die Genese beobachtbarer und zugleich erblicher Unterschiede der Mitglieder einer Gattung vorzulegen. Liest man nun die einschlägigen Stellen bei Kant, scheinen sie auf den ersten Blick gerade nicht auf eine diskriminierende Hierarchie zwischen den Menschen und daher auch nicht auf eine rassistische Klassifizierung hinzudeuten:

„Der Begriff einer Race enthält also erstlich den Begriff eines gemeinschaftlichen Stammes, zweitens nothwendig erbliche Charaktere des klassischen (Erg.: d. Verf.in: gemeint ist die Klasse im Unterschied zur Gattung) Unterschieds der Abkömmlinge desselben von einander.  …
Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der Schwarzen unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“

(Immanuel Kant, Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace (1785), AA 8: 99-100)  

Kants Race-Begriff soll an dieser Stelle anzeigen, dass sich bestimmte körperliche Eigenschaften auch bei dauerhaftem Wechsel, zum Beispiel in eine andere Klimazone über Generationen weitervererben. Manche Interpreten erkennen sein kritisches Verdienst darin, den Race-Begriff zu definieren, und dadurch auch die Grenzen seiner Geltung aufzuzeigen, um auf diese Weise einer unbegründeten Ausweitung (zum Beispiel bis zur Gattung und einer damit verbundenen Polygenese) den Riegel vorzuschieben. Im weiteren Zusammenhang von Kants Race-Konzeption geht es auch darum, die Menschen trotz unterschiedlicher Phänotypen auf einen „Urstamm“ zurückzuführen. Die faktische Mannigfaltigkeit wird also nicht nur als solche beschrieben, sondern sie soll durch das Aufzeigen ihrer Entstehung und Entwicklung aus der Einheit einer organischen Gattung heraus erklärt werden. Nun könnte man denken, der Kantische Race-Begriff habe, gerade weil er beobachtbare Differenzen als Differenzen einer Gattung zu begreifen erlaubt, keinen Bezug zu rassistischen Gehalten, sondern leiste vielmehr eine egalisierende Integration.

Irritierend wirkt vor dem Hintergrund dieser Lesart allerdings dann folgende, viel zitierte Stelle aus den Vorlesungen der sogenannten „Physischen Geographie“:

„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen.“
(Immanuel Kant, Physische Geographie (Vorlesungsnachschriften zwischen 1756 und 1796), AA 9: 316

Nach der Lektüre dieser Stelle muss man sich fragen, wo nun die Einheit der Gattung geblieben ist … und wie sich die hier vorgenommene Hierarchisierung der Rassen mit der Einheit der Gattung verträgt.

Es gilt freilich zu berücksichtigen, dass ich hier aus einem anderen Text zitiere, der auch einen anderen Status hat als die oben zitierte Race-Schrift. Die sog. „Physische Geographie“ besteht aus Nachschriften von Vorlesungen, die Kant über Jahrzehnte gehalten hat. Sie sollten den Zuhörern die Entwicklungen in der Naturforschung vermitteln. Weite Abschnitte sind nicht das Resultat Kants eigener Forschung, sondern Kant schöpft hier aus einer Fülle von zeitgenössischen Forschungsbeiträgen. Entsprechend erschließen sich die Inhalte dieser Texte auch nur im Bezug auf die jeweiligen Quellen, die aus einschlägigen Reiseberichten, bekannten Schriften von Naturforschern wie Linné, Maupertuis, Buffon, Cranz … Lexika der Mineralogie, der Geologie und dergleichen kompiliert wurden.

Die hier zitierte Stelle ist etwa ein fast wörtliches Zitat aus Buffons „Allgemeiner Historie der Natur“:  


„Die Natur hat in ihrer größten Vollkommenheit weiße Menschen gebildet, und die auf das höchste veränderte Natur bildet sie gleichfalls weiß.“ aus: Georges-Louis Leclerc de Buffon: „Allgemeine Historie der Natur (…). Zweyter Teil. Hamburg und Leipzig: 1752, S. 300.

Kant hätte Buffon freilich auch nicht zitieren können und seine Gedanken nicht übernehmen müssen …; Doch die Rekonstruktion solcher Rezeptionszusammenhänge ist ganz unabhängig davon, ob und wie die Spielräume von den rezipierenden Autor:innen jeweils genutzt wurden, lehrreich: Sie kann uns nämlich die Übergänge aufzeigen, die von einem sachlichen Anliegen innerhalb einer Fachdiskussion zu einer ideologischen Position führen. Dann wird klar, an welchen Stellen genau, auf Grund welcher Begriffe der kritische Blick verloren oder die Blindheit gegenüber ungeprüften Voraussetzungen und problematischen Implikationen eingetreten ist.

In diesem Fall ist in der Rekonstruktion zu berücksichtigen, dass die Erklärung für die Verschiedenheit der Menschen auch schon innerhalb von Kants eigener kritischer Analyse keine Angelegenheit der Naturforschung im Sinne einer „Naturbeschreibung“ darstellt, sondern eine Aufgabe und Leistung der sog. „Naturgeschichte“ ist.

Diese beiden Disziplinen der Naturforschung wurden im 18. Jahrhundert unterschieden und gründen auf verschiedenen, gegenläufigen methodischen Verfahren: die „Naturbeschreibung“ geht geschichtslos vor und entwirft eine Systematik des status quo; die „Naturgeschichte“ (das Paradigma dieser neuen Disziplin stellt Buffons „Allgemeine Naturgeschichte“ dar), betrachtet die Natur in ihrer historischen Entwicklung bis hin zu einer „Archäologie“ der Natur. Kants Begriff der Race und bereits die Fragestellung nach der ursprünglichen „Einheit“ der Gattung Mensch, auf die der Begriff und die Theorie der Race antwortet, erhalten damit einen besonderen wissenschaftstheoretischen Status und stehen im Zusammenhang der von Kant kritisch begründeten Teleologie. Dabei aber gehen wissenschaftstheoretische Ziel- und Richtungsbestimmungen der Reflexion in die „Erklärung“ der Naturgeschichte ein, auf deren Grundlage ein konsistentes Bild der naturgeschichtlichen Entwicklung hergestellt werden kann. Es sind wissenschaftstheoretische „Ideen“, die auf diesen Zusammenhang leiten (Kant exponiert sie im „Anhang zur transzendentalen Dialektik“ in der Kritik der reinen Vernunft) – die „Einheits“-Idee ist eine von diesen Ideen.

Diese Überlegungen zeigen, dass die „Naturgeschichte“ und die Geschichte der Gattung Mensch, in der Kant den Race-Begriff aufstellt, in dem Sinne Konstruktionen sind, dass sie nach wissenschaftstheoretischen Maßgaben, nach „Bedürfnissen“ und „Interessen“ der Vernunft entworfen werden. Der Etablierung der Disziplin der „Naturgeschichte“ selbst lässt sich unter den zeitgenössischen Theoriekonstellationen daher sogar eine emanzipatorische, insofern „praktische“ Intention zuschreiben: denn für Kant, aber auch für viele Naturforscher eröffnete die Naturgeschichte die Möglichkeit, natürliche, das heißt von der Theologie unabhängige Erklärungen für die Ordnung der Welt und der in ihr lebenden Menschen vorzulegen.

Für die aktuelle und in unserer Gegenwart aufgeworfene Frage entscheidend ist und bleibt aber, dass der Race-Begriff kein beschreibender Begriff der Naturforschung ist: Denn die teleologische Perspektive, auch wenn sie im Kantischen Sinne „kritische Teleologie“ ist, bewertet Entwicklungen immer unter bestimmten Maßstäben oder „Zielen“. Diese können in einen rassistischen Biologismus münden, wenn die biologische Vervollkommnung als Ziel gesetzt wird. Innerhalb der Kantischen Theorie wird das Ziel der Vervollkommnung nicht biologisch, sondern durch die praktische Vernunft bestimmt. Sie fordert eine allmähliche (zivilisierende, kultivierende und schließlich auch moralische) Vervollkommnung der Menschheit hin zur Anerkennung des Sittengesetzes und zur Realisierung der Freiheit. Es waren dann aber die in Europa vorgeblich schon etablierten konkreten zivilisatorischen und kulturellen Verhältnisse, die als vermeintlich bereits erreichte Stufen „auf dem Weg zur Vollkommenheit“ den tatsächlichen Maßstab bildeten, nach dem – insbesondere außereuropäische – Ethnien innerhalb der teleologischen Naturgeschichte als bloße Vorstufen und „Kindheitsstadien der Menschheit“ bewertet und alles andere als gleichwertig „integriert“ wurden. Der im Allgemeinen propagierte Universalismus der Gattung wurde auf diese Weise durch die Selbstanmaßung einer bestimmten, nämlich der europäischen Gesellschaft, konkret unterlaufen und so meinte man sogar, die aus den Wohlstands- und Machtinteressen erwachsende Unterwerfung und Kolonialisierung legitimieren zu können – eine Schein-legitimation, die mitunter sogar noch bis in unsere Gegenwart unverändert vorgebracht wird. Auch Kant und mit ihm eine ganze Reihe zeitgenössischer Philosophen haben es sich erspart, diese, ihr Denken und ihre Theorien prägenden Rahmenbedingungen des Philosophierens zum Gegenstand der Kritik zu machen.

Aber auch wenn man heute glaubt, den Race-Begriff als einen nur beschreibenden Begriff verwenden zu können, unterschreitet man nicht nur die aus der Kantischen Kritik gewonnene Differenzierung zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, sondern man verkennt, ganz unabhängig von der Kantischen Theorie, die herabwürdigenden, ja katastrophalen Verbindungen, die mit dem Race-Begriff durch seine systematische Funktion in der Tradition der Naturgeschichte hergestellt und legitimiert wurden und immer noch werden können.

Diese etwas ausführlichere Behandlung der Text-Stelle in der Physischen Geographie kann die Problematik des Race-Begriffs trotzdem weder bei Kant noch in der zeitgenössischen Debatte erschöpfen. Ich hoffe, dass sozusagen im Kontrast deutlich wird, wie gering die Einsichten in die philosophische Forschung und ihre ideologische Verstrickung demgegenüber ausfallen würden, wenn man sich auf eine Individualisierung der Fragestellung (wie etwa die Stilisierung einer einzelnen Person zum Erfinder des Race-Begriffs) verlegt. Damit wir aber nicht unsererseits der Selbstvergessenheit in Bezug auf die prägenden Rahmenbedingungen und die Situiertheit unseres Philosophierens erliegen, brauchen wir solche differenzierten, vieldimensionalen und weitreichenden kritischen Einsichten – nicht nur für die angemessene Rekonstruktion und Bestimmung der philosophischen Verstrickung, sondern auch für die (selbst-)kritische Auseinandersetzung in unserer Gegenwart.

Warum? Damit komme ich zu meinem dritten Teil, zu der Überlegung, dass ohne diese Kontextualisierung ein 

c. selbstkritischer Aufklärungsprozess geradezu blockiert wird, aber: dies natürlich nicht geschehen sollte.  

Rassistische Diskriminierungen gehören nicht der Vergangenheit an, sondern sind heute noch in den verschiedensten Formen gegenwärtig – auch in unserer akademischen Praxis. Die Schriften der „Klassiker“ und die darin enthaltenen herabwürdigenden Stellen sind nur ein Medium, über das rassistische Ideologien über die Zeiten hinweg traditionsbildend geworden sind und weiter wirken können. Die auf die historischen Individuen gerichtete Fragestellung verdeckt, dass wir (möglicherweise) selbst gar nicht außerhalb solcher Traditionen stehen, sondern sogar ein Teil von ihnen sind. Sie verdeckt auch, dass wir mit jeder Lektüre und mit jeder öffentlichen Thematisierung der entsprechenden Passagen abermals deren rassistischen Gehalt in unsere aktuelle Kommunikation eintreten lassen und ihn dadurch präsent und für rassistische Herabwürdigungen anschlussfähig halten – ob wir das nun als individuelle Personen beabsichtigen oder nicht. So gesehen verhalten wir uns als Lehrende und Forschende immer auch in einer bestimmten Weise zu den jeweiligen Texten und ihren Effekten – ganz gleich, ob wir dazu explizit Stellung nehmen, ein Reflexions- und Diskussionsangebot machen – oder das Thema als unwichtig oder philosophisch irrelevant abtun.

Mit diesem kleinen Nachsatz – „oder es als unwichtig abtun“ – möchte ich zum Abschluss noch auf solche subtilen und durch Normalisierungsprozesse unsichtbar gewordenen Formen des Rassismus hinweisen. Mit ihnen bleiben rassistische Ideologien – oder auch nur die Gleichgültigkeit gegen rassistische Äußerungen und Haltungen –, in der akademischen Praxis präsent, werden unbemerkt weitergereicht und gewohnheitsmäßig mitgeschleppt. In der Summe bilden subtile rassistische Praxen dann ihrerseits Rahmenbedingungen der philosophischen Kommunikation, die bis in Lehre und Forschung hinein das Philosophieren wesentlich prägen und etwa die Ausbildung ihrer philosophischen Kritik blockieren können. Manchmal handelt es sich um beiläufig gemachte Bemerkungen, die auf Nachfrage aber niemand „so gemeint hat“, ein anderes Mal um den weitgehend unthematisierten, aber immer wieder beobachtbaren Habitus, in Gesprächsrunden nur wichtige, akademisch einflussreiche Kolleg:innen einzubinden, und die mit der Fremdsprache ringenden Kolleg:innen aus dem außereuropäischen Ausland mit einer (in der Regel: väterlichen) Freundlichkeit abzuspeisen. Weitreichendere Ausschlüsse bewirkt die Dominanz bestimmter Themen, Debatten, Schulen und Methoden, die gleichsam „hinter unserem Rücken“ große Teile nicht-westlicher Philosophien als unphilosophisch disqualifiziert, weil sie nicht den europäisch-angelsächsischen Gewohnheiten der Vermittlung philosophischer Gedanken oder der üblichen Argumentationsweise entsprechen.

Auch hierbei handelt es sich um Rahmenbedingungen des Philosophierens, in denen, möglicherweise unbemerkt, die Selbstanmaßung einer bestimmten, nämlich der europäischen Philosophie, ihre Wirkung bereits entfaltet hat. Das ist immer dann zu beobachten, wenn das Selbstverständnis akademischer Philosoph:innen eine Haltung der Selbstgewissheit bis hin zur Selbstüberschätzung zu erkennen gibt, der zufolge zum Beispiel von Kolleg:innen aus Südamerika, Afrika und Asien philosophisch nichts zu lernen sei, sondern man in diese Länder philosophisches Wissen exportieren müsse, um die Dortigen darüber aufzuklären, was der Stand aktueller Forschung ist, wie eine klare Argumentation aussieht, kurz: um sie aus ihrem Schlummer zu holen. Diese Rahmenbedingungen des Philosophierens mitzureflektieren (und auch die damit verbundenen Normalisierungspraxen zu thematisieren) ist nach wie vor unüblich in der akademischen Philosophie und nicht Teil des Selbstverständnisses des Fachs, das sich gleichwohl auf die Fahnen schreibt, alles immer der Kritik zu unterwerfen und aufs Schärfste zu prüfen. Doch sofern Gedanken nie ohne eine Form, nie ohne einen Modus der Darstellung präsentiert werden, sollte man die Reflexion auf Fragestellungen, Prägungen und auf den Gestus und Modus des Philosophierens, ja auch auf die Praxis des Sprechens selbst, vielleicht doch zum philosophischen Kerngeschäft zählen.

Andrea Marlen Esser, seit 2015 Professorin für Philosophie (Praktische Philosophie & Politische Philosophie) an der Friedrich-Schiller-University Jena. 

((2006 bis 2015 Professorin für Praktische Philosophie an der Philipps-Universität Marburg; vorher Professur für Philosophie der Kulturellen Welt an der RWTH Aachen und für Ästhetik, Semiotik und Kunstphilosophie an der Hochschule für Gestaltung Pforzheim. Fellowships am Alfried-Krupp-Kolleg in Greifswald und am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt.))

Seit 2006 Mitherausgeberin der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“; von 2011 bis 2017 Geschäftsführerin der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie” (DGPhil). Von 2008 bis 2012 Mitglied der „Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“. Forschungsprojekte der DFG und Volkswagenstiftung; 

Seit 2022 Koselleck-Projekt der DFG „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Klassischen Werken der Deutschen Philosophie?“. Herausgeberin von Kants „Critik der Urtheilskraft“. im Rahmen der Neuedition von Kants Akademie-Ausgabe der BBAW.

Veröffentlichungen: 

Esser, Andrea. ‘“Freiheit in der Erscheinung”. Überlegungen zu Schillers Kant-Rezeption in den ästhetischen Vorlesungen’. In Freiheit im Werden? Schillers Vorlesungen an der Universität Jena, ed. by Helmut Hühn, Nikolas Immer and Ariane Ludwig. Hannover, Wehrhahn, 2022 (bool series: Schiller-Studien 2), 59–107.

Esser, Andrea. ‘Immanuel Kant’. In Kant und der Deutsche Idealismus: Ein Handbuch, ed. by Klaus Vieweg. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg), 2021, 31–74

Esser, Andrea. ‘Politische Urteilskraft – Zur Aktualität eines traditionellen Begriffs’. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65(6), 2017, 957–997. – https://doi.org/ 10.1515/dzph-2017-0068.