Sind Fragen nach Gott Anfängerfragen?
von Silvia Jonas (München)
Philosophiestudierende, die sich für Fragen zu Gott und Theismus interessieren, haben es nicht leicht. Wer zum Beispiel nach der Rationalität von religiösem Glauben fragt, erntet oft bestenfalls einen mitleidigen Blick. Eine Anfängerfrage! Fortgeschrittene philosophische Kenntnisse werden ihre Irrelevanz offenlegen. So oder ähnlich scheint zumindest die Haltung vieler Philosophielehrender zu sein. Aber sind Fragen nach Gott, Theismus und religiösem Glauben wirklich so obsolet geworden, wie man ihrem Schattendasein in der heutigen Philosophie nach meinen könnte?
Unstrittig ist, dass der Theismus in weiten Teilen des sich selbst als aufgeklärt identifizierenden Europas keine populäre Position mehr ist. Wahr ist aber auch, dass er in anderen Teilen der Welt weiterhin eine zentrale Rolle im Leben und Denken der Menschen spielt. Ist die Tatsache, dass Gott, Glaube und Religion nicht mehr zu den Kernthemen gehören, mit denen sich jede*r Philosophiestudierende auseinandersetzen muss, also einfach einer historischen Entwicklung geschuldet, die in der Haltung mündet: Wir Europäer sind nicht mehr religiös, also müssen wir Religion auch nicht mehr verstehen?
Ganz so einfach liegen die Dinge vermutlich nicht. Um zu verstehen, warum die Frage nach Gott keine Anfängerfrage ist, müssen wir zunächst klären, was genau wir eigentlich ablehnen, wenn wir den Theismus ablehnen. Der britische Religionsphilosoph Richard Swinburne, beispielsweise, versteht den Theismus als Hypothese, die erklärt, weshalb die Welt so ist, wie sie ist (vgl. Swinburne, R. 2008. Was Jesus God? Oxford University Press, S. 16). Wenn Theismus aber tatsächlich einfach als ‚Erklärungshypothese’ verstanden werden muss, dann ist nicht schwer zu erkennen, weshalb er in der modernen Welt nur noch so wenige Anhänger findet.
Nicht nur liefern die Naturwissenschaften deutlich überzeugendere Erklärungen für empirische Phänomene; sie können sogar akkurate Voraussagen über diese Phänomene treffen. Der Philosoph John Cottingham nennt in diesem Zusammenhang „die Einsteinsche Relativitätstheorie, die Quantenmechanik und die elegante mathematische Theorie, die als ‚Inflation’ bezeichnet wird, um die Entwicklung des Universums in den letzten 13 Milliarden Jahren zu erklären. Hinzu kommt der Erfolg des Darwinschen Evolutionsmodells zufälliger Mutationen und natürlicher Selektion, gepaart mit der modernen Genetik, und wir haben eine außerordentlich reichhaltige Erklärungsstruktur, die im Schmelztiegel einer strengen Methodik ausgearbeitet und sorgfältig auf der Basis eines beeindruckenden Korpus von empirischen Daten getestet wurde. So großartig ist ein Großteil dieser Arbeit, dass selbst das Sammeln und Verarbeiten der relevanten Daten eine Leistung darstellt, die Nobelpreise verdient“ (Cottingham, J. 2018. ‚Transcending Science: Humane Models of Religious Understanding.’ In: F. Ellis, New Models of Religious Understanding. Oxford University Press, S. 24, Übersetzung der Autorin). Gemessen an den Naturwissenschaften hat uns der Theismus vergleichsweise wenig darüber zu sagen, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Die philosophische Frage nach Gott ist deswegen aber noch längst nicht obsolet. Nicht nur lassen die Naturwissenschaften viele grundsätzliche Fragen offen – sie können zum Beispiel nicht erklären, weshalb überhaupt etwas existiert, oder was uns nach dem Tod erwartet. Aber darüber hinaus gibt es viele weitere Fragen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften fallen, die wir uns sinnvollerweise über den Theismus stellen können, zum Beispiel: Ist eine Interpretation von Theismus möglich, die ihn nicht als Erklärungshypothese darstellt, aber trotzdem den Intuitionen religiöser Menschen gerecht wird? Gibt es eine zu dieser Interpretation passende Definition des Gottesbegriffs? Was bedeutet es, eine realistische, also ontologisch verpflichtete Position hinsichtlich eines solchen Gottesbegriffs zu vertreten? Wie kann man religiösen Glauben vor dem Hintergrund einer solchen alternativen Definition von Theismus verstehen? Einige neue religionsphilosophische Publikationen versuchen bereits, den Fokus ihrer Disziplin in diese Richtung zu verschieben (als Beispiele seien genannt Paul Drapers und J.L. Schellenbergs (Hrsg.) Renewing Philosophy of Religion (Oxford University Press, 2017) und Fiona Ellis’ (Hrsg.) New Models of Religious Understanding (Oxford University Press, 2018).
Darüber hinaus wird häufig übersehen, dass der Theismus nur eine von vielen Domänen ist, deren Aussagen über das rein Empirische hinausreichen und trotzdem objektive Gültigkeit beanspruchen. Die meisten Menschen sind zum Beispiel von der Existenz objektiv gültiger moralischer („Babies zum Spaß zu quälen ist verwerflich“), modaler („Hillary Clinton hätte die Wahl gewinnen können“) oder mathematischer („2+2=4“) Wahrheiten überzeugt. Die Fragen, die Metaethiker*innen, Metaphysiker*innen und Philosoph*innen der Mathematik sich zu solchen Aussagen stellen, sind strukturidentisch mit den traditionellen Fragen der Religionsphilosophie: Ist es möglich, ontologische Verpflichtung hinsichtlich nicht-raumzeitlicher Entitäten (Zahlen, Werte, mögliche Welten, Gott) zu rechtfertigen? Wenn ja, unterminiert es die daraus resultierende realistische Position, wenn die Existenz solcher Entitäten nicht notwendig ist, um zu erklären, weshalb Subjekte Überzeugungen über sie bilden? Wie ist epistemischer Zugang zu solchen Entitäten möglich? Und: Untergraben fundamentale Uneinigkeiten eine realistische Auffassung hinsichtlich der Aussagen solcher Domänen? Die klassischen Fragen, die jahrhundertelang in Bezug auf den Theismus diskutiert wurden, sind also alles andere als obsolet. Sie werden einfach in anderer Gewandung, aber mit unverändertem Eifer hinsichtlich mit dem Zeitgeist kompatibleren Domänen diskutiert.
Philosophiestudierende, die sich für Fragen zu Gott und Theismus interessieren, sollten sich also nicht von der derzeit ablehnenden Haltung abschrecken lassen. Vielmehr sollten sie sich vor Augen halten, dass ihre Fragen heute genauso virulent sind wie sie es schon vor dreihundert Jahren waren. Einzig unsere Interpretation des zu untersuchenden Gegenstandes hat sich verändert.
Silvia Jonas ist Minerva Fellow am Munich Center for Mathematical Philosophy (MCMP). Ihre Hauptinteressen liegen in den Bereichen Metaphysik, Philosophie der Mathematik und Erkenntnistheorie, sie arbeitet aber auch an einer Reihe von Themen in den Bereichen Metaethik, Ästhetik und Religionsphilosophie.