Ist es rational religiöse Überzeugungen zu haben?

von Georg Gasser (Innsbruck)


Lange Zeit war die Meinung vorherrschend, Religionen würden durch Aufklärung und Wissenschaft verschwinden. Diese Meinung hat sich allerdings nicht bestätigt. Großreligionen mögen zwar an Einfluss verlieren, aber religiös-spirituelle Einstellungen prägen weiterhin das Leben vieler Menschen. Zudem prognostiziert das bekannte Pew Research Center, das sich auf Religionsforschung spezialisiert hat, dass atheistische bzw. a-religiöse Einstellungen mittelfristig aus demographischen Gründen weltweit sogar im Schwinden begriffen sind. „People with no religion face a birth dearth“ hieß es im Untertitel einer großangelegten Studie aus dem Jahr 2017 zur Entwicklung der Weltreligionen bis 2060 (siehe: https://www.pewforum.org/2017/04/05/the-changing-global-religious-landscape/).

Mit dem Phänomen Religion wird also auch in Zukunft zu rechnen sein. Somit erscheint es sinnvoll, sich auch philosophisch damit zu beschäftigen. Dies tut die Religionsphilosophie. Was ist aber der ihr genuine Zugang zu religiösen Phänomenen? Schließlich beschäftigen sich auch die Religionswissenschaften und die Theologie mit Religion! Skizzenartig lässt sich sagen, dass Religionswissenschaft primär an der historischen Entstehung und phänomenologischen Beschreibung religiöser Phänomene und Praktiken interessiert ist. Theologie geht hingegen von einem gewissen religiösen Bekenntnis bzw. religiösen Vorannahmen aus und im Lichte dieser deutet sie die Wirklichkeit und entwickelt normative Vorgaben des Handelns. Im Zentrum religionsphilosophischer Bemühungen steht die Frage nach der Rationalität bzw. Unvernünftigkeit religiöser Überzeugungen und Praktiken. Es geht also um die Frage, ob Überzeugungen wie „Gott hat die Welt erschaffen“ oder „Ich habe die liebende Nähe Gottes erfahren“ mit guten Gründen vertreten werden können oder nicht. Religionsphilosophie kann somit ebenso zur argumentativen Rechtfertigung religiöser Überzeugungen beitragen wie zu ihrer Kritik.

Welche argumentativen Strategien für bzw. wider religiöse Überzeugungen gibt es? Ich skizziere drei prägende Ansätze aus der aktuellen Religionsphilosophie. Solche Skizzen haben stets etwas Holzschnitzartiges und Willkürliches an sich, aber sie bieten trotzdem eine wertvolle erste Orientierungshilfe im Dickicht einer Diskussion.

Der erste Ansatz besagt, dass religiöse Überzeugungen primär praktisch-existentielle Einstellungen zum Ausdruck bringen wollen und nicht so sehr theoretische Annahmen über die Wirklichkeit. Eine religiöse Überzeugung wie „Gott ist den Menschen nahe“ drückt daher nicht so sehr etwas über die Wirklichkeit selbst aus, d. h. dass Gott tatsächlich in Welt gegenwärtig ist. Vielmehr sagt sie etwas über die moralischen oder existentiellen Einstellungen der Person aus, welche diese Überzeugung hat. Z. B. dass wir uns um andere Menschen kümmern sollen, dass uns andere Menschen wichtig sind oder dass dieses Leben lebenswert ist. Diese Strategie hat den Vorteil, dass religiöse Überzeugungen nicht in Konflikt mit theoretischen Annahmen über die Wirklichkeit kommen können, da sich diese auf den praktisch-moralisch-existentiellen Bereich beschränken. Der Nachteil ist allerdings, dass religiöse Überzeugungen auf eine Weise umgedeutet und neu interpretiert werden, die dem Selbstverständnis vieler Gläubiger widerspricht. Wenn eine gläubige Person die Überzeugung hat, dass Gott ihr im Gebet begegnet ist, so meint diese Person im Normalfall, dass dies tatsächlich der Fall war und dass ihre Erfahrung eine Reihe von theoretischen Annahmen über die Wirklichkeit voraussetzt, wie z. B. dass Gott existiert, dass Menschen einen Zugang zu Gott im Gebet erhalten können, dass Gott sich ihr im Gebet gezeigt hat usw. Es spricht somit einiges gegen die These, dass theoretische Annahmen über die Wirklichkeit – und damit auch die Frage ihrer rationalen Rechtfertigung – in religiösen Überzeugungen keine wesentliche Rolle spielen.

Der zweite und dritte Ansatz verorten die Frage nach der Vernünftigkeit religiöser Überzeugungen im Bereich der theoretischen Vernunft. Seit der Zeit der Aufklärung werden theoretische Annahmen über die Wirklichkeit weitgehend von einem religiös-neutralen Ausgangspunkt aus entwickelt. Die grundlegende Annahme besagt dabei, dass jede vernünftige und intellektuell redliche Person dank ihrer Erkenntniskraft eine Reihe grundlegender Wahrheiten über die Beschaffenheit der Wirklichkeit prinzipiell ausfindig machen kann. Diese Wahrheiten stellen das „Fundament“ unseres Wissens über die Wirklichkeit dar und durch diese müssen alle weiteren Annahmen abgesichert und gerechtfertigt werden. Dies gilt auch für religiöse Überzeugungen. Folglich liegt die Beweislast bei religiösen Menschen aufzuzeigen durch welches „Fundament“ grundlegender Wahrheiten ihre religiösen Überzeugungen gestützt werden.

Der zweite Ansatz wird in der Diskussion meist als „reformierte Erkenntnistheorie“ bezeichnet – „reformiert“, weil die meisten Vertreter bekennende reformierte Christen sind. Sie wenden sich gegen die soeben skizzierte Begründungsstrategie durch eine „neutrale“ Vernunft. Sie argumentieren dafür, dass es verschiedene Arten grundlegender und nicht weiter durch Gründe zu rechtfertigende Überzeugungen gibt und dass religiöse Überzeugungen ebenfalls dazu gehören können. So ist es rational Überzeugungen der folgenden Art ohne weitere Rechtfertigung zu haben, solange keine starken Einwände dagegen vorliegen: „Ich sehe dort einen roten Punkt vor mir.“ „Die Außenwelt existiert und wir leben nicht nur in einer Matrix-Welt.“ „Meine Mitmenschen sind wie ich mit Geist und Subjektivität ausgestattet und nicht nur Zombies.“ Auf religiöse Überzeugungen angewendet besagt dieser Ansatz, dass jemand gerechtfertigt ist, an die Existenz Gottes zu glauben ohne hierfür stichhaltige Vernunftargumente haben zu müssen. Die argumentative Bringschuld einer religiösen Person verlagert sich somit von der Suche nach Vernunftargumenten zur Absicherung ihrer religiösen Überzeugungen hin zur Prüfung möglicher Einwände gegen Überzeugungen wie „Ich habe die Nähe Gottes im Gebet erfahren“ oder „In der Schönheit der Natur zeigt sich die Größe Gottes“. Kurz zusammengefasst lässt sich die Strategie so skizzieren: Ich bin gerechtfertigt eine Erfahrung relativ zu meinen religiösen Überzeugungen als eine Erfahrung der Gegenwart Gottes zu deuten. Ich warte auf entsprechende Einwände gegen diese Deutung und suche in der Folge nach Argumenten, diese Einwände zurückzuweisen bzw. mindestens abzuschwächen. Solange mir das gelingt, kann ich an meiner Überzeugung, Gott erfahren zu haben, festhalten. Zu den Hauptvertretern dieses Ansatzes gehören Alvin Plantinga (1932), Nicholas Wolterstorff (1932) und William Alston (1921).

Der dritte Ansatz geht hingegen von einer allgemeinen Verständigungsgrundlage aus, die in gängigen Rationalitätsstandards für die Beurteilung wissenschaftlicher Hypothesen und Argumente zum Ausdruck kommt. Es ist insbesondere der Philosoph Richard Swinburne (1934), der diesen Ansatz entwickelt hat. Eine religiöse Deutung der Wirklichkeit stellt im Lichte von Rationalitätsstandards wie Konsistenz, Kohärenz, Integrationsfähigkeit neuer Entdeckungen in ein Modell usw. eine Erklärungshypothese der Wirklichkeit dar, die im Idealfall nicht-religiöse Erklärungsansätze an Erklärungskraft übertrifft. So lässt sich laut Swinburne dafür argumentieren, dass angesichts von Belegen wie die Komplexität und Ordnung des Universums, die Schönheit und Vielfalt der Natur, die Existenz (selbst)bewusster Lebewesen, Wundererfahrungen oder religiöser Erfahrungen die Annahme der Existenz eines allmächtigen, allwissenden und guten Schöpfergottes wahrscheinlicher ist als die Annahme, dass unsere Welt nur das zufällige Ergebnis blinder Naturkräfte sei. Ein solches Ergebnis ist attraktiv: Einer religiösen Person wird einerseits eine rational-theistische Alternative zu naturalistisch-atheistischen Welterklärungen angeboten, andererseits wird der Glaube aber nicht aufgehoben, da sich die Existenz Gottes nahelegt, aber nicht rationalistisch bewiesen werden kann.

Der Ansatz der reformierten Erkenntnistheorie und der Ansatz Swinburnes teilen trotz unterschiedlicher Vorgangsweisen die Annahme, dass eine rationale Rechtfertigung religiöser Überzeugungen nicht nur möglich, sondern unentbehrlich ist, wenn eine religiöse Weltdeutung als eine Möglichkeit rationaler Weltauffassung ernstgenommen werden soll. Beide Ansätze stehen somit auf je ihre Weise in der Tradition des „fides quaerens intellectum“, des nach Gründen suchenden Glaubens.

Es sollte deutlich geworden sein, dass Religionsphilosophie in diesen Ansätzen aus einer explizit religiösen Perspektive betrieben wird. Für manche Religionsphilosophen stellt dies allerdings ein Problem dar. Die Kritik lautet, dass eine positiv-apologetische Haltung zu etablierten Religionen, vornehmlich zum Christentum, im Vordergrund steht. Diese Haltung geht mit der Gefahr einher, kognitiven Verzerrungen wie einer methodischen Voreingenommenheit, Bestätigungsfehlern oder einer Überschätzung der Überzeugungskraft der dargelegten Theorien zu erliegen. Zudem wird durch diese Haltung das ganze Potential religionsphilosophischen Fragens nicht ausgeschöpft, da der Blick von vorne herein methodisch und inhaltlich vorgeprägt bzw. eingeengt ist. Das Bestreben religionsphilosophischer Forschung müsse hingegen sein, ein von religiösen Vorannahmen freies Nachdenken über Gott bzw. das Göttliche zu etablieren.

Eine solche Öffnung religionsphilosophischen Fragens ist auf jeden Fall zu begrüßen. Sie hält vermutlich weitere, derzeit noch weitgehend brachliegende Denkmöglichkeiten im Hinblick auf den Bereich der Transzendenz bereit. Sich über diese Möglichkeitsräume Gedanken zu ist Ausdruck der rationalen Natur unseres Menschseins, die sich in einem grundsätzlich unabgeschlossenen Fragehorizont äußert.


Dr. Georg Gasser ist derzeit Universitätsassistent am Institut für Christliche Philosophie, Universität Innsbruck, und beschäftigt sich hauptsächlich mit Fragen der Metaphysik, philosophischen Anthropologie und Religionsphilosophie. Zur Zeit leitet er das Projekt “Theistic Belief, Atheistic Belief and Standards of Rationality”. Er ist Herausgeber des European Journal for Philosophy of Religion und Schriftleiter Zeitschrift für Katholische Theologie (ZKTh).