Was ist sexuelle Intimität?
von Sascha Settegast (Trier)
Dass Sex eine ziemlich intime Angelegenheit sein kann, würde wohl kaum jemand bestreiten. Immerhin geben wir uns nur wenigen Menschen gegenüber auf diese Weise die Blöße, indem wir alle Hüllen fallen lassen und sie ganz an uns heranlassen. Intimität ist das Gegenteil von persönlicher Distanz. Sie entsteht, wo wir anderen gegenüber bestimmte Grenzen aufgeben und uns offenbaren, wie wir sind. Da Grenzziehungen auch immer dem Selbstschutz dienen, geht echte Intimität notgedrungen damit einher, dass wir uns angreifbar machen; sie ist ohne Bereitschaft zur eigenen Verletzlichkeit nicht zu haben. Intimität ist riskant und erfordert deshalb Vertrauen dem anderen gegenüber. Dies mag ein Grund sein, weshalb Intimität im Bereich des Sexuellen in der gesellschaftlichen Imagination wesentlich mit Liebesbeziehungen verbunden ist, als etwas, das im Rahmen einer festen und exklusiven Partnerschaft seinen natürlichen Ort hat.
Zugleich leben wir in einer Zeit, in der casual sex – Gelegenheitssex ohne tiefere oder längerfristige Bindung an den Sexualpartner – weitgehend akzeptiert ist und als etwas betrachtet wird, das auch unabhängig von einer derartigen Bindung seinen Wert hat. Denn Sex kann auch einfach nur Spaß machen. Die Unverbindlichkeit sexueller Beziehungen, die mit der sogenannten hookup culture einhergeht, sieht sich dabei oft dem Verdacht ausgesetzt, dass sie echte sexuelle Intimität unmöglich macht: Bei wechselnden Partnern, die man nach dem Akt vielleicht nie wieder sieht, welcher Raum bleibt da schon noch für ernstgemeinte Zwischenmenschlichkeit?
Der Verdacht verdankt seine Plausibilität dem vorherrschenden Bild von sexueller Intimität, das diese wesentlich an die romantische Vertrautheit zweier Menschen bindet, die in der gesellschaftlichen Imagination im Regelfall im sexuellen Kontakt gipfelt. Stellt man sich Intimität so vor, muss Sex ohne eine derartige Vertrautheit notgedrungen als ein eher unpersönlicher Austausch erscheinen, bei dem es primär um rein körperliche Befriedigung geht. Dass Intimität häufig so vorgestellt wird, ist nun nicht unbedingt überraschend, kommt sie doch in Liebesbeziehungen besonders deutlich zum Ausdruck. Es lässt sich jedoch fragen, ob dieses romantische Intimitätsverständnis, gerade aufgrund seiner Orientierung am vermeintlich paradigmatischen Fall, den Begriff nicht übermäßig verengt. Überspitzt ausgedrückt: Eine Sichtweise, die Intimität auf Duftkerzen, Rosenblüten und Champagner in der Badewanne reduziert, verstellt sich letztlich den Blick auf das eigentliche Phänomen, wie es uns ganz alltäglich begegnet.
Denn Intimität kann ganz unterschiedliche Formen und Ausmaße annehmen: Sie existiert auf dem gesamten Spektrum zwischen Nähe und Distanz. Wir kennen Vertrautheit nicht nur in Liebesbeziehungen, sondern auch in der Familie, in Freundschaften, unter Kollegen und Mitstreitern, in Gesprächen, und selbst mit den Mitarbeitern der kleinen Geschäfte und Cafés, die wir häufig besuchen. Sie liegt überall da vor, wo wir andere Menschen nicht als fremd, als unverständlich oder gar bedrohlich erfahren, sondern als uns ein stückweit ähnlich und gleich, als etwas, das wir kennen und vielleicht auch schätzen. In der Intimität ist, mit anderen Worten, die radikale Andersheit des Anderen zumindest partiell überwunden, weil wir etwas uns beiden Gemeinsames an ihm erkennen und uns zumindest teilweise mit ihm identifizieren können. Intimität bezeichnet damit letztlich eine besondere Art des Bewusstseins vom Anderen, in der das ‚Ich‘ nicht einem fremden ‚Du‘ gegenübersteht, sondern sich gemeinsam mit dem Anderen in einem ‚Wir‘ zusammenfasst. Sie findet in verschiedenen Ausmaßen und Formen überall dort statt, wo wir ‚wir‘ sagen können.
Unsere Fähigkeit zu einem derartigen Gemeinschaftsbewusstsein ist von zentraler Bedeutung für unser Dasein als politische Lebewesen. Denn im Unterschied zu anderen sozialen Lebewesen, die auch in Gruppen zusammenleben und ein mitunter funktional differenziertes, kooperatives Verhalten an den Tag legen, zeichnen wir uns als politische Lebewesen dadurch aus, dass wir auf Grundlage einer gemeinsamen Zielvorstellung handeln können. Mehr noch, wir können gemeinsam darüber nachdenken und miteinander beratschlagen, welche Ziele wir wählen sollten und wie sie am besten zu erreichen sind. Auf diese Weise sind wir in der Lage, unsere jeweiligen Handlungen miteinander zu koordinieren und sie effektiv als Phasen oder Teile einer Gesamthandlung zu betrachten, die über unseren eigenen Beitrag hinausreicht und deren Ausführender letztlich kein bestimmtes Individuum ist, sondern vielmehr die Gemeinschaft all derer, die an dieser Gesamthandlung beteiligt sind. Überall da, wo wir sagen, dass wir dies oder jenes tun, begreifen wir uns letztlich als Teil eines solchen kollektiven Akteurs. Dieses Vermögen zu kollektivem Handeln, das uns erst zu politischen Lebewesen macht, findet dabei schon Ausdruck in den alltäglichsten Dingen. Denn immerhin macht es einen Unterschied, ob wir zusammen spazieren gehen, d.h. uns auf Grundlage einer gemeinsamen Zielvorstellung fortbewegen, oder ob einer lediglich neben dem anderen hergeht, weil jeder für sich das Ziel verfolgt, von A nach B zu gelangen. Denn im zweiten Fall ist es nur Zufall, dass wir nah beieinander bleiben, da unser Spazierengehen jeweils unabhängig und separat voneinander stattfindet.
Unsere Sozialität ist demnach wesentlich durch ein Gemeinschaftsbewusstsein vermittelt, das darin besteht, dass wir uns über geteilte Zielvorstellungen wechselseitig miteinander identifizieren. Im Zuge dieser Identifikation erleben wir einander aber auch als ein stückweit ähnlich und gleich, nämlich insofern wir dieselben Ziele verfolgen und dieselben Dinge wertschätzen. Sozialität und Intimität gehen, anders ausgedrückt, im Fall des Menschen Hand in Hand. Dies lässt sich besonders eindringlich am Beispiel von Chören und Orchestern illustrieren, die kollektive Akteure par excellence sind. Wer im Chor singt oder im Orchester spielt, der arbeitet an einem gemeinsamen Projekt mit, nämlich der Aufführung eines bestimmten Musikstücks. Damit dieses Projekt gelingen kann, ist es notwendig, dass die Teilnehmer ihr Musizieren aufeinander abstimmen, d.h. darauf achten, was die anderen tun, um ihren jeweils eigenen Part nahtlos in das Gesamt zu integrieren. Es genügt folglich nicht, dass jeder einfach nur für sich den eigenen Part singt oder spielt, unabhängig davon, was die anderen tun. Vielmehr muss das eigene Musizieren als Beitrag zu einem weiterreichenden Prozess des Musikmachens verstanden werden, der über die einzelnen Musizierenden hinausreicht und dessen Ausführender letztlich der Chor oder das Orchester als ein Ganzes ist. Wir führen das Stück auf. Darin besteht unser gemeinsames Ziel, über das wir uns als ein kollektiver Akteur – als Chor oder Orchester – konstituieren, nämlich insofern dieses von uns allen geteilte Ziel ermöglicht, dass wir uns als Musizierende miteinander identifizieren, d.h. als Chor oder Orchester eine numerische Identität miteinander eingehen und so wortwörtlich eins werden. Der Umstand, dass wir dasselbe Ziel teilen, verschiebt mit anderen Worten für jeden der Beteiligten die Grenzen seines je eigenen Selbst und erweitert sie so, dass es auch die Selbste der jeweils anderen zumindest partiell miteinschließt, wodurch diese Selbste in materialer Hinsicht ein stückweit zur Deckung und Einheit miteinander kommen. Dieses Vermögen zur Erweiterung des Selbst ermöglicht letztlich die Transformation eines Ich und eines Du zu einem Wir, das nicht bloß eine Anhäufung einzelner Individuen, sondern eine tatsächliche Gemeinschaft ist.
Diese wechselseitige Identifikation der teilhabenden Individuen, ihre Einheit im Vollzug des von ihnen geteilten Ziels, geht nun damit einher, dass sie auf bestimmte Weise füreinander sichtbar werden: Sie erfahren sich als Menschen, die etwas gemeinsam haben, nämlich (in diesem Fall) eine Wertschätzung für Musik, welche sie motiviert, gemeinsam an den entsprechenden Zielen zu arbeiten. Bei einer solchen Wertschätzung handelt es sich nun aber gewiss um einen Bestandteil des konkreten Selbst bzw. der Persönlichkeit eines Menschen, um etwas, das seinen Charakter ein stückweit ausmacht. Unter Persönlichkeit können wir die jeweils konkrete Art und Weise verstehen, wie eine bestimmte Person normalerweise so ist, zu welchen Ansichten und Zielen sie tendiert, welche grundsätzlichen Überzeugungen sie über das Leben hat, darüber, was möglich und wichtig ist, was man erwarten kann und verdient, kurzum: wie diese Person die Welt und ihren Platz darin wahrnimmt und folglich grundsätzlich zum Handeln motiviert ist. Unsere Persönlichkeit stellt gewissermaßen die für uns als konkrete Individuen charakteristische Weise dar, wie wir in der Welt sind. In diesem Sinne prägt sie uns und findet Ausdruck in allem, was wir denken, fühlen und tun.
Dass die teilnehmenden Individuen durch ihr gemeinsames Spiel in ihrer jeweiligen Wertschätzung für Musik füreinander sichtbar werden, heißt also, dass sie sich in bestimmten Aspekten ihrer Persönlichkeit nicht als fremdartig und verschieden, sondern als ähnlich und gleich erleben. Mehr noch, jeder von ihnen verfolgt aufgrund seiner Wertschätzung dasselbe Ziel, zu dem auch die jeweils anderen ihren Beitrag leisten, weshalb zu dieser wechselseitigen Sichtbarkeit auch eine Wahrnehmung der jeweils anderen als wohlgesonnen und konstruktiv, nicht als feindlich oder destruktiv gehört. Hierauf gründet sich so etwas wie eine Art von Freundschaft innerhalb des Chors oder Orchesters, mag sie auch begrenzt sein auf das gemeinsame Musizieren. Vermittelt über ihre Wertschätzung für die gleichen Dinge und ihre gemeinsame Arbeit an demselben Projekt kommen die Teilnehmer mit anderen Worten dazu, auch einander in den relevanten Aspekten ihrer Persönlichkeit wertzuschätzen, d.h. als gut anzuerkennen. Für das einzelne Individuum geht dies mit einer Erfahrung der Bestätigung innerhalb der Gemeinschaft einher. Denn es erfährt im Spiegel der anderen, die dasselbe wollen und wertschätzen, letztlich Anerkennung für sein eigenes Wollen und Wertschätzen und erlebt sich dadurch in den relevanten Aspekten seiner Persönlichkeit selbst als gut und richtig. Indem wir unser jeweiliges Selbst erfolgreich zu einem Wir erweitern, verlieren wir folglich nicht unsere Individualität. Wir negieren nicht unser je eigenes Selbst zugunsten des Wir, sondern erfahren vielmehr eine grundsätzliche Affirmation unseres individuellen Selbst in seiner Gemeinschaft mit anderen.
Das erlebte Phänomen der Intimität besteht, so möchte ich behaupten, wesentlich in diesem wechselseitigen Sichtbar- und Anerkanntsein der je eigenen Persönlichkeit im Rahmen einer solchen Wir-Erfahrung. Intimität ist dabei etwas Graduelles, das ein mehr oder weniger zulässt, je nachdem, in welchem Umfang die verschiedenen Aspekte der eigenen Persönlichkeit positive Resonanz erfahren. Je größer die erlebte Intimität, desto größer daher auch das Gefühl der Bestätigung durch den jeweils anderen, das letztlich von seiner Affirmation unserer Persönlichkeit, d.h. unserer gemeinsamen Weise des In-der-Welt-Seins als fundamental gut und richtig herrührt. Denn diese Affirmation zeigt uns, dass das, was wir subjektiv für wichtig halten, auch eine Realität außerhalb unserer je eigenen Perspektive hat; dass die Welt für andere, zumindest ein stückweit, genauso ist wie für uns. Intimität gibt uns somit das Gefühl, nicht fremd, sondern heimisch in der Welt zu sein, wofür Simon May den glücklichen Ausdruck ‚ontological rootedness‘ – grob: existenzielle Verwurzelung – gefunden hat. Jede Erfahrung von Sinn im menschlichen Leben ist auf diese Weise durch unsere Partizipation an Gemeinschaften vermittelt, also daran gebunden, dass wir gemeinsam mit anderen an guten Dingen arbeiten und dadurch allererst die volle Möglichkeit und Wirklichkeit des Guten in der Welt erfahren.
Fragen wir nun nach dem Zusammenhang von Intimität und Sex, möchte ich behaupten, dass im Fall von Sex die Wir-Erfahrung nicht nur ein Nebenprodukt der gemeinsamen Arbeit an einem Ziel ist, sondern selbst das Ziel gemeinsamer sexueller Handlungen darstellt. Sex dient somit nicht allein oder primär der eigenen körperlichen Befriedigung, sondern bedient ein tieferes, psychisches Bedürfnis nach Anerkennung. Deutlich wird dies unter anderem daran, dass schon unsere Erfahrungen von sexueller Erregung und sexuellem Begehren keine rein körperlichen Erfahrungen sind, sondern eine wesentlich psychische Dimension aufweisen. Es handelt sich bei ihnen, mit anderen Worten, nicht um bloße Empfindungen wie etwa das Hungergefühl oder ein Jucken auf der Haut, sondern um emotionale Zustände, die auf einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst verweisen und uns diesen auf eine bestimmte Weise präsentieren. So bezieht sich etwa die Furcht stets auf einen Gegenstand, den sie uns als bedrohlich präsentiert. Wir fürchten uns vor Prüfungssituationen, Hunden, großen Höhen, oder vor der Wiederwahl Donald Trumps. In all diesen Fällen ist unsere emotionale Beziehung zu den Gegenständen der Furcht dabei stillschweigend durch Gedanken über diese Gegenstände vermittelt. Wir erleben den Hund als furchtsam und bedrohlich, weil wir denken, dass er uns beißen könnte, die große Höhe, weil wir es für möglich oder wahrscheinlich halten, herunterzufallen. Ähnlich verhält es sich nun auch bei Erfahrungen von sexueller Erregung und Begehren. Auch sie verweisen auf etwas außerhalb ihrer selbst: wir begehren jemanden, uns erregt etwas. Und auch hier ist unsere Beziehung zum Objekt der Begierde und Erregung stillschweigend durch Gedanken über dieses Objekt vermittelt, durch die Art und Weise, wie wir es auffassen, durch die Bedeutung, die es für uns hat.
In vielen, wenn auch vielleicht nicht in allen Fällen können wir die Gedanken und Bedeutungen, die unsere Gefühle prägen, auf Nachfrage artikulieren. Gerade im sexuellen Bereich ist es jedoch oft schwierig zu benennen, weshalb uns eine bestimmte Person, Situation oder Praktik erregt und eine andere nicht. Der Grund scheint mir darin zu liegen, dass Erregung und Begehren Gedanken und Bedeutungen reflektieren, die zum Grundgerüst unserer Persönlichkeit gehören: unsere fundamentalen Glaubenssätze über das Leben und unseren Platz in der Welt, die bestimmen, wie wir uns zur Welt verhalten und in ihr sind. Wir begehren im anderen letztlich das, was uns im Rahmen dieser unausgesprochenen Sicht auf das Leben wichtig und signifikant erscheint, nämlich insofern er es konkret verkörpert und damit wortwörtlich greifbar macht. Begehrt der andere als Repräsentant und Symbol dieser Dinge uns dann ebenfalls, bestätigt er damit, dass sie für uns grundsätzlich erreichbar und wir auch ihrer würdig sind. Im Vollzug des Aktes – im Prozess wechselseitiger Erregung und wechselseitigen Begehrens – entwickeln die Partner somit ein gemeinsames Bewusstsein voneinander, insofern sie nicht nur füreinander in den Grundfesten ihrer Persönlichkeit sichtbar werden, sondern einander und sich selbst auch als fundamental gut und richtig anerkennen. Dies ist möglich, weil der Akt selbst – die gemeinsame sexuelle Handlung – seiner Natur nach auf diese höchste Form der Intimität abzielt, d.h. auf eine wechselseitige Identifikation miteinander im Rahmen einer Wir-Erfahrung, die unsere gesamte Persönlichkeit, unsere gesamte Weise des In-der-Welt-Seins umschließt, und im Fall des Gelingens daher mit einer besonders prägnanten Erfahrung von ‚ontological rootedness‘ einhergeht.
Eine solche Resonanzerfahrung ist zumindest prinzipiell auch bei reinem Gelegenheitssex möglich, auch wenn dessen Intimitätsfähigkeit häufig bezweifelt wird. Denn im Vergleich zu romantischer Intimität, die durch ein gleichermaßen umfassendes Wir-Bewusstsein gekennzeichnet ist, besteht das Besondere an sexueller Intimität gerade in der schieren Leiblichkeit dieses Bewusstseins, in seiner sinnlichen Unmittelbarkeit, die zugleich seine Intensität ausmacht. Es ist die leibliche Präsenz des anderen, in der sich seine sexuelle Bedeutung für uns vorrangig erschließt. Fühlen wir uns zu jemandem körperlich hingezogen, ist es jedoch nicht bloß sein Körper an sich, den wir begehren. Denn in seinem Gesicht und seiner Haltung, in seiner Mimik und Gestik, in der Weise, wie er spricht, sich bewegt und verhält, wie er sich kleidet, pflegt und präsentiert, manifestiert sich immer auch seine Persönlichkeit, die Art und Weise, wie er in der Welt ist. Auch die spontane sexuelle Anziehung zwischen Menschen, die einander ansonsten kaum kennen, reflektiert demnach eine unterschwellige Resonanz ihrer Persönlichkeiten und eröffnet damit die Möglichkeit der wechselseitigen Identifikation und Affirmation im Rahmen einer leiblich gefassten und deshalb weitgehend impliziten Wir-Erfahrung.
Somit birgt auch Gelegenheitssex das Potential zu echter Intimität, mag diese auch vorübergehend und auf den Moment der Begegnung beschränkt sein. Ob dieses Potential realisiert wird, hängt letztlich von der Einstellung ab, mit der die Sexualpartner einander begegnen, davon, ob sie trotz ihrer Fremdheit füreinander und der Unverbindlichkeit ihrer Beziehung genuin aufrichtig, wohlwollend und respektvoll miteinander umgehen, statt den jeweils anderen nur für ihre je eigene Befriedigung zu benutzen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die verbreitete Auffassung, Sex ziele wesentlich auf rein körperliche Bedürfnisbefriedigung ab, als regelrecht sexualitätsfeindlich, da sie die Befriedigung des Partners leicht als Bürde erscheinen lassen kann, als eine Anstrengung, von der man selbst an sich nicht viel hat und die deshalb möglichst minimiert werden sollte. Gerade im Fall von Gelegenheitssex droht der Akt dann zu einem Tauschhandel zu werden, bei dem für jeden seine eigene Befriedigung im Vordergrund steht und eine echte Wir-Erfahrung ausbleibt. Insofern die gemeinsame Arbeit an einem geteilten Ziel auf beiden Seiten Aufrichtigkeit, Wohlwollen und Respekt erfordert, kann freilich aber auch das Gerüst einer verbindlichen und exklusiven Partnerschaft keine wirkliche Intimität bieten, wenn es nicht durch diese Charaktertugenden animiert wird.
Sascha Settegast ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für antike Philosophie (Prof. Benedikt Strobel) im Fach Philosophie der Universität Trier. Er promoviert derzeit über die Bedeutung des Naturbegriffs in der neo-aristotelischen Tugendethik.