Wie uns Emotionen den Sinn des Lebens zeigen

von Elke Elisabeth Schmidt (Universität Siegen)


Gibt es so etwas wie einen Sinn des Lebens? Wenn ja, worin besteht er, und ist dieser Sinn für alle Menschen der gleiche? Angesichts der zunehmenden Kritik metaphysisch geprägter Weltbilder durch naturalistische Strömungen wird diese Frage auch in der Philosophie immer öfter negativ oder zumindest stark relativierend beantwortet. Sinn habe keinen Platz in einer naturwissenschaftlich aufgeräumten Welt; er sei im besten Fall auf schlechte Weise subjektiv und nie Gegenstand rationaler und das heißt zureichend begründender Argumentation. Ob es so etwas wie einen objektiven, und das soll wohl heißen auf die eine oder andere Weise metaphysisch robusten Sinn gibt oder nicht, soll und kann hier nicht Diskussionsgegenstand sein. Zumindest lässt sich aber Folgendes in aller Kürze sagen: Es gibt Grund skeptisch zu sein. Ein universaler, für alle Menschen festgelegter Sinn des Lebens, oder einer, der zwar für einzelne Individuen, aber unabhängig von deren Wollen besteht, ist, um es behutsam und mit angemessener epistemischer Vorsicht zu sagen, ungewiss. Ich glaube nicht, dass es ihn gibt, aber Glauben ist nicht Wissen und ich bin nicht alle. Wir können uns jedenfalls nicht sicher sein, und so gesehen kann es nicht schaden, nach einer Sinnquelle zu fragen, die ohne Götter und absolute Moral (die zu befolgen manchem verheißungsvoll scheinen könnte) bestehen würde.

Betrachten wir dafür unser eigenes Leben: Was, subjektiv betrachtet, Sinn in unserem Leben stiftet, ist das, was uns etwas bedeutet. Und bei den Dingen, die uns etwas bedeuten, handelt es sich um bestimmte Personen (etwa Familie), Tätigkeiten (Philosophieren), Ideale (nicht allzu schlechtes Philosophieren), Gegenstände (Blumen), Handlungsweisen (Schlittschuhlaufen), Ideen (Gerechtigkeit), Zustände (Gesundheit) und vieles mehr. All diese (oder andere) Dinge bedeuten uns etwas, sie sind wichtig für uns; wir, wie Harry Frankfurt es ausdrücken würde, sorgen uns (im weiten Sinn) um sie.[i] Aus der Tatsache, dass mir mein Bruder oder die Philosophie etwas bedeuten, folgt dabei freilich weder, dass jedem Philosophie noch, dass jedem mein Bruder (oder auch nur der eigene Bruder) etwas bedeutet – insofern ist solche Bedeutung subjektiv oder eben personenrelativ. Und dennoch gilt: All diese für uns bedeutungsvollen Dinge prägen unser Leben, und wenn es gut für uns läuft, bauen wir unser Leben um diese bedeutsamen Dinge herum auf. So verleihen sie oder vielmehr wir selbst, indem wir uns an ihnen orientieren, unserem Leben (subjektiven) Sinn; wir sehen in diesen Dingen genuinen, nicht abgeleiteten Wert, der unser Handeln leitet (natürlich gibt es unzählige Objekte, die für uns von derivativer Bedeutung sind, und außerdem werden Mittel gerne zu Zwecken, wie Mill schon fand; aber dies soll uns hier nicht interessieren[ii]).

Wie kommt es aber, dass etwas für uns von genuiner Bedeutung ist? Dass etwas – sagen wir: eine Person – von Bedeutung für uns ist, erkennen wir etwa an der Freude, die wir empfinden, wenn wir sie sehen; daran, dass wir sie vermissen, wenn wir sie lange nicht gesehen haben; am Zorn, den wir empfinden, wenn jemand der Person Unrecht zufügt; an der sich einstellenden Angst, wenn sie sich in einer gefährlichen Lage befindet; an der sich anschließenden Erleichterung, wenn die Gefahr gebannt ist; an der Trauer im Falle des Todes sowie an unserer Bereitschaft, bestimmte Handlungen in bestimmten Situationen, in denen diese Person involviert ist, auszuführen. Bei den gerade genannten Indikatoren für Bedeutsamkeit (Freude, vermissen, Zorn, Angst, Erleichterung und Trauer) handelt es sich um objektbezogene Gefühle, oder, wie analytische PhilosophInnen lieber sagen, um Emotionen. Emotionen geben uns also zu erkennen, was uns etwas bedeutet, und mehr noch, sie konstituieren diese Bedeutsamkeit überhaupt erst, und sie bedingen auch die beschriebene Handlungsbereitschaft.

Was dabei wie eine unschöne Inkonsistenz anmutet (einerseits erkennen wir durch Emotionen Bedeutsamkeit, andererseits wird Bedeutsamkeit erst durch sie konstituiert), muss keine sein: Dass uns etwas überhaupt von Bedeutung ist, heißt, dass wir grundsätzlich die Disposition dazu haben, mit einem, wie Bennett Helm sagen würde, komplexen und wechselwirkenden Netz aus konkreten Emotionen auf dieses Objekt zu reagieren – keine Bedeutung ohne Netz, kein Netz ohne Bedeutung.[iii] In einer spezifischen Situation, in der wir aus dieser Disposition heraus dann eine konkrete Emotion, etwa Sorge, verspüren, erfahren wir dann über diese Emotion die Bedeutsamkeit auf eine bestimmte, phänomenal strukturierte Weise. Es bleibt also dabei: Würde uns nichts etwas bedeuten, verspürten wir keine Emotionen; verspürten wir keine Emotionen, würde uns nichts etwas genuin bedeuten.[iv] Denn was sollte es heißen, dass eine Person uns etwas bedeutet, wenn wir uns bei Gefahr nie um sie sorgten? Was würde es heißen, uns bedeutete eine Person etwas, auch wenn wir keine Erleichterung verspürten, wenn sie dem Tode knapp entkäme? Und umgekehrt gilt: Wenn etwas bedeutungslos für uns ist, dann berührt es uns emotional nicht, wenn diese Sache plötzlich nicht mehr für uns verfügbar ist.

Nun könnte man einwenden, dass es sehr wohl sein kann, dass etwas für mich von Bedeutung ist, auch wenn ich diesbezüglich nicht die entsprechenden Emotionen erfahre (oder womöglich gar widerstreitende). So kann jemand sagen, ihm bedeute globale Gerechtigkeit etwas oder gar viel, obgleich er wenig oder kein akutes Mitleid mit armen, kranken oder sonstwie leidenden Menschen in anderen Ländern empfindet, wenn er weiterhin wenig bis nichts dafür tut, um gerechtere Verhältnisse zu schaffen und seine freie Zeit lieber mit anderem verbringt. Doch hier ist ein genauerer Blick in zweierlei Hinsicht geboten. Zum einen können Urteile, deren Gegenstand einzelne Bedeutungssetzungen sind, irren (ich kann denken oder mir einreden, mir sei etwas wichtig, und damit schlicht falsch liegen), und zum anderen müssen (auch wenn es besser wäre) Bedeutungssetzungen nicht immer kohärent und widerspruchslos sein: Verspürt die betreffende Person tatsächlich nie eine Emotion (kein Bedauern, kein schlechtes Gewissen), wenn sie es einmal mehr nicht geschafft hat, Zeit für die Förderung globaler Gerechtigkeit zu finden, dann bedeutet ihr globale Gerechtigkeit tatsächlich nichts oder jedenfalls praktisch nichts (auch wenn sie sich anderes einreden mag). Verspürt diese Person aber Bedauern in solchen Fällen, hat sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie abermals keinen Einsatz gezeigt hat, dann bedeutet Gerechtigkeit ihr doch wenigstens etwas. Dass etwas Bedeutung für jemanden hat, ist also kein Garant dafür, dass er oder sie auch immer entsprechend handelt und nicht gelegentlich anderes vorzieht: Verschiedene Dinge, die uns etwas bedeuten, und die ihnen entsprechenden Emotionsnetze können miteinander in Konflikt stehen; etwa Familie und Karriere, Tierschutz und Fleischkonsum, Umweltschutz und Kaffeekapseln, globale Gerechtigkeit und Tennis spielen.

Ein sinnerfülltes Leben kann vor diesem Hintergrund mit zweierlei Schritten angestrebt werden. Erstens sollten wir daran arbeiten, ein kohärentes Bedeutungssystem zu entwickeln – denn natürlich können wir versuchen, unsere Emotionen rational zu beeinflussen und somit auch zu begründen, was uns etwas bedeutet: Wir können Argumente von Tierethikern nachvollziehen, um uns selbst davon zu überzeugen, unseren Fleischkonsum zu mäßigen, wir können diese Argumente mit anderen sowie der Schwere weiterer Bedeutsamkeiten vergleichen – aber solange wir ein Argument nur theoretisch für überzeugend halten, bedeutet der betreffende Inhalt uns nichts. Erst dann, wenn wir etwa Reue verspüren, sofern wir etwas tun, das uns zwar Genuss bereitet, von dem wir aber denken, dass wir es besser nicht tun sollten, erst dann kann von wirklicher Bedeutung oder ihrer Entstehung die Rede sein (die dann immer noch in Konflikt mit anderem stehen kann – und freilich können wir uns auch rationalerweise für den Genuss oder eben den Fleischkonsum entscheiden, solange wir kohärente Bedeutungssysteme entwickeln). Nochmals gesagt: Eine konkrete Emotion verspüren wir nur dann, wenn wir grundsätzlich die Disposition zu einem verzweigten Netz an Emotionen in Bezug auf das betreffende Objekt haben, das heißt, wenn dieses grundsätzlich Bedeutung für uns hat. Seien wir also aufmerksam in Bezug auf das, was wir fühlen: Auch unerwartet können uns Emotionen manchmal zeigen, was wirklich wichtig und somit sinnvoll für uns ist. Zweitens sollten wir versuchen, diesem persönlichen Bedeutungssystem entsprechend auch zu handeln und zu leben. – Beides wird uns vermutlich meist nicht oder nicht gänzlich gelingen. Aber: Je kohärenter unser Bedeutungssystem ist und je besser unser Leben zu diesem Bedeutungssystem passt, desto größer ist immerhin die Wahrscheinlichkeit, ein subjektiv sinnerfülltes, harmonisches Leben zu führen.


Elke Schmidt arbeitet an der Universität Siegen.


[i] Harry Frankfurt hat seine Theorie der Sorge (caring) an verschiedenen Stellen entwickelt und prägnant in The Reasons of Love (Princeton 2004) wiederholt. Seine Theorie weist bedeutende Unterschiede zum hier vorgestellten Ansatz auf.

[ii] John St. Mill, Utilitarianism (London 1863), Kapitel 4.

[iii] Bennet Helm (Emotional Reason. Deliberation, Motivation and the Nature of Value, Cambridge 2001) führt diese Theorie der Bedeutungssetzung durch Emotionsmuster auf überzeugende Weise aus. Ihm zufolge kann sich Bedeutsamkeit aber – im Prinzip und Einzelfall – auch allein über Urteile konstituieren; somit kann es nach Helm durchaus Bedeutsamkeit ohne Emotionen geben (in solchen Fällen liegt ihm zufolge aber eine fragmentierte Persönlichkeit vor). Die Möglichkeit der Bedeutungssetzung ohne Emotionen soll hier bestritten werden.

[iv] Es gibt (irrationale oder pathologische) Ausnahmefälle, in denen Emotionen in kein bedeutsamkeitskonstituierendes Emotionsnetz integriert sind.