Der Nagel hat es auf den Kopf getroffen.

von Birgit Beck (TU Berlin)


„Vorher aber möchte ich bemerken, daß ich von keinem der Dinge, die ich sagen werde, mit Sicherheit behaupte, daß es sich in jedem Fall so verhalte, wie ich sage, sondern daß ich über jedes einzelne nur nach dem, was mir jetzt erscheint, erzählend berichte.“[1]

Der Sinn des Lebens? Klar, 42! Damit könnte man sich achselzuckend von dieser Frage abwenden und sich dem Tagesgeschäft widmen. Allerdings läuft man dann Gefahr, von der Sinnfrage unversehens doch wieder eingeholt zu werden. Vielleicht nicht von der bis auf Weiteres wohl unbeantwortbaren großen Frage nach dem Sinn des Lebens, aber doch von allerlei kleinen und größeren Sinnlosigkeiten, mit denen man sich lebensweltlich herumschlagen und zu denen man sich irgendwie verhalten muss. Versteht man also die Frage ‒ eine Differenzierung von Ludwig Siep aufgreifend[2] ‒ eher so, dass nach dem Sinn im Leben gefragt wird, dann erscheint sie bereits wesentlich brisanter und man wird über kurz oder lang nicht darum herumkommen, sich damit auseinanderzusetzen.

Wenn alles gut geht, leben, lieben und arbeiten wir normalerweise vor uns hin, ohne dass uns die Sinnfrage behelligt. Wir wursteln uns irgendwie durch. Dennoch ist es nicht so, dass die Frage nach dem Sinn ausschließlich in Situationen auftreten kann, in denen uns eine wahrlich existentielle Entscheidung darüber abverlangt wird, was wir Sinnvolles mit unserem Leben anfangen möchten. Welchen Studiengang möchte ich belegen? Welchen Beruf ergreifen? Wo möchte ich leben? Möchte ich mich ernsthaft binden und eine Familie gründen? Wenn ja, mit welcher Person könnte ich ein derart verantwortungsvolles Unterfangen vertrauensvoll in Angriff nehmen?

Auch in ganz alltäglichen Situationen kann uns die Sinnfrage unverhofft überfallen. Thomas Nagel (ja genau, der aus dem Titel meines Beitrags) hat das Gefühl, das sich in solchen Momenten einstellt, in einem gleichnamigen Aufsatz als „das Absurde“ bezeichnet.[3] Die Wahrnehmung von Absurdität verdankt sich der menschlichen Fähigkeit, sich selbst aus einer distanzierten Perspektive zu betrachten, und oftmals einer Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Je höher unsere normativen und evaluativen Ansprüche an uns selbst, unsere Einstellungen, Handlungen, andere Personen und Institutionen sind, desto ausgeprägter kann im Enttäuschungsfall das Gefühl der Absurdität ausfallen. Wenn man einmal an dem Punkt angekommen ist, dass das verklärte Bild der Universität als Hort vergeistigter, moralisch untadeliger und vorbildlicher Gelehrter der harten Realität eines allzu menschlichen kompetitiven Business weichen muss, wenn man nach langen Jahren feststellt, dass man sich von einst vertrauten und engen Angehörigen oder Freunden in seinem Selbst- und Weltbild um Lichtjahre entfernt hat („Wir leben jetzt vegan.“ ‒ „Das ist verrückt!“), wenn man hinreichend philosophisch verbildet ist, um hinsichtlich aller konventionellen Selbstverständlichkeiten ein skeptisches Haar in der dogmatischen Suppe zu finden, dann kann sich das Gefühl der Absurdität sogar mit schöner Regelmäßigkeit einstellen. Man muss eigentlich nur täglich die Nachrichten verfolgen, um aus dem Kopfschütteln darüber, auf welche abstrusen Ideen Menschen als „vernunftbegabte“ Wesen verfallen, überhaupt nicht mehr herauszukommen. In solchen Situationen sind wir ‒ zumindest für den Moment ‒ außerstande, dem Geschehen einen verständlichen Sinn abzugewinnen, was schlimmstenfalls dazu führen kann, auch den „großen und ganzen“ Sinn unseres Lebens anzuzweifeln. Je wichtiger wir uns selbst, unsere Projekte, unser soziales privates wie berufliches Umfeld und generell das menschliche Treiben auf dieser Welt nehmen, umso bedrückender wirkt sich die uns zuweilen beschleichende Vermutung aus, dass von einer höheren Warte aus betrachtet ja doch alles beherzte Engagement umsonst sein könnte.

Welche Auswege gibt es aus der gefühlten Absurdität? Nagel selbst unterbreitet einige Vorschläge, die er jedoch allesamt zurückweist. Man könnte etwa den Sinn des eigenen kleinen Lebens im Dienst an einer „höheren“ Sache zu finden wähnen. Man mag sich einer Religion anschließen, einer politischen Bewegung, oder sein metaphysisches Heil in karitativen Aufgaben oder zumindest der tätigen Beförderung der Aufklärung durch die unzeitgemäße Verfolgung eines Humboldt’schen Bildungsideals suchen, mit dem Ziel, die „eigene Vollkommenheit“ (Kant) zu befördern und das in dogmatischem Schlummer dahindämmernde Auditorium in paternalistischer Manier aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit aufzurütteln. Etwas Sinnvolles muss man doch mit seinem Leben anstellen können! Wenn alles nichts hilft, kann man diesem Leben ein unzeitiges selbstgewähltes Ende setzen. Auch letztere Option weist Nagel ausdrücklich zurück. Ebenso die Abzweigung zum Existentialismus, die zunächst naheliegend erscheint. Vielleicht ist man bei der ersten Lektüre beeindruckt von der ebenso tragischen wie heroischen Willensstärke, mit der Denker vom Schlag eines Camus der alles überschattenden Absurdität durch die Glorifizierung des sinnlosen menschlichen Tuns und Trachtens zu trotzen vermögen. Mit zunehmender Reife und weiterentwickelter Reflexionsfähigkeit mag sich gleichwohl irgendwann der Verdacht einstellen: Sisyphos ist ein Trottel. Was also tun?

Möglicherweise lohnt es sich, Anleihen bei den antiken Ethikern zu nehmen, bei denen die Welt noch in Ordnung, weil der Kosmos hübsch geordnet war. Vielleicht bei den Stoikern? Wohl kaum, zu verkrampft. Oder bei den Epikureern? Schon eher, allerdings muss der Luxus, fernab alles politischen Tagesgeschehens mit den Freunden im Garten zu sitzen, exquisit frugal zu speisen und dabei zu philosophieren, heute wie damals als extrem elitär anmuten. Eine solche Bescheidenheit muss man sich erst einmal leisten können. Dann vielleicht lieber die goldene Mitte des Aristoteles. Der Tugendhafte weiß, wie er sich adäquat zu verhalten hat und findet durch diese gleichsam optimale Mittelmäßigkeit zum Glück (und möglicherweise auch zum Sinn). Wie auch immer, viele, vor allem auch heutige Philosoph*innen legen jedenfalls großes Gewicht darauf, dass ein gelingendes und sinnvolles Leben aktiv geführt werden muss. Auch dafür gibt es antike Vorbilder. Womöglich verhält es sich aber gar nicht so, dass fata nolentem trahunt, wie Seneca meinte, sondern im Gegenteil so, dass eine allzu feste und beständige Willensbildung und ideologische Überzeugungen uns volentes fatalerweise in halsstarrige Haltungen verstricken, bezüglich derer schon Sextus Empiricus als systematischster aller pyrrhonischen Skeptiker zu bedenken gab, dass sie einem sorgenfreien, von der „Meeresstille der Seele“ sanft eingehüllten Leben höchstwahrscheinlich nur abträglich sein können. Damit scheint er einen Punkt getroffen zu haben, den auch Nagel hervorhebt und als Lösung des vermeintlichen Problems der Sinnlosigkeit empfiehlt: Anstatt gegen die ignorante, sinnfreie Welt und die Absurdität zu rebellieren und unseren jeweiligen Stein nur umso verbissener weiter zu rollen, tun wir vielleicht gut daran, das Ganze ein wenig entspannter anzugehen und unsere ausweglos absurde Lage mit feiner Selbstironie als solche anzuerkennen. Und zudem den weisen Rat zu beherzigen, den mir eine früher in Salzburg lebende liebe Kollegin einmal mitgegeben hat: „Warum resignieren? Hilft eh nix!“


Birgit Beck ist Juniorprofessorin und Leiterin des Fachgebiets „Ethik und Technikphilosophie“ an der TU Berlin.


[1]    Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 93.

[2]    Vgl. Ludwig Siep: Was für ein Leben? Was für ein Sinn? In: Matthias Hoesch, Sebastian Muders, Markus Rüther (Hrsg.): Glück – Werte – Sinn. Metaethische, ethische und theologische Zugänge zur Frage nach dem guten Leben. De Gruyter, Berlin 2013, S. 91–107.

[3]    Thomas Nagel: Das Absurde. In: Ders.: Letzte Fragen. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2008, S. 29–44.