Ein sinnvoller Brückenbau. Viktor Frankl im Gespräch mit der gegenwärtigen Sinnphilosophie

von Roland Kipke (Eichstätt)

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der im Schwerpunkt „Das Schöne, Wahre und Gute. Das sinnvolle Leben in der Diskussion“ in der Zeitschrift für Praktische Philosophie erschienen ist.


Was macht ein sinnvolles Leben aus? Wie kann man sinnvoll leben? Worin können wir Sinn finden? Diese Fragen stellen sich nahezu jedem Menschen. Sie gelten im Allgemeinen sogar als zentrale philosophische Fragen, doch die akademische Philosophie entdeckt sie erst in den letzten Jahren wieder. In der Existenzanalyse und Logotherapie von Viktor E. Frankl hingegen stehen sie seit jeher im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der österreichische Psychiater hat eine eigene Sinntheorie entwickelt und sie zur Basis seiner psychotherapeutischen Arbeit gemacht.

Man könnte erwarten, dass die Autoren in den verschiedenen Sinn-Diskursen und ‑Traditionen aufeinander Bezug nehmen. Dass sie voneinander lernen oder sich zumindest aktiv voneinander abgrenzen, in jedem Fall aber im intellektuellen Austausch miteinander stehen. Doch so ist es nicht. In der philosophischen Sinn-Renaissance der letzten Jahre spielt Frankl bislang keine Rolle. Und umgekehrt nimmt die logotherapeutisch-existenzanalytische Schule kaum Notiz von eben diesem aktuellen Sinndiskurs in der Philosophie. Ein bedauerlicher Zustand: Die zwei Sinndiskurse verlaufen völlig unabhängig voneinander.

Diesen Zustand der Gesprächslosigkeit gilt es zu beenden und die beiden Diskurse miteinander in Kontakt zu bringen. Warum? Weil es unwahrscheinlich ist, dass bedeutende Einsichten zum sinnvollen Leben sich allein auf einer der beiden Seiten sammeln. Weil sich für die Frankl‘sche Lehre die Möglichkeit bietet, die Sinntheorie ihres Gründers an aktuellen Diskussionen zu schärfen und dadurch weiterzuentwickeln. Weil für die philosophischen Autoren die Chance besteht, ihre Theorien anhand einer der traditionsreichsten sinntheoretischen Strömungen zu vertiefen. Und weil es nicht zuletzt zum intellektuellen Ethos gehören sollte, das wahrzunehmen, was andere zum selben Thema gedacht haben.

Wie kann ein solches gegenseitiges Lernen aussehen? Vier Beispiele seien hier genannt: je zwei mögliche Einsichten und Lernmöglichkeiten für Frankls Sinntheorie auf der einen Seite und für die gegenwärtige philosophische Sinntheorie auf der anderen Seite.

1. Eine Lernmöglichkeit für Frankls Sinntheorie ist methodischer Art. Was immer man aus philosophischer Perspektive zum Inhalt dieser Theorie sagen mag, in jedem Fall ist ihr argumentativer Charakter suboptimal. Frankls Überzeugungen sind stark, doch seine Argumente sind oftmals schwach. Wenn er denn überhaupt welche vorbringt. Oftmals nämlich appelliert er lediglich an Intuitionen. Der „einfache Mann von der Straße“ wüsste das so. Nun spielen Intuitionen durchaus auch in der philosophischen Sinndebatte eine zentrale Rolle. Eine philosophisch-wissenschaftliche Vorgehensweise zeichnet sich jedoch dadurch aus, solche Intuitionen nicht einfach zu behaupten und hinzunehmen, sondern sie zu überprüfen. Das gilt umso mehr, als es ja nicht nur eine Intuition in Sachen Sinn gibt. Sonst gäbe es kaum Streit zwischen den verschiedenen Ansätzen. Die verschiedenen philosophischen Autoren, die übrigens zumeist analytisch geprägt sind, versuchen, die Intuitionen möglichst präzise herauszuarbeiten, sie kritisch abzuklopfen, ihre potenziellen Schwachstellen zu erkennen, sie anhand eventuell konkurrierender Intuitionen zu überprüfen und so reflektierte philosophische Positionen zu entwickeln. Das alles fehlt bei Frankl weitgehend. Hier kann sein Ansatz von dem argumentativen Niveau der philosophischen Debatte lernen. Mit einer stärker argumentativen Vorgehensweise dürfte sich die Logotherapie bzw. Existenzanalyse auch stärker zu einem fruchtbaren Austausch mit der Philosophie befähigen. Denn der mangelhafte argumentative Charakter dürfte auch einer der Gründe sein, warum Frankls Theorie vom philosophischen Ufer aus nicht wahrgenommen wird.

2. Eine zweite mögliche Einsicht für Frankls Sinntheorie betrifft die drei Wertkategorien. Die sind ein wesentliches Element seiner inhaltlichen Bestimmung sinnvollen Lebens. Sinn stiftet ihm zufolge der Bezug auf Werte, und von diesen gibt es drei verschiedene Arten: schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte. Mit den ersten beiden Wertkategorien, also der Sinnstiftung durch aktives Arbeiten und Hervorbringen von Wertvollem sowie seinem passiven Wahrnehmen und Erleben, kann Frankl gut an die philosophische Sinndebatte anknüpfen. Die besteht natürlich nicht in einer einheitlichen Sinntheorie, doch ist die Überzeugung verbreitet, dass Sinn durch das Erschaffen von objektiv Wertvollem, z.B. einem Kunstwerk oder einer wissenschaftlichen Theorie, und durch die erlebende Anteilnahme daran entsteht. Bei der dritten Wertkategorie hakt es allerdings, also bei der vermeintlichen Sinnstiftung durch eine bejahende Einstellung zu Leid und anderen Einschränkungen des Lebens. Dass eine solche Wertkategorie in der Philosophie heute kaum angenommen wird, spricht natürlich noch nicht gegen die Annahme. Gegen sie spricht vielmehr Frankls eigene Definition von Sinn, nämlich der Bezug auf Werte. Denn wenn jemand sein Leiden annimmt, bezieht er sich nicht auf etwas Wertvolles. Wenn jemand die Vernichtung seiner Familienangehörigen im Holocaust – so eines von Frankls eigenen Beispielen – zu akzeptieren lernt, kann das sicherlich eine Art Befreiung sein, ein Element des guten Lebens, vielleicht auch eine Voraussetzung für zukünftiges sinnvolles Tun, doch dass in dieser Akzeptanz selbst Sinn liegt, ist unplausibel. Zu erkennen, dass dies im Rahmen seiner eigenen Theorie so ist, dazu kann ein analytisch geschärfter Blick beitragen.

3. Wie gesagt, nicht nur Frankl kann von der gegenwärtigen Philosophie lernen, sondern diese auch von ihm. Neue Einsichten dürften vor allem die Art und Weise betreffen, wie wir Sinn entdecken und verwirklichen. Denn darauf hat Frankl besonderes Augenmerk gelegt. Dazu gehören die Gegebenheit und Individualität des Sinns. Sinn können wir nur verwirklichen, indem wir die konkreten Gegebenheiten ergreifen, die unser Leben bereithält. Auch eine willensstarke und originelle Person kann nur die Möglichkeiten ergreifen, die sich ihr in ihrem Leben bieten. Die lassen sich zwar ändern, aber auch dann existiert erneut ein bestimmtes Set an Lebensumständen mit einem so und so geformten Sinnpotential. Zwar würde kaum ein philosophischer Sinntheoretiker das bestreiten, oft aber gerät in ihren abstrakten Analysen dieses Charakteristikum sinnvollen Lebens in den Hintergrund. Das gilt auch für die Besonderheit des Sinns, die Frankl betont: Sinnvolles Handeln ist stets individuell wie ein Fingerabdruck, also abhängig von der jeweiligen Person und der Situation, in der sie sich befindet. Auch dieses Merkmal verschwindet tendenziell in den Bemühungen der heutigen Philosophen um eine möglichst allgemeingültige Bestimmung von Sinnhaftigkeit. Ihnen geht es um das, was Sinn dem Wesen nach ist. Sinn verwirklichen wir jedoch nicht nach einem universalen Rezept für sinnvolles Leben, sondern immer konkret jetzt und als diese konkrete Person mit bestimmten Fähigkeiten und Beziehungen.

4. Ein zweiter Aspekt, bei dem die Philosophie von Frankl lernen kann, ist die Verantwortung für den Sinn. In nahezu allen heutigen philosophischen Sinntheorien erscheint Sinnhaftigkeit als etwas, das ein Leben bereichert, als etwas Erstrebenswertes. Dem stimmt Frankl zu, doch geht er einen bedeutsamen Schritt weiter: Für ihn ist Sinn nicht nur ein willkommener Gewinn oder Vorteil, sondern etwas, für das wir Verantwortung haben. Wir dürfen und wollen nicht nur, sondern wir sollen Sinn verwirklichen. Für viele Philosophen dürfte das ein Schritt zu viel in das Feld des Normativen hinein sein. Möglicherweise klingt es nach einem göttlichen Auftrag – einer Idee, der die meisten Sinnphilosophen reserviert gegenüberstehen. Doch bei näherem Hinsehen ist die Annahme einer solchen Sinnverantwortung vielleicht plausibler als zunächst vermutet. Denn wäre die Entscheidung für sinnvolles oder nicht-sinnvolles Handeln nicht auch ein Sollen, erschiene es wie eine Frage des persönlichen Wohlergehens. Doch dass sich Sinn deutlich vom Glück unterscheidet, davon sind die meisten modernen Sinnphilosophen überzeugt. Und gerade wenn man davon ausgeht, dass Sinn (auch) durch die Verbindung mit etwas objektiv Wertvollem entsteht – eine Annahme, die die meisten Philosophen mit Frankl teilen –, liegt es nahe, dass zu seiner Verwirklichung eine Art Pflicht besteht. Insofern artikuliert Frankl etwas ausdrücklich, was in der philosophischen Sinntheorie nur implizit vorhanden ist. Dem gilt es weiter nachzugehen.

Wir sehen: Es lohnt sich, zwischen Frankl und der philosophischen Sinndebatte eine Brücke zu bauen. Von dem Austausch über diese Gesprächsbrücke können beide Seiten profitieren. Und damit jeder Mensch, der wissen will, wie sich ein sinnvolles Leben leben lässt.


Roland Kipke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Eichstätt an der Professur für Bioethik und im BMBF-Projekt „Der manipulierbare Embryo“. Sein jüngstes Buch „Jeder zählt. Was Demokratie ist und was sie sein soll“ ist 2018 bei Metzler erschienen.