Wer fragt nach dem Sinn des Lebens?
von Christian Thies (Passau)
Oft hört man die Ansicht, alle Menschen würden nach dem Sinn des Lebens fragen, sogar in allen Epochen und in allen Kulturen. Diese Auffassung halte ich für falsch.
Zwar ist es richtig, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens zu denen gehört, die Immanuel Kant im ersten Satz zur Vorrede der ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ beschreibt: Fragen, mit denen die menschliche Vernunft sich selbst belästigt, die sie nicht abweisen kann und die doch ohne Antwort bleiben müssen. Dabei werden sie nicht falsch gestellt – sie ergeben sich im Gegenteil mit einer gewissen gedanklichen Notwendigkeit –, aber wir überschreiten mit ihnen die Grenzen unserer kognitiven Kompetenzen. Solche Fragen gehören in die Metaphysik. Die klassischen Themen, die Kant im Blick hatte, waren Seele, Welt und Gott. Typische Fragen einer modernen Metaphysik sind „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ und „Was darf ich hoffen?“.
Allerdings hat Kant die sprachliche Verfasstheit unserer Vernunft ignoriert. Denn die interne Struktur unseres Geistes ist eng verwoben mit der Tiefengrammatik der menschlichen Sprachen. Neben Erkennen, Argumentieren und Urteilen, die sich ohnehin immer sprachlich ausdrücken müssen, gehört deshalb auch das Verstehen zu den anthropologischen Grundkompetenzen. Wie bei der Suche nach den ersten Ursachen, letzten Gründen und höchsten Werten schreitet die menschliche Vernunft im hermeneutischen Gebrauch immer weiter voran, um den tiefsten Sinn zu erfassen. Die entsprechende metaphysische Frage lautet deshalb „Was bedeutet das alles?“ oder „Was ist der Sinn des Ganzen?“.
Ich bestreite also nicht, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens in die Philosophie gehört, ja zentral für eine moderne Metaphysik ist (vgl. Thies, Der Sinn der Sinnfrage. Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage, Freiburg/München 2008). Aber die menschliche Vernunft gelangt zu metaphysischen Fragen erst nach großen Anstrengungen. Durch eine solche „Eiswüste der Abstraktion“ (Adorno) geht aber kaum jemand, weder jetzt noch früher.
Was die Vergangenheit betrifft, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Redeweise vom „Sinn des Lebens“ sich erst um die vorletzte Jahrhundertwende einbürgerte. Ja, es handelt sich fast um einen begriffshistorischen Zufall. (Auch viele andere wichtige Begriffe der deutschen philosophischen Fachsprache, sogar Disziplinbezeichnungen wie „Metaphysik“, „Erkenntnistheorie“ und „Angewandte Ethik“, sind suboptimal.) Denn das Syntagma „Sinn des Lebens“ taucht in der deutschen Sprache erstmals am Ende des 18. Jahrhundert auf, bezeichnenderweise in der frühen Romantik (Novalis, F. Schlegel, Schleiermacher). Bei den großen Philosophen des 19. Jahrhunderts konkurriert dieser Ausdruck dann mit mehreren anderen wie „Zweck des Lebens“ oder „Wert des Daseins“. Eines der erfolgreichsten populärwissenschaftlichen Bücher zu Beginn des 20. Jahrhunderts hieß noch „Der Sinn und Wert des Lebens“, geschrieben von Rudolf Eucken und publiziert 1908, im selben Jahr, in dem der Verfasser den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam. Zu Recht enthält der Buchtitel also auch die axiologische Komponente, denn die metaphysische Frage will das Ganze (nicht bloß das Lebendige) nicht nur verstehen, sondern darüber hinaus in seinem Wert begreifen. Allerdings setzt sich um 1900 die Formulierung vom „Sinn des Lebens“ durch, wahrscheinlich befördert durch populäre Tolstoi-Ausgaben. Die akademische Philosophie, vor allem in Deutschland, konnte sich mit dieser Ausdrucksweise nie anfreunden. Das beste Beispiel ist Martin Heidegger, dem es in seinem Hauptwerk zwar um den Sinn von Sein, aber nie, jedenfalls nie direkt, um den Sinn des Lebens ging. Die analytische Philosophie war, nachdem sie ihre dogmatische Anfangsphase überwunden hatte, in dieser Hinsicht offener (vgl. Fehige/Meggle/Wessels, Hg., Der Sinn des Lebens, München 2000).
Nun könnte man entgegnen, der Ausdruck „Sinn des Lebens“ sei zwar relativ jung, die Sache selbst aber uralt. Ein möglicher Kronzeuge ist Max Weber, der in seinen soziologischen Studien behauptet (vielleicht angeregt durch Nietzsche), alle Religionen seien inspiriert durch die Frage nach dem Sinn des Leidens, vor allem nach den Gründen seiner ungerechten Verteilung. Tatsächlich findet man dazu Ansätze in allen Hochkulturen; am bekanntesten ist die Hiob-Geschichte aus dem Alten Testament. Aber dominierend war die Sinnfrage nie; dies wird sie bestenfalls in der frühen Neuzeit, als die Theodizee-Problematik aufbricht. Wir müssen uns vor falschen Rückprojektionen hüten. Wie neuere Forschungen belegen, hat das, was wir als „Religion“ bezeichnen (ein ohnehin problematischer Sammelbegriff), sehr unterschiedliche Quellen: Religionen beruhen auf kognitiven Mechanismen, die überall menschenähnliche Subjekte vermuten lassen (Animismus); sie verarbeiten den ambivalenten Eindruck überwältigender Naturphänomene (das Numinose); sie erweitern die Möglichkeiten innerer Erfahrungen (Ekstase und Meditation); sie dienen dazu, eine kollektive Identität zu stabilisieren und verbindliche Normen zu legitimieren (soziale Integration). Die metaphysische Sinnfrage mag eine der Wurzeln der Religion sein, aber sicher nicht die einzige (vgl. Raters, Hg., Warum Religion?, Freiburg/München 2015).
Zudem wurde die Sinnfrage in den großen Religionen zwar beantwortet, aber nicht mit guten Argumenten. Stattdessen operieren diese mit Bildern, Geschichten und Leitfiguren, mit heiligen Texten und dogmatischen Wahrheiten. Man kann es so ausdrücken: Religionen, vor allem die monotheistischen Offenbarungsreligionen, sind „Sinn-Maschinen“, die so viel Sinn produzieren, dass man selbst gar nicht mehr tätig werden muss. Religiöse Menschen können sich metaphysische Fragen häufig ersparen, weil ihr Hintergrundverständnis mit massiven Sinnunterstellungen angereichert ist. Vielleicht ist die Frage nach dem Sinn des Lebens nur eine „Pathosformel“, in der die großen Religionen nach ihrem Untergang weiterleben, so wie antike Motive in der neuzeitlichen Kunst. Obwohl die metaphysische Sinnfrage sich aus der Architektur der menschlichen Vernunft ergibt, bewegt sie die Menschen nur einer begrenzten historischen Phase.
Denn wie sieht es in der Gegenwart aus? In der akademischen Philosophie steht die Frage nach dem Sinn des Lebens weiterhin nicht hoch im Kurs; ohnehin wird unter dem Disziplinnamen der Metaphysik eher analytische regionale Ontologie betrieben. Aber auch wenn Menschen in nicht-akademischen Kreisen die Sinnfrage stellen, ist diese meistens nicht metaphysisch ausgerichtet (auf den Sinn des Ganzen), sondern ethisch (als Variante der Frage nach dem gelungenen Leben). Vor allem findet sie sich in einer egozentrischen Version: Was ist der Sinn meines Lebens? Das entspricht ganz unserer individualistischen Kultur mit ihren entsprechenden normativen Prinzipien.
Aber selbst diese verkürzte Sinn-Frage wird selten gestellt. Beispielhaft ist unser Umgang mit dem Tod, der immer eine Quelle metaphysischer Reflexionen war. Insbesondere in der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts, vor allem bei Heidegger und Sartre, wurde darüber nachgedacht. Aber auch diese philosophische Strömung, die eine Art Fortsetzung der Metaphysik auf subjektivistischer Grundlage war, hat sich überlebt. In unserer Gesellschaft wird der Tod durchaus ernst genommen; keiner macht darüber seine Witze. Aber das Alltagsleben bestimmt er nicht; die Todesfurcht wird weitgehend beiseite geschoben; man lebt mit einer Unsterblichkeitsillusion (vgl. Birnbacher, Tod, Berlin/Boston 2017, Kap. 6). Fast völlig verschwunden ist die bei Kant noch gewichtige Frage, ob es eine individuelle Fortexistenz nach dem Tode gebe. So wie wir nicht ständig an den Tod denken, werden auch andere metaphysische Probleme verdrängt, etwa die Disharmonie von Moral und Glück (metaphysische Gerechtigkeit) und die Frage nach dem Ende aller Dinge (philosophische Eschatologie).
Zwar ist jeder Mensch potenziell ein Philosoph, aber eben nur potenziell und keineswegs immer. Die Vernunft belästigt die meisten Menschen nicht mit ihren großen Fragen. Das muss man nicht kulturkritisch als Nihilismus oder sozialkritisch als Verdinglichung interpretieren, vielleicht sogar eher als gesunde Distanz zur Metaphysik. Philosophie ist eben ein Minderheiten-Programm, erst recht eine mit wissenschaftlicher Genauigkeit und spekulativem Ernst betriebene Metaphysik.
Christian Thies ist Professor für Philosophie an der Universität Passau. Die Schwerpunkte von Prof. Thies liegen im Bereich der Praktischen Philosophie (Allgemeine Ethik, Angewandte Ethik, Politische Philosophie u. a.). Hinzu kommen Disziplinen wie die philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie. Sein historischer Schwerpunkt ist die klassische deutsche Philosophie seit Kant.