Der neue SWIP Good Practice Guide „Vereinbarkeit“ – Teil 1

von Almut von Wedelstaedt (Bielefeld), Christiana Werner (Duisburg-Essen), Christine Bratu (Göttingen) und Katharina Naumann (Magdeburg)


Die Herstellung von Vereinbarkeit wird heute als fester Bestandteil moderner Familienpolitik verstan­den und auch in den Hochschulen ist das Thema längst angekommen. Es findet sich in den meisten Leitbildern deutscher Hochschulen, die überdies mittlerweile reihenweise als familienfreundlich zertifiziert sind. Diese Selbstverpflichtungen betreffen zwar nicht allein Vereinbarkeitsprobleme der an Hochschulen akademisch tätigen Personen, aber gerade hier scheinen die Probleme nach wie vor gravierend zu sein und sich allzu leichten Lösungen zu entziehen. Vor allem lassen sich diese Probleme sicherlich nicht allein auf Leitungsebene lösen, sondern müssen in der Breite angegangen werden – das heißt auch innerhalb Philosophischer Institute. Wie kann man dort also für Verbesserungen sorgen und warum muss man das überhaupt noch? Einige Ideen und Vorschläge dazu liefert der neue Best Practice Guide „Vereinbarkeit“ der Society for Women in Philosophy Germany e.V. Ehe wir diese im zweiten Teil vorstellen, wird es hier aber zunächst um ganz grundlegende Fragen danach gehen, was wir unter Vereinbarkeit verstehen und wo wir momentan Probleme sehen.

Vereinbarkeit – Vorbemerkungen zum neuen Guide

Der Guide ist das Ergebnis einer Arbeitsgruppe, die SWIP Germany e.V. im Jahr 2022 eingerichtet hatte, und wurde durch Vorschläge ergänzt, die das Plenum der 9. SWIP Jahrestagung eingebracht hat (die im November 2022 Göttingen unter dem Titel “der 48-Stunden-Tag in Akademia: (Un)Vereinbarkeit von Sorgearbeit und professioneller Philosophie” stattgefunden hat). Der Guide adressiert primär Personen, die an Philosophieinstituten Personalverantwortung haben. Das Ziel ist u.a., für die besonderen Herausforderungen zu sensibilisieren, vor denen Personen mit Sorgeverantwortung im akademischen Alltag stehen, wobei insbesondere auf die Situation von an der Universität als Wissenschafler:innen Beschäftigten mit Sorgeverantwortung eingegangen wird.

Dabei sollen die aufgeführten Problemdiagnosen und Vorschläge nicht als vollständig und abgeschlossen missverstanden werden, sondern vielmehr als ein Debattenaufschlag. Über weitere Ideen – dazu, was wieso falsch läuft, und dazu, was die akademische Gemeinschaft wie besser machen könnte, welche Ergänzungen aus Sicht der speziellen Situation von Studierenden notwendig sind – freuen wir uns jederzeit unter swipgermany@gmail.com oder auch in Form eines Beitrag zum hiermit startenden Themenschwerpunkt auf prae|faktisch. 

Uns ist bewusst, dass Sorgeverantwortung nur ein Faktor ist, der es Personen erschweren kann, in Akademia erfolgreich Fuß zu fassen – leider gibt es auch andere wie etwa Behinderung oder Minderheitenstatus (hinsichtlich zugeschriebenen Geschlechts, sozioökonomischen Hintergrunds, unterstellter “Bildungsnähe” oder “-ferne” etc.). Ein Guide wie dieser kann sich nur mit einem dieser Faktoren beschäftigen, doch dies bedeutet nicht, dass andere Hürden nicht ebenfalls wichtig sind und von der akademischen Gemeinschaft kollektiv beseitigt werden müssen.

Vereinbarkeit – was meinen wir damit?

SWIP Germany e.V. spricht sich für den folgenden weiten Vereinbarkeitsbegriff aus: Vereinbarkeit soll geschaffen werden für alle Personen, die Sorgearbeit für Angehörige wie bspw. Kinder, kranke Partner:innen, Eltern o.ä. leisten. Als Angehörige verstehen wir explizit nicht nur Verwandte, sondern auch solche Personen, mit denen man in einem gemeinsamen Haushalt lebt oder aufgrund anderer sozialer Arrangements häufig interagiert. Vereinbarkeit ist dann hergestellt, wenn es den (im obigen Sinne) Sorgeleistenden möglich ist, sich ausreichend gut um ihre Angehörigen zu kümmern und gleichzeitig ausreichend gut am universitären Leben teilzunehmen. Besonders für Personen in der Qualifikationsphase darf die Mehrbelastung durch Sorgearbeit keine unfaire Hürde darstellen.

Vereinbarkeitsprobleme ergeben sich dabei auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Hinsichten, die allesamt damit zusammenhängen, was es heißt, Sorgearbeit zu leisten. Zuvorderst ist dabei an zeitliche Faktoren zu denken. Sorgearbeit ist zeitintensiv, so dass Menschen mit entsprechender Verantwortung oftmals weniger Arbeitszeit zur Verfügung haben als solche, die (aus Leidenschaft für das Fach oder wegen des hohen Konkurrenzdrucks) große Teile ihrer Zeit in ihre akademische Arbeit investieren. Denn Sorgeleistende können nur dann akademisch arbeiten, wenn die abhängigen Angehörigen anderweitig betreut sind. Damit geht zudem eine zeitliche Bindung einher: Der Zeitpunkt der Arbeitszeit ist nicht flexibel wählbar, sondern hängt von der Betreuungssituation ab. Das Risiko kurzfristig auszufallen ist höher, etwa wenn ein Kind erkrankt o.ä.

Darüber hinaus ist Sorgearbeit in der Regel räumlich gebunden und erfordert physische Präsenz. Mobilität ist nur mit viel Aufwand oder gar nicht zu organisieren. Neben den zeitlichen und räumlichen Faktoren stellt Sorgeverantwortung darüber hinaus eine kognitive, emotionale und finanzielle Mehrbelastung dar. Denn Sorgeleistende müssen sich nicht nur um ihre akademischen Karrieren, sondern auch um die abhängigen Angehörigen kümmern. Das geht nicht selten mit einer höheren Risikoaversität einher, weil Sorgeleistende eben nicht nur für sich selbst sorgen müssen. 

Vereinbarkeit – warum ist das ein Problem?

Was können diese Implikationen im akademischen Kontext für Folgen haben? Sorgeleistende entsprechen oft nicht dem Idealbild der Wissenschaftler:in, die völlig in ihrem Fach aufgeht, immer bereit und in der Lage ist, 100 (oder auch 110 oder 150) Prozent zu geben, und nur für die Wissenschaft lebt. Ausgehend von diesem (an sich problematischen) Ideal kann es so aussehen, als wären Sorgeleistende wenig engagiert und würden ständig Ausnahmen und Sonderregelungen beanspruchen. Diesen (falschen) Eindruck zu erwecken ist für Sorgeleistende besonders riskant, weil sie in erhöhtem Maße darauf angewiesen sind, dass ihre Kolleg:innen bzw. (im Fall von Studierenden) ihre Lehrenden ihre besonderen Bedürfnisse (etwa bei der Terminfindung, der Festlegung von Abgabefristen oder Leistungsanforderungen etc.) berücksichtigen. Für Personen in der Qualifikationsphase besteht zudem das zusätzliche Risiko, nicht als verlässliche Kooperationspartner:innen angesehen und deswegen nicht ausreichend gefördert zu werden. 

Sorgeleistende haben meist (zumindest phasenweise) geringeren Publikationsoutput. Ebenso haben sie oft (zumindest phasenweise) weniger Möglichkeiten zum Networking. Beides ist für sich genommen hinderlich für akademische Karrieren. Beides führt zudem zu weniger Sichtbarkeit, was wiederum dazu führen kann, dass die Betroffenen weniger Gelegenheiten zum Publizieren oder Networking erhalten, weil sie nicht als Expert:innen bekannt sind und nicht als solche angefragt werden. 

Vereinbarkeit – und wie geht es weiter?

Vereinbarkeit herzustellen hieße, diese Dinge zu berücksichtigen und sie nicht zum Ausschlusskriterium wissenschaftlicher Karrieren werden zu lassen. Das ist in der Praxis oftmals leider nicht der Fall, daran haben Zertifizierungen bisher nur wenig geändert. Und hierin dürfte wenigstens auch ein Grund für den nach wie vor geringen Frauenanteil in unserem Fach liegen. Dieser ist aber nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern führt zu weniger Diversität an Philosophieinstituten und somit auch zu einem Qualitätsverlust in Forschung und Lehre.

Was können wir also tun? Wie können wir einen Bewusstseinswandel herbeiführen, der die oftmals impliziten Erwartungen sowohl an Akademiker:innen als auch an Sorgeleistende offen legt und deren Situation Rechnung trägt? Wie können wir nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen einen Beitrag zur Lösung struktureller Probleme leisten – von Terminfindung über Aufgabenverteilung bis hin zur Infrastruktur? Und wie können wir schließlich Karrierewege neu denken, so dass sie allen offenstehen? Darum wird es im zweiten Teil der Vorstellung des Guides gehen. Wer aber jetzt schon neugierig ist, findet den kompletten Guide unter: https://swip-philosophinnen.org/good-practice-guide/


Almut von Wedelstaedt, Christiana Werner, Christine Bratu und Katharina Naumann sind als Philosophinnen an den Universitäten Bielefeld, Duisburg-Essen, Göttingen und Magdeburg tätig und engagieren sich gemeinsam in der SWIP AG Vereinbarkeit.