Der Riss zwischen Leben, Arbeit, Nachdenken – und Akademie. Ein Lamento.

Von Teresa Geisler


Ich habe keine Kinder und ich habe keine Hobbies. Das ist schon mal gut, wenn man den Wunsch hat, Wissenschaft als Beruf zu betreiben. Leider habe ich Interessen und Leidenschaften. Das ist nicht so gut.

Denn für mich als Promotionsstudentin der Philosophie stellt sich die Lage des Wissenschaftlers im Augenblick als ein unglückliches Spannungsverhältnis zwischen Zeit und Geld dar: Wer eine feste Stelle in der Akademie hat und somit Geld, ertrinkt meist in Arbeit, so dass neben Verwaltung, Politik, Gremienarbeit und Antragsprosa oft bereits kaum Zeit für das Kerngeschäft Lehre und Forschung bleibt, ganz zu schweigen davon, Dinge neu und anders zu denken. Wer keine feste Stelle hat, sondern zwischen Hartz4 und Wohngeld, mehr oder weniger ehrenamtlichen Lehraufträgen und unbezahlten Publikationen, versucht, Wissenschaft zu betreiben und die Zeit hat, dem fehlt das Geld zum Leben – und für die Wissenschaft. Denn wenn man nicht institutionell angestellt ist, dann kann man sich Wissenschaft eigentlich nicht leisten. Anders als in der Kunst gibt es in der Wissenschaft kaum Projektförderungen für Personen, die nicht an den akademischen Betrieb angebunden sind, und das Zeigen und Diskutieren der eigenen Arbeit auf Tagungen und Konferenzen oder das Veröffentlichen von Monografien, in Journalen oder Sammelbänden kostet öfter Geld, als dass das es etwas einbringt. Dabei ist die kostspielige Arbeit die Voraussetzung für die Teilnahme am akademischen Arbeitsmarkt, die man sich aber eigentlich nur leisten kann, wenn man eine Stelle hat, die vergütet wird. Das ist ein Problem unter dem schließlich auch die Wissenschaft leidet, weil die Zeit oder das Geld zum Nachdenken fehlt.

Und dann ist da noch das sogenannte Leben, für dessen Genuss und Kultivierung im endlosen Stundenplan unerledigter Verrichtungen nur wenig Platz ist. Das aber zumindest für mich als Phänomenologin eine Grundlage für die philosophische Arbeit ist. Wie soll ich über Leidenschaft und Liebe, über Schmerz und Ästhetik, über Leib und Körper, Gemeinschaft und Gesellschaft nachdenken, wenn die Entität, die ich am häufigsten berühre, mein Computer ist und ich die meiste Zeit mit seinem E-Mail-Programm verbringe? Um über Ästhetik zu schreiben, muss ich doch ästhetische Erfahrungen machen und die Energie dafür aufbringen; um über Leidenschaft zu schreiben, ist es wichtig, den inneren und äußeren Raum zu haben, diese zu erleben; um das Wesen des Dialoges auszuloten, muss ich offen für ihn sein und nicht gefangen im inneren Monolog meiner to-do-Liste. Ich muss mich der Welt und dem Leben hingeben, um darüber nachdenken und schreiben zu können! Gerade das scheint mir aber durch die gegenwärtige Struktur der Überforderung in der akademischen Welt zwischen Institutsverwaltung, Lehre, Publikationsdruck, Projektmanagement und Antragsprosa beinahe verunmöglicht zu werden.

Aber es werden doch immer noch lebensweltliche Themen in der akademischen Philosophie behandelt, mag man einwenden: Wanderinnen schreiben über die Innigkeit der Naturerfahrung, Yogis über die Ichauflösung und passionierte Schaukler über die Lebenskunst des Auf und Ab. Spricht das nicht für die innige Verbindung zwischen Arbeit und Leben, die doch oft so fruchtbar ist für beides? Mir kommt manchmal so vor, als zeige sich hier nicht nur, dass Arbeit und Leben ein und dasselbe sind, sondern auch, dass wir so benommen vom Alltag sind, dass uns gar nichts anderes übrig bleibt, als diesen nicht nur für die eigene PR auf Twitter, sondern auch für die Wissenschaft auszubeuten. Statt einem Zuwerfen, einer Hingabe an die Existenz, statt Liebe zur Welt, scheint mir auch die philosophische Ausdeutung der eigenen Steckenpferde manchmal eher die Ausbeutung der persönlichen Erfahrung zu sein. Und das sollten wir nicht müssen; ganz abgesehen davon, dass es natürlich auch den Blick verändert, wenn wir das, was uns zustößt, immer schon unter der Perspektive des Verwertbaren betrachten. 

Ganz neu ist das ist das nicht. Bereits Max Weber spricht davon, dass in Deutschland im Gegensatz zum bürokratischen System in Amerika die Laufbahn „eines Mannes der Wissenschaft im ganzen auf plutokratischen Voraussetzungen aufgebaut ist. Denn es ist außerordentlich gewagt für einen jungen Gelehrten, der keinerlei Vermögen hat, überhaupt den Bedingungen der akademischen Laufbahn sich auszusetzen. Er muss es mindestens eine Anzahl Jahre aushalten können, ohne irgendwie zu wissen, ob er nachher die Chancen hat, einzurücken in eine Stellung, die für den Unterhalt ausreicht.“[1] Schlimm genug, dass sich bei all den Diskursen über Privilegien und Chancengleichheit daran bis heute kaum etwas geändert hat! Aber mir scheint, dass zumindest in mancher Hinsicht noch eine Verschärfung stattfindet, denn die Wissenschaft scheint sich gegen außerakademische Zugänge zunehmend abzuriegeln. So werden beispielsweise die Produktionsbedingungen, Wissenschaft zu machen, immer enger an die bezahlte Anstellung in der Akademie geknüpft: Um Anträge zu stellen, muss man oft einer Universität zugehören (im Kunstbereich beispielsweise undenkbar), bei Vorträgen auf Tagungen werden oft nicht einmal die Reisekosten übernommen, umgekehrt werden die Tagungsbeiträge immer höher, für die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Monografien müssen meist Druckkostenzuschüsse gezahlt werden und auch für Publikationen sind Bezahl-Modelle im Gespräch. Das alles kann man sich eigentlich nur mit einem Professorengehalt leisten oder wenn man an ein Institut angebunden ist, das diese Ausgaben übernimmt.

Diese Zentrierung der Wissenschaft um die Akademie lässt sich jedoch kaum durch die Sache begründen. Denn gerade in der Philosophie gab es ja viele große Denker und Denkerinnen (auch wenn letztere leider nur wenig Einzug in den philosophischen Kanon gefunden haben), die nicht wie Kant eine Universitätskarriere durchlaufen haben und dadurch vielleicht freier, aber nicht weniger tief gedacht haben; z.B. Montaigne, Descartes, Cavendish, du Châtelet, Hume oder Kierkegaard, um nur einige zu nennen. Nun hatten diese durch Erbe, Ehe oder Land entweder Privatvermögen oder großzügige Sponsoren, die ihnen das freie Leben und Denken ermöglichten. Privatiers gibt es in Deutschland zwar über 800 000, aber seltsamerweise scheinen die heutzutage kein großes Interesse an der Philosophie zu haben. Das Mäzenatentum existiert ja leider auch nicht mehr, so dass dem, der nicht das Glück hat, eine der heißbegehrten Stellen zu ergattern, wenig anderes übrigbleibt als wie Alfred Schütz Bankier bei Tag und Philosoph in der Nacht zu sein – oder die philosophische Arbeit durch Veröffentlichungen im Ullstein Verlag und durch mediale Präsenz in einschlägigen Formaten zu monetarisieren. Aber auch diese Strategie hat ihre Risiken, denn zur Philosophie gehört der Dialog und mir kommt es so vor, als entwickle die akademische Philosophie, die sich als Wissenschaft versteht, zunehmend ein Distinktionsbedürfnis zur nichtakademischen Philosophie, die manchmal grundsätzlich abschätzig oder als irgendwie anrüchig betrachtet wird und deren Arbeit im wissenschaftlichen Diskurs oft gar nicht mehr berücksichtigt wird, während ein lückenloser Lebenslauf im Dienste der Akademie immer wichtiger für eine Anstellung in der Akademie wird. Kaum vorstellbar, dass noch vor ein paar Jahrzehnten Querulanten wie Popper, Luhmann oder Schütz wissenschaftliche Diskurse prägten, bevor sie eine Anstellung im akademischen Betrieb ergattern konnten!

Und nun? Was tun? Offenbar ist dieser Text mehr Lamento als konstruktiver Vorschlag. Aber man könnte damit beginnen, die Zeitknappheit im akademischen Betrieb als ein strukturelles Problem ernst zu nehmen und nicht als Überforderung Einzelner zu betrachten. Man könnte mehr Teilzeitstellen schaffen, den Mittelbau stärken und das System „hoch oder raus“, das Weber schon kritisiert, endlich abschaffen und nicht unter dem fragwürdigen Diktum der Exzellenz weiter reproduzieren. Man könnte, analog zur Kunst und Kulturförderung in Deutschland, eine Förderstruktur auch für Wissenschaft entwickeln, die sich nicht nur auf die Universitäten bezieht und auch Projektanträge von außerhalb zu lässt. Dabei könnte weniger Dünkel und mehr Dialog zwischen akademischer und nichtakademischer Philosophie helfen –  z.B. in puncto Wissenschaftskommunikation, die den Universitäten ja aktuell ein großes Anliegen ist. Wenn sich die Institute mehr Wissenschaftskommunikation wünschen, warum bemühen sie sich dann nicht um eine Anbindung zu den Formaten, die es schon gibt, wie der Sternstunde Philosophie im SRF oder Sein und Streit im Deutschlandfunk beispielsweise?

Mir fiele noch einiges ein, doch für heute reicht es. Genug lamentiert. Überhaupt: Ich mag den Elfenbeinturm der Akademie. Aber ich will nicht, dass er zum Gefängnis wird.


Teresa Geisler studierte Philosophie, Psychologie und Dramaturgie in München und Berlin und promoviert an der Technischen Universität Berlin über „Schmerzlust – ein Versuch zu verstehen“. 


[1] Max Weber 2002: Wissenschaft als Beruf, S. 475 In: Schriften 1894-1922, Hrsg. v. Kaesler. Stuttgart: Kröner