It’s the structure, stupid! – Ein persönlicher Erfahrungsbericht zur Vereinbarkeit von Academia, anderen Arbeitsbereichen und Care-Aufgaben

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Von Bettina Bohle


Ich hänge nur noch am Zipfel des Wissenschaftssystems. Eine Vereinbarkeitsfrage stellt sich mir – als Mutter und mit mehreren Leuten in meinem engen Umfeld, die mit psychischen Krankheiten kämpfen – von einer äußeren Warte, die teils so weit weg vom sog. Wissenschaftsbetrieb entfernt ist, dass ich gar nicht mehr recht weiß, ob es überhaupt noch als Perspektive auf Academia zählt. Aber ich habe knapp 20 Jahre dort verbracht, erst 6 als Studentin, dann 6 als Doktorandin und schließlich rund 7 als PostDoc oder „Nachwuchs“-Wissenschaftlerin. Nun bin ich Lehrbeauftragte an zwei verschiedenen Unis, bewerbe mich sporadisch auf Stellen, habe einen festen Job im Kulturmanagement außerhalb der Uni. Und weiß nicht, ob ich noch mal einen Anlauf nehmen soll, mehr in dieses System Uni hineinzukommen. Ob es sich lohnt. Ob es nicht besser so ist.

Denn die Uni konnte, so schien es mir, mit meiner Art zu denken, meinem wachsenden Wunsch, mich auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu betätigen, nicht nur auf ein Pferd zu setzen, wenig anfangen und hat mich vielleicht schon deswegen „ausgeschieden“. Außerdem ist da ja noch die ganze #IchBinHanna-Problematik.

Waren es die strukturellen Probleme, die mich dazu gebracht haben, mir ein zweites Standbein aufzubauen neben der Uni? Mein Ehrenamt, im Kultur- und Nachhaltigkeitsbereich, wuchs mit den Jahren meiner Doktorarbeit immer mehr, es wurden daraus im Kulturbereich irgendwann bezahlte Tätigkeiten.

Wie wäre meine wissenschaftliche Karriere verlaufen, wenn ich nicht schon recht früh das 2. Standbein gesucht hätte?

Ich habe extra Teilzeit gewählt mit 50% am Anfang, um mich in den anderen 50% noch wissenschaftlich betätigen zu können. Aber eine Vereinbarkeit zwischen Uni und anderen Arbeitsbereichen ist schwierig. Es ist zunächst eine inhaltliche Sache: Ich verliere den Anschluss, habe die Uni nicht mehr als Priorität Nr. 1, habe andere Verpflichtungen, weniger Muße, musste mehrfach schon eine Teilnahme an einer Konferenz wegen anderer Arbeitsverpflichtung absagen. Uniaufgaben, gerade Forschungsaufgaben wie lesen, denken, schreiben – sind langfristige Aufgaben, die permanent verfolgt werden müssen. Sehr leicht lässt sich das Lesepensum an den Rand drängen von anderen, scheinbar vordringlicheren Aufgaben, die demnächst fällig sind. Und dann fallen bei mir eher praktische Dinge an, wie Lehre, die ich mache, um noch irgendwie an der Uni verortet zu sein. Diese Lehraufträge ziehen dann ziemlich viele administrative Aufgaben nach sich, Prüfungen, regelmäßige (E-Mail-)Betreuung.

Es ist aber auch eine mentale Sache: schon weil in der Uni häufig andere Bereiche als weniger wert angesehen werden. Jedes Anzeichen von Interesse – so scheint es mir – an anderen Aufgaben, anderen Jobs wird misstrauisch beäugt. Das zehrt. Und neben der Anstrengung, das eigene Lebensmodell immer wieder vor sich und anderen verteidigen (oder geheim halten) zu müssen, passiert noch etwas anderes: Ich habe nach und nach den Bezugsrahmen für wissenschaftliches Arbeiten, so, wie es in der Uni praktiziert wird, verloren. Mir erscheinen inzwischen Dinge orchideenhaft, die ich früher, noch im System drin seiend, wohl nicht so wahrgenommen hätte. Weltfremd. Unpraktisch. Umständlich. Vieles von dem, wogegen ich früher die Uni verteidigt habe, stößt mir nun selbst auf.

Zudem – eine ernüchternde Erkenntnis – verliere ich erworbene wissenschaftliche Fähigkeiten: Meine andere Arbeit verlangt bspw. auch von mir, dass ich Texte schreibe, gelegentlich Forschungsdaten zusammenfüge. Aber eher im sozialwissenschaftlichen Bereich. Was überhaupt nicht meiner wissenschaftlichen Ausbildung entspricht. Begrifflich geht es da bisweilen – da habe ich als in der Philosophie mal ein wenig heimisch Gewesene meine Probleme – bisweilen recht unscharf zu. Die begriffliche Schärfe ist aber nicht das Hauptziel. Ich habe zahlreiche Impulse unterdrückt, v.a. am Anfang, da klärend, befragend einzugreifen. Ich habe gemerkt, wie sehr das nervt und wie wenig mein Bedürfnis, nach Klärung, nach Genauigkeit, nach sauberem Unterscheiden bei den Kolleg*innen auf Resonanz stieß. Und wie wenig es letztendlich gebracht hat. Deswegen habe ich es irgendwann gelassen. Und verliere nun selbst meine analytische Schärfe, weil ich sie nicht benutze, sie nicht übe. Ich werde selbst unpräzise. Das tut mir etwas in der Seele weh, immer wenn ich es merke.

Vielleicht wäre ich gegenüber den Herausforderungen der Uni widerständiger gewesen, wenn ich nicht zu Hause auch noch recht große Herausforderungen hätte meistern müssen. Ein Kind ist an sich schon eine Herausforderung für denkende und schreibende Tätigkeiten. Dazu ist schon viel Kluges geschrieben. Aus der Genderperspektive ist es für Frauen immer noch schwieriger, neben der Kinder-Carearbeit einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen, auch dazu ist schon viel gesagt worden (bspw. unter dem Stichwort Mental Load).

Aber die Frage nach gleicher und/oder gerechter Aufteilung von Kinder-Carearbeit ist zusätzlich problematisch, wenn psychisch labile Menschen involviert sind. Deren Belastbarkeit variiert – das ist natürlich bei den meisten Menschen so, aber da verstärkt. Und so erfolgt eine Vorwegnahme, die die Aufgaben ungleich verteilt: Die Krisenhaftigkeit, die bei zu starker Anforderung für gemeinsame Aufgaben (z.B. Care für ein Kind) droht, wirkt schon im Vorhinein wie eine Bremse auf eine gleichmäßige Verteilung der Kinder-Careaufgaben. Und dazu kommt die Carearbeit für diese psychisch labilen Menschen. Die an sich schon anstrengend ist. Aber die auch hinüberschwappt in alle anderen Lebensbereiche, auch die beruflichen. Die Sorge um einem nahe stehenden Menschen, die Verschiebung der Maßstäbe – wenn jemand ein existentielle Krise hat, ist es schwer, bspw. die Fußnoten in einem Paper auf Vordermann zu bringen. Es scheint einerseits banal, andererseits ist die dafür erforderliche Gründlichkeit schwer erreichbar, wenn immer wieder ablenkende Gedanken schwirren.

Zuletzt geht es auch um meinen eigenen mentalen Zustand: Ich hatte eine ziemlich starke Schreibblockade während meiner Doktorarbeit, die ich dank guter Unterstützung durch den Studierendenservice und ein Buchs über Prokrastination überwunden habe. Der dahintersteckende Perfektionismus ist weniger geworden, aber ich stürze immer noch in Selbstzweifel und schreibe häufiger Texte nicht (fertig). Da fehlt die Struktur, ein gutes Arbeitsumfeld, Kolleg*innen, die mit einem kleinen Rat wiederaufrichten können, um so mehr.

Ein Netzwerk, das mich hätte halten können, hatte ich nicht in ausreichendem Maß, meines war zu klein und zu dünn. Ich habe irgendwann auch aufgehört, daran zu ziehen und es zu testen. Meine Schuld, sicherlich. Aber immer und immer wieder gegen Türen anzurennen, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, sich selbst die Richtung zu geben, ist hart. In jedem Bereich. Wenn dazu noch ein Umfeld kommt, das strukturell so schwierig ist wie das Arbeitsumfeld Wissenschaft, dann ist es schnell vorbei.

Im Bereich der deutschen Academia gibt es immer wieder und derzeit besonders stark Diskussionen zum Sonderbefristungsrecht der Wissenschaft (WissZeitVG) und anderen arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen. Zu den dazugehörigen Lebensbedingungen wird am Rande auch immer wieder etwas gesagt, aber nicht wenige monieren die fehlende Intersektionalität und Inklusivität dieser Bewegungen. Menschen mit nicht-deutschem Pass usw. haben es schwerer, hier in diesen Diskussionen mit ihren Anliegen Gehör zu finden, überhaupt vorzukommen. Und fallen ohnehin schnell aus dem System raus.

Ähnliches gilt aber auch für diejenigen mit Careaufgaben und Menschen, die von Personen mit psychischen Krankheiten umgebenen sind. Und es gilt auch für diejenigen, die nicht einen graden Weg einschlagen. Umwege sind doch gerade für die Wissenschaft hilfreich. Warum dann dieses Stromlinienförmigkeit, die das System vorgibt? Denn um das noch einmal klar zu sagen: Meine Care- und sonstigen Herausforderungen hätten wohl nicht so stark zu Buche geschlagen, wenn ich nicht – wie es derzeit strukturell einfach noch der Fall ist – so abhängig von Betreuenden und Vorgesetzten gewesen wäre, die stark auf das eigene Fortkommen bezogen waren. Machtmissbrauch gab und gibt es bei anderen in viel größerem Maße und mit viel schlimmeren Folgen (cf. die Diskussionen unter dem Hashtag #IchBinTina). Aber Macht ohne die zugehörige Verantwortung hat auch gravierende Folgen. Wie wäre es mir ergangen, wenn ich schon früher eine planbare, mich unabhängig machende Perspektive an der Uni gehabt hätte?


Dr. Bettina Bohle arbeitet als Kulturmanagerin im Bereich Jazz/Improvisierte Musik und als Lehrbeauftragte (derzeit in Hildesheim). Nach einer Promotion in der Antiken Philosophie im Bereich der Ethik beschäftigt sie sich nun mit Fragen der philosophischen Ästhetik, u.a. zum Neuen in der Kunst und Kreativität, sowie Institutionentheorien. Sie twittert sporadisch aus ihrem Leben als halbe Hanna unter @bbetweentheline