Let’s Talk About Sex!

von Anja Schmidt (Halle-Wittenberg)


Natürlich müssen wir über Sexualität philosophieren, es ist sogar dringlich! Das ist der Grund, warum ich die Einladung zu einem Beitrag für diesen Blog annahm.

Wir müssen über Sexualität philosophieren, weil Sexualität eine ganz wesentlich kulturell geprägte menschliche Praxis ist, die als menschliche Praxis moralisch und ethisch reflektiert werden muss. Zwar gibt es eine Alltagsüberzeugung, dass Sexualität vor allem natürlich, triebgesteuert ist, so dass es eine „natürliche“ oder „normale“ Sexualität gibt, die einfach so funktioniert und gesellschaftlich nicht beeinflusst wird. Dass dem nicht so ist, zeigen aber individuelle Erfahrungen ebenso wie gesellschaftliche Mechanismen zur Regulierung von Sexualität.

Auf der individuellen Ebene haben vermutlichen schon viele von uns die Erfahrung gemacht, dass Sexualität mit sich selbst und anderen Menschen ganz unterschiedlich sein kann. Dies hängt zum Beispiel davon ab, ob man die eigenen sexuellen Bedürfnisse kennt, ob man es wagt, zu experimentieren sowie ob und wie man miteinander kommunizieren kann. Dies alles wird von den eigenen Vorannahmen und dem Vorwissen zu Sexualität bestimmt. Eine Person mit weiblichen Geschlechtsorganen wird für eine erfüllte Sexualität vermutlich davon profitieren zu wissen, wie groß die Klitoris wirklich ist, welche Bestandteile sie hat und wo genau im Körper sie sich befindet. (Wer glaubt, dass sie ein äußerer kleiner Knubbel am Zusammenschluss der kleinen Genitallippen ist, irrt. Eine sehr detaillierte Darstellung mit Erläuterungen findet sich etwa im Handbuch „Frauenkörper neu gesehen“, herausgegeben von Laura Méritt.) Wie wir uns als sexuelle Wesen verstehen und was wir über uns und Sexualität wissen, bestimmt unsere sexuellen Entfaltungsmöglichkeiten wesentlich mit.

Nicht nur individuelle Selbstverständnisse wirken sich auf unsere Sexualität aus, diese wird auch durch gesellschaftliche Normierungen reguliert. Hierzu gehört die in unserem Kulturkreis zum Glück zunehmend veraltete Vorstellung, dass Homosexualität sittenwidrig ist, also gegen herrschende gesellschaftliche Moralauffassungen verstößt, und unter Strafe verboten werden kann. Das Argument der Sittenwidrigkeit wurde auch immer wieder in hitzigen und kontroversen Diskussionen über die rechtliche Regulierung von freiwilliger Prostitution / Sexarbeit geführt, zunehmend ersetzt durch das Argument der Menschenwürde gegen und das Argument der sexuellen Selbstbestimmung für die Legalisierung freiwilliger Prostitution / Sexarbeit. Der Verankerung des Grundsatzes „Nein heißt Nein“ im deutschen Strafgesetzbuch ging eine ebenso aufgeregte wie kontroverse Debatte um die sexuelle Selbstbestimmung und die Regulierbarkeit von Sexualität voraus.

Es ist davon auszugehen, dass sich gesellschaftliche Normierungen von Sexualität und individuelle Selbstverständnisse wechselseitig beeinflussen. Wenn Homosexualität gesellschaftlich geächtet wird, kann dies bei gleichgeschlechtlich begehrenden Menschen dazu führen, dass sie ihr Begehren oder sich selbst als unnormal zu empfinden. Umgekehrt wird die gesellschaftliche Ächtung von Homosexualität von der Überzeugung vieler getragen, dass Homosexualität nicht normal ist. Sexualität überhaupt, auch Heterosexualität, unterliegt dieser Wechselwirkung. Vielfach wurde die Ablehnung der Strafbarkeit nicht einverständlicher sexueller Handlungen damit begründet, dass es in einer Partnerschaft und bei Verführung überhaupt möglich sein müsse, „einfach so zuzugreifen“, um den anderen von sexuellen Handlungen zu überzeugen, ihn*sie zu verführen. Dies setzt eine Vorstellung von menschlicher Sexualität voraus, wonach vor allem Männer ihr Begehren handfest leben dürfen und ein „Nein“ der Frau als Sich-Zieren gilt, das eigentlich „Ja“ meint. Dass dies eine in den Köpfen der einzelnen verankerte Überzeugung ist, zeigte jüngst der von Catherine Deneuve und anderen französischen Frauen unterschriebene, gegen die #MeToo-Bewegung gerichtete offene Brief. In diesem Brief wurde den Männern die Freiheit, einfach so ein Knie zu berühren oder einen Kuss zu erhaschen, als Freiheit, lästig zu sein, zugestandenen. Die Freiheit, lästig zu sein, wurde als unerlässlich für die sexuelle Freiheit betrachtet. Die Überzeugung, dass er zugreifen darf und sie eigentlich „Ja“ meint, wenn sie „Nein“ sagt, drückte sich auch in strafrechtlichen Verboten der sexuellen Nötigung / Vergewaltigung als gesellschaftlich konstituierte Praxis aus. Bis zur Verankerung des Grundsatzes „Nein heißt Nein“ im Sexualstrafrecht setzte die Strafbarkeit wegen sexueller Nötigung / Vergewaltigung im deutschen Recht voraus, dass der*die Täter*in (der Mann) zusätzlich zum erkannten Gegenwillen des Opfers (der Frau) Gewalt oder eine nötigendes Mittel angewendet haben muss. Denn wenn sie sich nicht wehrt, will sie es ja doch (das meint die Rechtsfigur der „vis haud ingrata“, der nicht „unwillkommenen Gewalt“). Auch hier ist von einer Wechselwirkung zwischen gesellschaftlich institutionalisierten Auffassungen und individuellen Überzeugungen auszugehen.

Überzeugungen davon, wie Sexualität funktioniert, gründen häufig in Annahmen dazu, wie die Natur den Menschen geschaffen habe. Das deutsche Bundesverfassungsgericht lehnte zum Beispiel 1957 eine Vergleichbarkeit der nicht strafbaren weiblichen homosexuellen Handlungen mit den strafbaren männlichen homosexuellen Handlungen ab, weil biologische Unterschiede diese Ungleichbehandlung der Geschlechter rechtfertigten. Schon die körperliche Bildung der Geschlechtsorgane weise für den Mann auf eine mehr drängende und fordernde, für die Frau auf eine mehr hinnehmende zur Hingabe bereite Funktion hin. So verfalle vor allem der homosexuelle Mann einem hemmungslosen Sexualbedürfnis, was eine besondere typische Gefahrensituation ergebe, die die Strafbarkeit homosexueller Handlungen von Männern rechtfertigt (Urteil vom 10.5.1957, 1 BvR 550/52). Die diesem Urteil zugrunde liegenden Auffassungen zu männlicher und weiblicher Sexualität gelten heute weithin als Aspekt sozialer Geschlechtlichkeit, die keineswegs biologisch vorgegeben ist, sondern auf gesellschaftlichen Normierungen beruht.  Es liegt die Frage nahe, inwieweit etwas als natürlich behauptet wird, um bestimmten praktischen Interessen gerecht zu werden, inwiefern also Natur, hier die Natur der Sexualität, durch menschliche Praxis hervorgebracht wird.

Dafür, dass Geschlecht auch als biologisches Geschlecht durch den menschlichen Geist konstruiert wird, spricht die Geschichte der rechtlichen Anerkennung von Trans- und Intergeschlechtlichkeit: Während der deutsche Bundesgerichtshof im Jahr 1971 noch davon ausging, dass das Geschlecht angeboren und unwandelbar männlich oder weiblich ist (Beschluss vom 21.9.1971, IV ZB 61/70), kann heute nach den (dennoch und noch immer kritikwürdigen) Vorgaben des Transsexuellengesetzes zumindest das männliche oder weibliche Identitätsgeschlecht anerkannt werden, auch wenn es nicht den körperlichen Merkmalen entspricht. Mit einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17.10.2017 wurde Intergeschlechtlichkeit als Geschlecht neben männlich und weiblich rechtlich anerkannt (1 BvR 2019/16). Hier wird deutlich, dass das, was als natürlich oder normal gilt, zumindest auch von der gesellschaftlichen, unter anderem rechtlichen, Anerkennung abhängt. Wesentliche Argmente zur Begründung dieses Wandels waren übrigens das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hinsichtlich der Geschlechtsidentität und – im Beschluss zu Intergeschlechtlichkeit zudem – das Verbot der Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts, also Rechte, die etwas mit der gleichen Anerkennung selbstbestimmter Subjekte zu tun haben.

Sexualität und die mit ihr verbundenen Annahmen zu Geschlecht sind historisch und kulturell wandelbar, sie werden auch durch menschliche Praxis geformt. Homosexuelle Handlungen sind in Deutschland nicht mehr strafbar, homosexuelle Menschen können inzwischen wie heterosexuelle auch heiraten. Im Sexualstrafrecht sind inzwischen nicht  nur sexuelle Handlungen gegen den Willen der betroffenen Person unter Strafe gestellt, sondern auch sexuelle Belästigungen (die die Intensität einer sexuellen Handlung nicht erreichen). Trans- und intergeschlechtliche Menschen haben rechtliche Anerkennung erfahren.

Sexualität und Geschlecht sind als Produkt menschlicher Praxis bereits vertieft analysiert worden, wobei hier nur einige Positionen aufgeführt werden:

Michel Foucault arbeitete in „Der Wille zum Wissen“, dem ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ heraus, dass der Diskurs der wissenschaftlichen Erforschung der Sexualität diese machtvoll und produktiv hervorgebracht hat, als Sexualität und als individuelle Selbstverständnisse von Sexualität und Geschlecht. Sexualität und ihre konkreten Ausformungen erscheinen damit als historisch und kulturell situierte Phänomene, die durch ihre Erforschung erst erzeugt wurden und zur Herstellung von Subjektivität beitragen. In früheren Zeitaltern (und anderen Kulturen) ist Begehren demnach anders verstanden und auch gelebt worden.

Judith Butler vertieft dies in das „Unbehagen der Geschlechter“ im Hinblick auf die Konstitution des Geschlechts und die gesellschaftliche Norm der Heterosexualität. Heterosexualität ist ihr zufolge nicht natürlich gegeben, sondern wird als natürlich durch die Gesellschaft hervorgebracht. Um diese gesellschaftliche Normierung zu stützen, wird ein natürliches binäres Geschlecht männlich/weiblich gesellschaftlich konstruiert. Dieses als natürlich vorgegeben gedachte, aber gesellschaftlich durch viele performative Akte als natürlich hervorgebrachte Geschlecht umfasst körperliche Merkmale, die Geschlechtsidentität und ein auf das „Gegengeschlecht“ bezogenes sexuelles Begehren. Geschlecht und Sexualität sind demnach kontingente inszenierte Bedeutungen.

Catharine MacKinnon analysiert in diversen Schriften Sexualität und Geschlecht als Machtverhältnis. Ihr zufolge ist für Frauen das kulturelle Geschlecht ein Verhältnis der Dominanz von Mänenrn gegenüber Frauen, das wesentlich durch sexuelle Übergriffe von Männer an Frauen bewirkt wird.

Martha Nussbaum geht in ihrem Aufsatz „Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge“ davon aus, dass das Sexuelle und die Familie Bereiche sind, die historisch bedingt sind und von institutionellen Kräften innerhalb von biologischen Rahmenbedingungen geformt werden. Dies umfasst Überlegungen dazu inwiefern der sexuelle Leib und die Geschlechtsorgane soziale und historische Artefakte sind.

Derartige Positionen werden vor allem in der Soziologie, den Sexualwissenschaften und den Geschlechterstudien reflektiert. Dennoch sind sie auch philosophisch höchst bedeutsam. Denn sie behandeln genuin philosophische Fragen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität:

  • Wie und inwieweit formt der menschliche Geist Erkenntnis, genauer Natur oder als natürlich Gedachtes?
  • Welche praktischen Interesse wird damit verfolgt? Konkreter: Inwiefern sind derartige Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität Ausdruck von gesellschaftlichen Machtverhältnisse und wie formen sie diese mit?
  • Welchen Beitrag leisten sexualitäts- und geschlechtsbezogene Annahmen bei der Formung von Subjektivität?
  • Wie verhalten sich dabei gesellschaftlich institutionalisierte Praxen und Subjektivität / subjektive Praxen zueinander?
  • Welche Bedeutung haben Sexualität und Geschlecht für die Selbstbestimmung und was sind ethisch-moralisch angemessene sexuelle und geschlechtliche individuelle Verhaltensweisen?

Bei derartigen Analysen werden verallgemeinernde Überlegungen zur menschlichen Praxis in praktischer Absicht, also philosophische Analysen, mit Analysen zu Geschlecht und Sexualität verknüpft, die konkrete gesellschaftliche Verhältnisse in den Blick nehmen. Dies spricht nicht gegen deren philosophische Relevanz, denn menschliche Praxis wird uns immer nur am konkreten Beispiel zugänglich und ist auch nur anhand dessen bis hin zur abstrakten Ebene verallgemeinerbar, sonst hat sie mit unserer Lebesnwelt nichts zu tun. Deshalb müssen sich philosophische Analysen von Sexualität und Geschlecht auch mit soziologischen, geschlechterkritischen und sexualwissenschaftlichen Erkenntnisse auseinandersetzen.

Sexualität und ihre Normierungen sind ebenso wie die des Geschlechts eng mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen und den individuellen Entfaltungsmöglichkeiten Einzelner verknüpft. Wenn man die gesellschaftliche Macht bei der Normierung von Sexualität und Geschlechts sowie deren Bedeutung für die individuelle Entfaltung der Einzelnen in Rechnung stellt, ist ihre Vernachlässigung durch die Philosophie erstaunlich. Die Philososphie sollte sich als auf Verallgemeinerung gerichtete kritische Hinterfragung unserer Praxis in praktischer Absicht der Themen Sexualität und Geschlecht dringend annehmen – für gleichgeordnete selbsbestimmte geschlechtliche Identitäten und gleichgeordnete selbstbestimmte Sexualitäten, bei deren Betätigung die sexuelle Integrität aller gewahrt wird!


Anja Schmidt arbeitet am Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie/ Rechtstheorie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenbergund leitet dort das DFG-Forschungsprojekt „Pornographie und sexuelle Selbstbestimmung“.


Bundesgerichtshof, Beschluss vom 21.9.1971, Az. IV ZB 61/70, Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen (BGHZ), Band 57, S. 63-72.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 17.10.19, Az. 1 BvR 2019/16, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band147, S. 1-31.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 10.5.1957, Az. 1 BvR 550/52, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Band 6, S. 389-443.

Butler, Judith, Unbehagen der Geschlechter, 17. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014.

Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen, 21. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2017.

MacKinnon, Catharine, Geschlechtergleichheit: Über Differenz und Herrschaft, in: Nagl-Docekal / Pauer-Studer (Hg.), Politische Theorie. Differenz und Lebensqualität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 140-173.

MacKinnon, Catharine, Toward a Feminist Theory of the State, Cambridge, London: Harvard University Press 1989.

Méritt, Laura (Hg.), Frauenkörper neu gesehen, Berlin: Orlanda 2012. Nussbaum, Martha, Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, in: dies. Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge, Stuttgart: Reclam 2002, S.163-233.