Meditation über den Begriff der „Vereinbarkeit“

von Coretta Ehrenfeld


Einatmen.

Der Begriff der Vereinbarkeit weist auf zwei Voraussetzungen seiner selbst: Erstens müssen mindestens zwei Elemente gegeben sein, die getrennt voneinander existieren, um gegebenenfalls „vereinbart“ werden zu können. Zweitens verweist der Begriff mit der Silbe „bar“ auf die Frage hin, ob etwas vereint werden kann oder nicht. Die Tatsache, dass sich der Begriff der „Vereinbarkeit“ etablierte, um das praktische Verhältnis von Familie(narbeit) und Berufstätigkeit zu beschreiben, zeigt deshalb, dass Care-Arbeit/Familie und (wissenschaftliche) Berufstätigkeit für zwei voneinander verschiedene Bereiche gehalten werden, von denen zunächst unklar ist, ob sie sich überhaupt „vereinen“ lassen. Wir leben also in einer Gesellschaftsformation, in der die Arbeitsorganisation der Berufstätigkeit ausdrücklich von der Fürsorge für das Leben getrennt ist; und ob sich beide Bereiche überhaupt praktikabel verbinden lassen, steht infrage.

Ausatmen.

In einem Bienenstaat dreht sich die Arbeitsorganisation des Stocks um die Aufzucht des Nachwuchses.

Einatmen.

Nur mal angenommen, man lebte in einer Gesellschaftsformation, die in ihrer Arbeitsorganisation auf das Großziehen der Kinder ausgerichtet wäre. Die Frage nach der „Vereinbarkeit“ von Care-Arbeit und Erwerbsarbeit, von Familienarbeit und Berufstätigkeit wäre obsolet, denn beides diente dem gleichen Ziel: einer Zukunft.

Ausatmen.

Einatmen. Durch meine nunmehr neunjährige Erfahrung als Mutter* in einer Gesellschaftsformation, die die Aufzucht des Nachwuchses ausdrücklich nicht zum Maßstab ihrer Arbeitsorganisation erhebt – nennen wir sie „modern“, nordwest-europäisch –, konnte ich einige irritierende Erfahrungen ansammeln. Meine erste Schwangerschaft verbrachte ich im Ausland. Im Bus wurden mir mehrere Sitzplätze angeboten, im Supermarkt ließ man mich in der Kassenschlange vor. Meine zweite Schwangerschaft verbrachte ich in Deutschland. Die, die in öffentlichen Verkehrsmitteln ihren Sitzplatz anboten, waren entweder Frauen* oder Männer* mit vermutbarem Migrationshintergrund. So fragt man sich: Was denken die sitzenden Männer*? „Eine Schwangere kann sich um ihren Sitzplatz selbst kümmern“, „soll doch jemand anderes aufstehen“, „die fände es bestimmt sexistisch, wenn ich ihr einen Sitzplatz anbiete“? Egal was davon zutrifft, was sie jedenfalls nicht denken ist Folgendes: „Der Schutz von Schwangeren ist Teil jener Öffentlichkeit, der auch ich angehöre und für die ich eine Mitverantwortung trage.“ Demnach scheint das „Lebendige“ also Privatsache zu sein.

Ausatmen.

Einatmen. Während der Pandemie wies mir die Gesellschaftsformation, die das Lebendige von der Arbeitsorganisation getrennt hat und deren Versprechen mir eigentlich ein Anliegen sind, meinen Platz als Mutter*: Zuhause und immer bereit anderen etwas abzunehmen. Eine nie versiegende Quelle der Gutmütigkeit, Kraft und Zeit. Hoppla! Wie genau bin ich da hineingeraten, und vor allem wie komme ich da wieder raus? Der Liberalismus, das ist eine Idee von Erwachsenen für Erwachsene. Für Demokratie, Freiheit und Gleichheit am besten die Kinder zuhause lassen. So höre ich an der Kita, am Spielplatz, beim Bäcker und im Freundeskreis: „Wir leben immer im ‚kurz davor‘-Modus, wir sind immer ‚kurz davor‘“. „Ich war beim Arzt und er sagte das ist nicht Migräne, es heißt ‚nervöse Erschöpfung‘“. „Ich darf nicht vergessen, dass ich heute Abend noch Muffins für das Laternenfest backen muss“. „Wir freuen uns das ganze Jahr auf den August, wenn wir mit den Kindern endlich mal entspannt Zeit zusammen verbringen können“. „Mein Akku ist leer, aber nicht der am Fahrrad!!“, schrilles kollektives Lachen. „Wir haben schon wieder Notbetreuung, weil die Hälfte der Erzieherinnen krank ist“. „Mein Leben ist ein einziges Gerenne, ist das bei euch auch so?“. Die Erschöpfung ist ein Small-Talk-Thema. Das wenige, was nach der Pandemie von Eltern und insbesondere Müttern* noch übrig war, hätte von der Allgemeinheit eigentlich gepflegt und umsorgt werden müssen. Stattdessen fingen Eltern (und insbesondere Mütter*) aufgeschobene Infekte ihrer Kinder auf und verloren endgültig Rentenpunkte, Kraft und Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Versprechen von Vereinbarkeit und Gleichberechtigung ernst gemeint waren.

Ausatmen. Einatmen.

Das Gehetze anderer Eltern morgens an der Kita beschämt mich. Ich verspreche mir selbst, nie so herum zu hetzen. Ich stehe dafür extra früher auf, mein Anti-Hetz-Programm. Vor wenigen Tagen sagt mein Sohn zu mir, als er zwei Kilo gesammelte Kastanien aus seinem Schulranzen auf den Teppich leert: „Weißt du Mama, was ich an dir nicht mag?“ „Nein, was denn?“ „Wenn du Stress machst“. Ich schäme mich in Grund und Boden. Mein Sohn hat recht. Ist es das, was diese Gesellschaftsformation, die von sich selbst überzeugt ist, die beste Lösung für alle zu sein, für ihre Kleinsten übrighat? „Kinder zieht jetzt eure Jacken an wir müssen los!“ „Kinder wir sind knapp dran lasst die Steine jetzt bitte liegen!“ „Nein du kannst jetzt nicht balancieren sonst kommen wir zu spät!“ Das sind meine Worte. Aus-, aus-, ausatmen. Wie geht das Gehetze weg? Das Gehetze soll weg! Einatmen. Ausatmen. Meine Tochter beobachtet eine Schnecke. „Guck Mama wie süß die ist!“ Die Schnecke ist wirklich süß, klein und knabbert an einem Blatt. In einem Zeitalter, in dem täglich 150 Arten aussterben, sollten wir alle viel mehr Schnecken beobachten! Das Leben ist eineZeit, wie habe ich sie verbracht? Der Kosmos der Unmittelbarkeit, der Kosmos der Steine, Schnecken und Kastanien hat schwarze Löcher: Termine, E-Mails, Deadlines. Einatmen. Ausatmen.

Gehetzte Zeit ist verschwendete Zeit. Wir brauchen eine neue Kunst: Zeit-Kunst. Ausatmen.

Einatmen.

Ausatmen.

Einatmen. Ich lese, dass eine durchschnittliche Milchkuh vor hundert Jahren 2.000 Liter Milch pro Jahr gab, und dass Hochleistungskühe heutzutage 10.000-12.000 Liter pro Jahr geben.[1] Hochleistungseltern im Jahr 2023 arbeiten je nach Alter der Kinder mindestens 67 Stunden pro Woche.[2] Dabei ist, wohlgemerkt, die „bloße“ Betreuung noch nicht mit einberechnet! Die „bloße“ Betreuung zuhause oder am Spielplatz, ein höhnischer Euphemismus für Eltern mit Kindern unter vier, denn die betreut man nonstop. Ebenfalls nicht mit einberechnet sind nächtliches Aufstehen, Sondereinsätze wie Schuhkauf, Schulfest, Kindergeburtstag, Zahnarzt, Notfälle; „emotionale Arbeit“ wie Zuhören, Kummer teilen und Streit schlichten; „Quality time“ wie Vorlesen oder ins Schwimmbad gehen; sowie Familienmanagement und Termin-Organisation. Gestern verbrachte ich eine Stunde damit, Knete aus dem Espressokocher zu pulen (15 min) und die in der ganzen Wohnung verteilten Kinderbücher, Hörbücher und Comics der Stadtbücherei zusammenzusuchen (50 min). Mir scheint, Eltern geben ihre Zeit wie Milchkühe ihre Milch: je mehr gegeben wird, desto mehr wird gefordert. Aber sie „machen es doch gern“? Ausatmen. Einatmen: Wie viele Publikationen produzieren denn Hochleistungswissenschaftler*innen pro Jahr? Sie machen es doch gern?

Ausatmen.

Einatmen. Während ich einen Berg Kartoffeln schäle, denke ich über meine Publikationsliste nach. Wenn der Text A. durch geht, hätte ich ein peer review mehr, das wäre schon mal gut. Außerdem sollte ich bis Ende des Jahres noch unbedingt den Text B. fertigbekommen, das kann ich schon noch schaffen wenn ich mit den Hausarbeiten vom Sommersemester durch bin. „Mama wo sind meine Fußballsocken?“ „Die müssten gewaschen sein, schau mal im Wäschekorb“. Auf den Call C. sollte ich allerdings unbedingt antworten, das muss ich priorisieren. Ach je und außerdem brauchen beide Kinder neue Handschuhe bevor die erste Kälte kommt, und N. braucht eine gefütterte Matschhose für die Kita. Ausatmen. Einatmen. Auf jeden Fall arbeite ich nächste Woche die Kommentare zum D.-Text fertig ein, dann kann der raus, und Anfang nächsten Jahres habe ich dann Zeit um die Vorträge E. und F. vorzubereiten. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen.

Ausatmen. „Weniger ist mehr“. Einatmen. „Gut Ding will Weile haben“. Ausatmen. „In der Ruhe liegt die Kraft“. Einatmen. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“. Ausatmen.

Einatmen. Ausatmen.

Manches Getrennte, das in der Praxis schwer miteinander „vereinbar“ ist, gehört möglicherweise zusammen. These: „Vereinbarkeit“ reiht sich mit seiner zugrundeliegenden Spaltung in eine Reihe von Begriffspaaren ein, die getrennt verhandelt werden, obwohl sie zusammengehören, da sie aufeinander angewiesen sind um eine Zukunft zu stiften. „Mensch“ und „Natur“, „Leben“ und „Arbeit“. Einatmen. Ein Kind zu trösten, ist das „Leben“ oder „Arbeit“? Ausatmen. Falsche Frage? Einatmen. Ausatmen. Manchmal ist es notwendig, einen Schritt zurück zu gehen, um wirklich vorwärts zu kommen. Einatmen. Ausatmen.

Also: Zeit-Kunst. Einatmen. Ausatmen. Erst nochmal nachschauen, was uns zur anständigen Natur noch fehlt, bevor wir uns mit KI vervollkommnen. Einatmen. Ausatmen. Nicht wenn wir beschleunigen, sondern wenn wir uns konzentrieren, kommen wir weiter.

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen.


Coretta Ehrenfeld forscht zu migrantischer Philosophie und Sozialtheorie. Sie promovierte in Leipzig als Landesstipendiatin und lehrte zuletzt in Heidelberg. Ihre Dissertation Philosophie der transnationalen Migration. Implikationen einer kopernikanischen Wende ist hier open access erhältlich: https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-6313-6/philosophie-der-transnationalen-migration/


[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/hochleistungskuh-101.html, aufgerufen am 20.07.2023.

[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/827965/umfrage/durchschnittliche-wochenarbeitszeit-in-deutschland-nach-geschlecht/, sowie https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/gender-care-gap/indikator-fuer-die-gleichstellung/gender-care-gap-ein-indikator-fuer-die-gleichstellung-137294, beides aufgerufen am 20.07.2023.