Naturalismus, Ontologie und Geschichte bei Marx. Eine Metareplik

Von Kurt Bayertz (Münster)


In seiner Replik auf meinen in diesem Blog erschienenen Marx-Beitrag, sowie auf mein Buch Interpretieren, um zu verändern[1], hat Urs Lindner drei zentrale Thesen meiner Überlegungen hervorgehoben und als „überaus fragwürdig“ charakterisiert. Bevor ich auf seine Kritik an diesen Thesen zu sprechen komme, möchte ich zwei allgemeine Bemerkungen voranschicken.

Zunächst fällt auf, dass Lindner ein zentrales Charakteristikum der Theorie von Marx völlig unberührt lässt: ihren Praxisbezug. Dieser Bezug ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieser Theorie und liefert daher einen entscheidenden Interpretationsleitfaden bis in ihre (scheinbar) abstraktesten metaphysischen Annahmen hinein. Eine adäquate Metareplik auf die von Lindner erhobenen Einwände müsste daher von diesem Praxisbezug ausgehen, den ich bereits im Titel meines Buches angedeutet habe. Aus Platzgründen ist das leider nicht möglich, so dass ich mich an dieser Stelle damit begnügen muß, auf einige der einschlägigen Stellen meines Buches zu verweisen: [53ff; 228ff; 245f]. Alle drei von Lindner hervorgehobenen Thesen stehen mit dem von Marx angestrebten Praxisbezug seiner Theorie in Zusammenhang.

Es sollte klar sein, dass mit dieser Betonung des Praxisbezugs noch nichts über die Frage entschieden ist, ob Marx mit seinem Bemühen erfolgreich war; ob also seine Lösung des Theorie-Praxis-Problems zu überzeugen vermag. Ich betone dies, weil damit der zweite Punkt berührt ist, den ich vorausschicken möchte. Eine durchgängige Tendenz der Lindnerschen Replik besteht darin, zwei verschiedene Fragen nicht deutlich genug zu unterscheiden:

  • Ist die von mir vorgeschlagene Interpretation der Marxschen Theorie adäquat?
  • Ist diese Theorie wahr oder zustimmungsfähig?

Das Ziel meiner Marx-Beschäftigung habe ich im ersten Satz des Buches klar bestimmt: „Dieses Buch ist ein Versuch, die Theorie von Marx zu verstehen.“ Mein Ziel war also nicht, diese Theorie zu verteidigen (oder zu widerlegen), wie Lidner annimmt. Er unterstellt mir daher auch dort, wo ich die Marxschen Ansichten interpretiere und analysiere, eine Identifikation mit ihnen. Ich werde auf diesen Irrtum zurückkommen; wende mich jetzt aber den drei zentralen Einwänden von Lindner zu.

1. Naturalismus

Der erste davon bezieht sich auf die Möglichkeit jenes ‚nichtnaturalistischen Materialismus’, den ich Marx zuschreibe. Für Lindner wäre ein solcher Materialismus eine contradictio in adjecto. Nun wird der Ausdruck ‚Naturalismus’ (wie Lindner selbst andeutet) in der Philosophie unterschiedlich verwandt. In einer ersten Bedeutung ist damit nicht mehr gemeint, als dass in der Theorie keine übernatürlichen Instanzen oder Ereignisse angeführt werden. Es ist vollkommen zutreffend, dass jeder Materialismus in diesem Sinne naturalistisch ist [18] und dass dies natürlich auch für Marx gilt.

Der Ausdruck ‚Naturalismus’ wird aber auch in einem sehr viel spezifischeren Sinne verwandt. Er bezeichnet dann die Tendenz zur Reduktion, (a) von Gesellschaft oder Kultur auf Natur; und (b) von Wissenschaft auf Naturwissenschaft. Dies ist die Verwendungsweise, die in der gegenwärtigen internationalen Diskussion dominant ist; und auch die Marxsche Theorie ist gelegentlich als eine Variante dieser reduktionistischen Auffassung angesehen worden. [26 und 248]. Da es mir darauf ankam, die Spezifik des Marxschen Materialismus zu bestimmen, ist meine Charakterisierung dieses Materialismus als ‚nichtnaturalistisch’ als eine Abgrenzung von dieser gegenwärtig dominierenden Version von Materialismus zu verstehen. Mein Interesse war also, die Differenz der Marxsche Auffassung sowohl von älteren Materialismen (d’Holbach, Feuerbach) als auch von zeitgenössischen Materialismen (David Lewis) herauszustellen.

Wie aus diesem Differenzierungsversuch gefolgert werden kann, „Für Bayertz  scheint die einzig gangbare philosophische Alternative zu einem reduktiven Naturalismus/Materialismus darin zu bestehen, (erneut) einen Dualismus von Natur und Kultur einzuführen“, bleibt rätselhaft. Diese Folgerung ist weder durch das von Lindner angeführte Zitat aus meinem Buch gerechtfertigt, noch durch irgendwelche anderen meiner Äußerungen. Es spricht sicher vieles dafür, das Verhältnis von Natur und Gesellschaft emergentistisch zu fassen, wie Lindner vorschlägt; doch habe ich mich zu diesem vertrackten Problem weder im Buch noch im Blog-Beitrag geäußert. Stattdessen habe ich die Ansichten von Marx darzulegen versucht; ich habe der Replik aber keine Argumente für eine solche Fehlinterpretation entnehmen können.

2.Relationale Sozialontologie

Wenn ich Lindner richtig verstanden habe, besteht sein zentraler Einwand gegen meine These, dass Marx eine relationale Sozialontologie vertreten habe, darin, dass die Marxsche Sozialontologie nicht nur einen, sondern vier (einige Zeilen später dann nur noch drei) Bausteine umfasse: Außer den Relationen nämlich auch Artefakte, Akteure und Praxis. Dem steht aber die von Lindner selbst wiedergegebene Äußerung von Marx entgegen, nach der die Gesellschaft „nicht aus Individuen“ besteht, sondern „die Summe der Beziehungen, Verhältnisse“ ausdrücke, worin diese Individuen zueinander stehen. Diese Äußerung ist explizit genug und dürfe eindeutig für meine Deutung sprechen; sie steht im Übrigen nicht isoliert da, denn es lassen sich zahlreiche weitere Belege für eine relationale Sozialontologie bei Marx angeben [100-32].

Selbst wenn Lindners Diagnose zutreffend wäre, dass damit die Artefakte und Individuen „aus dem Sozialen herausfallen“, so blieb zu fragen, wen diese Kritik eigentlich trifft: die Marxsche Theorie oder meine Rekonstruktion? Da er die letztere als „eigentümlich (?) inkohärent“ charakterisiert, scheint Lindner die zweite Möglichkeit im Auge zu haben. Dann müsste er aber Belege dafür vorbringen, dass meine Rekonstruktion an den Marxschen Auffassungen vorbeigeht; dass Marx also etwas anderes behauptet hat, als ich ihm zuschreibe. Auf solche Belege bin ich neugierig.

Die Verwirrung in diesem Punkt rührt daher, dass mit ihm ein Problem angesprochen ist, das in den Sozialwissenschaften und der Sozialphilosophie bis heute kontrovers diskutiert wird: Ob eine angemessene Theorie der Gesellschaft ‚strukturalistisch’ bzw. ‚systemtheoretisch’ aufgebaut werden sollte oder ‚handlungstheoretisch’. Marx hat dieses Problem mehr erahnt als erkannt. Jedenfalls finden sich bei ihm zwei Theorieschichten, deren ‚untere’ handlungstheoretisch verfasst ist, während die ‚obere’ als strukturalistisch oder systemtheoretisch charakterisiert werden kann. Behauptet wird, kurz zusammengefasst, dass die Menschen in ihrer Produktionspraxis (=untere Ebene) bestimmte Verhältnisse untereinander eingehen (=obere Ebene), deren Gesamtheit die ‚ökonomische Struktur’ der Gesellschaft konstituiert.  Auf der unteren Ebene spielen die von Lindner angemahnten weiteren Bausteine (Akteure und Artefakte) tatsächlich eine uneliminierbare Rolle; daraus folgt  aber nicht, dass sie (nach Marx) auch die Bausteine der oberen strukturellen Ebene sind.

Es gibt reichlich Belege dafür, dass nach Marx weder Akteure noch Artefakte als solche sozialen Charakter haben. [116] Diesen haben sie nur insofern sie in die soziale Praxis und in die in dieser Praxis instantiierten Strukturen eingebunden sind. So ist ein Artefakt (z.B. eine Maschine) eben kein Kapital, sondern wird zum Kapital, wenn es zum Kristallisationspunkt von bestimmten ökonomischen Handlungen und den daraus erwachsenden Produktionsverhältnissen wird. Diese Differenzierung war Marx sehr wichtig; und sie bezeigt noch einmal den nichtnaturalistischen Charakter seiner Theorie.

3. Geschichtsphilosophie

Es gilt heute bisweilen als geradezu unanständig, eine ‚materiale Geschichtsphilosophie’ zu vertreten; und Lindner wirft mir daher vor, Marx eine solche Philosophie zuzuschreiben. Dazu zwei Bemerkungen. Erstens geht aus dem von Lindner angeführten Marx-Zitat (MEW 19, 112) keineswegs hervor, dass Marx keine ‚materiale’ Geschichtsphilosophie vertreten hat; sondern lediglich, dass er solche Geschichtsphilosophien verworfen hat, die mit apriorischen „Universalschlüsseln“ operieren zu können meinen. Zweitens wäre damit, dass Marx keine materiale Geschichtsphilosophie vertreten wollte, noch nicht bewiesen, dass er keine vertreten hat. So wie die These, dass alle Philosophie überwunden werden müsse, selbst eine philosophische These ist; so liegt auch der Forderung, dass alle materiale Geschichtsphilosophie’ verworfen werden müsse, eine materiale Geschichtsphilosophie zugrunde.

Im Übrigen findet sich in diesem Zusammenhang ein weiterer Beleg für die eingangs charakterisierte generelle Tendenz der Lindnerschen Replik. Nachdem er mir ausdrücklich darin zugestimmt hat, dass Marx zeitlebens an einem unaufhaltsamen menschheitsgeschichtlichen Fortschritt der Produktivkraftentwicklung geglaubt hat, fährt Lindner fort: „Damit – und hier kommt das große ‚Aber’ – ist jedoch noch nicht etabliert, dass dieser Fortschritt auch ein tatsächlicher Treiber ‚der’ Geschichte ist… Und auch Bayertz kann keinerlei ernsthafte historische Forschung anführen, die einen solchen Zusammenhang jemals gestiftet hätte.“ Doch wann und wo hätte ich einen solchen Zusammenhang jemals zu „etablieren“ versucht?  Statt irgendwelche Urteile über die Wahrheit oder Unwahrheit der Marxschen Geschichtsphilosophie zu fällen, habe ich versucht, zunächst einmal größere Klarheit darüber zu gewinnen, was diese Philosophie überhaupt besagt. Entgegen einem unter Marxisten wie Antimarxisten weit verbreiteten Eindruck liegt das nämlich keineswegs auf der Hand.


[1] Kurt Bayertz, Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie. München: C.H.Beck 2018. – Die in dem hier vorliegenden Beitrag angeführten Zahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf entsprechende Seite dieses Buches.


Kurt Bayertz ist Professor für Philosophie an der Universität Münster. Gerade ist sein neuestes Buch zu Marx erschienen: „Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie“.