Frauen und der biotechnologische Fortschritt: Philosophische Aspekte künstlicher Befruchtung aus altersethischer Perspektive
Von Esther Redolfi Widmann
Die Philosophin Simone de Beauvoir (*1908; †1986) hat in Das andere Geschlecht[1] (1949)und Das Alter[2] (1970) die Situation der Frau luzide analysiert. Sie war damit nicht nur ihrer Zeit weit voraus, sondern ist in ihrem Denken gerade heute wieder verblüffend aktuell.Die Entwicklung ihrer philosophischen Thesen lässt sich in Anlehnung an zahlreiche sozialhistorische Umwälzungen ihrer Zeit nachzeichnen. Immer wieder sind neue Versuche einer Interpretation von Beauvoirs Leben und Werk durch feministische «Wellen» und Strömungen ein Indiz dafür, dass die Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen noch lange nicht adäquat verwirklicht ist, und dass Beauvoirs Leben und Werk für diese Entwicklung nach wie vor relevant und wegweisend ist. Denn bis heute sehen sich Frauen einem gesellschaftlichen, und oft auch religiös motivierten moralischen Druck ausgesetzt, insbesondere auch in biologischer Hinsicht. Dieser Druck wirkt heute allerdings auf eine andere, wesentlich subtilere Weise.
So ist beispielsweise das einundzwanzigste Jahrhundert von den Fortschritten in der Biotechnologie geprägt. Der Begriff Biotechnologie umfasst eine Reihe von Praktiken und Verfahren – wie die künstliche Befruchtung – die insbesondere für Frauen höchst relevant sind. In diesem Zusammenhang sind zwei miteinander verknüpfte Phänomene zu beobachten: zum einen das Versprechen ewiger Jugend durch medizinisch-technischen Fortschritt, zum anderen eine statistisch signifikante Anzahl von Frauen, die in einem immer höheren Alter gebären. Es liegt mir fern, Frauen das Recht absprechen zu wollen, sich ihren Kinderwunsch im fortgeschrittenen Alter mit Hilfe moderner medizinisch-biologischer Technologien zu erfüllen – aber möglicherweise ist in diesem Wunsch auch eine „moderne Form des Leidens“ erkennbar. Insbesondere im Rahmen individueller Lebenskonzepte wird der Umgang mit den unterschiedlichen Facetten von Unfruchtbarkeit für Frauen immer schwieriger. Vor dem Hintergrund dessen, dass die natürlichen biologischen Grenzen immer weiter Richtung Alter verschoben werden, kann Kinderlosigkeit auf Grund altersbedingter Unfruchtbarkeit unter Umständen schwerwiegende psychische (und soziale) Konflikte und Notlagen hervorrufen.
Unbestreitbar ist, dass der medizinische Fortschritt im Spannungsfeld zwischen Machbarkeitswahn und resignativem Fatalismus auch Widersprüche produziert. Die Medizin ist, auf Grund ihrer integralen Funktion in unseren Gesellschaften gefordert, sich den Fragen und Herausforderungen zu stellen, die durch diese Entwicklungen aufgeworfen werden. Hier ist ein breites Spektrum gesellschaftlicher Akteure betroffen; es geht also nicht um rein medizinische Fragen, sondern auch um soziologische, philosophisch-anthropologische und insbesondere auch ethische.
Simone de Beauvoir hatte in Das andere Geschlecht die künstliche Befruchtung als „freie Mutterschaft“[3] bezeichnet: „Die künstliche Befruchtung ist der Endpunkt einer Entwicklung, die es der Menschheit ermöglichen wird, die Fortpflanzungsfunktion zu beherrschen. Diese Veränderungen haben insbesondere für die Frau eine ungeheure Bedeutung: sie kann die Zahl ihrer Schwangerschaften beschränken, kann sie vernünftig in ihr Leben einordnen, statt deren Sklave zu sein.“[4] Mittlerweile sind mehr als 70 Jahre vergangen, und Beauvoirs positive Zukunftsvision der Verwirklichung individueller Freiheit der Frauen ist in dieser Hinsicht nicht nur nicht Realität geworden, sondern hat sich geradezu als eine neue Form gesellschaftlicher Konditionierung entpuppt. Dies obwohl die menschliche Lebenserwartung beträchtlich gestiegen ist, und Frauen heute Perspektiven haben, die früher kaum denkbar waren, wie z.B. Berufsausbildung, Studium, Karriere, freie Partnerwahl, etc.
Bereits zu Simone de Beauvoirs Lebzeiten konnten Frauen, die „frei sein“ bzw. frei leben und lieben wollten, ihre conceptio mit Hilfe der Pille kontrollieren. Diese durch die Pille bzw. die seit damals sukzessiv legalisierte Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs mühevoll errungene Selbstbestimmung stößt aber nach wie vor an Grenzen, nämlich jene einer sowohl biologisch als auch gesellschaftlich bedingten, bzw. einer mit dem Alter zunehmenden Unfruchtbarkeit. Die biologische (Alters-)Grenze und die gesellschaftlich-sittlichen Einschränkungen, die in erster Linie die Situation von Frauen betreffen, und gegen die Beauvoir, und nach ihr, Generationen von Frauen gekämpft haben, sind nach wie vor bestimmende Aspekte weiblicher Wirklichkeit. Denn letzten Endes hat sich die Situation der Frau als und im Spannungsverhältnis von Freiheit und Situationsgebundenheit lediglich in Art und Erscheinungsbild verändert.[5]
Was wir auch hier brauchen sind Diskussionen über die Entwicklung und Ausrichtung der medizinischen Forschung und deren klinisch-therapeutischer Anwendung, die alle Stakeholder mit ins Boot holen. Viele wichtige Fragen müssen gestellt werden: Zeitigt moderne Wissenschaft in der Verfolgung rein intradisziplinärer Ziele, und sehr spezialisierter Anwendungen, nicht Konsequenzen für unsere Gesellschaften, deren Auswirkungen unumkehrbar sein werden? Verwechseln wir Quantität mit Qualität? Aus philosophischer Sicht ist zu fragen, ob der medizinische Fortschritt im Bereich der Fortpflanzung dazu beiträgt, dass Frauen (und Männer) vor sich selbst, vor der existenziellen Grundtatsache des Alterns und des Todes fliehen? Führen die von der Medizin geweckten Erwartungen zu einer illusionären Einschätzung menschlicher Möglichkeiten und Grenzen? Sollte der Mensch im Allgemeinen – und in diesem Zusammenhang insbesondere die Frau – nicht das Unvermeidliche akzeptieren, und sich der Realität des Alterns, des Sterbens, und des Todes stellen? Positionen und Fragen, die mit der Forschung und Entwicklung im medizinischen Bereich zusammenhängen, müssen auch im Kontext der praktischen Philosophie diskutiert werden, um so das Bewusstsein für diese aufkommenden und sich schnell ausbreitenden Phänomene zu schärfen. Darüber hinaus sollte diese Diskussion nicht nur die Situation der Frauen verbessern, sondern auch zu einer rationaleren, vernünftigeren und verantwortungsvolleren Entwicklung unserer Gesellschaften beitragen. Andernfalls laufen wir Gefahr, dass durch diese Entwicklungen zahlreiche hart erkämpfte Errungenschaften der Frauenbewegung obsolet werden, weil Frauen einerseits wieder auf die biologischen Aspekte ihrer Existenz reduziert werden, andererseits aber selbst durch unrealistische Erwartungen bezüglich der Grenzen ihrer Fruchtbarkeit dazu beitragen, zu einem (medizinischen) Forschungsobjekt zu werden. Es ist daher höchste Zeit, dass sich PhilosophInnen im Interesse der Frauen in diese gesellschaftliche und interdisziplinäre Debatte einschalten – eine Debatte, für die im Werk und Denken Simone de Beauvoirs reichlich Material und Argumente zu finden sind.
Im Zuge meiner langjährigen Nachforschungen habe ich die bislang unzureichend erforschten Synergien in Beauvoirs Essays Das andere Geschlecht und Das Alter analysiert. Ich bin dabei auf eine Vielzahl von Überschneidungen konkreter Lebenssituationen von bejahrten Frauen gestoßen, die Anhalts- und Ausgangspunkt für die Erörterung des Nexus u.a. zwischen Altern und spätem Kinderwunsch bilden können. So dient beispielsweise die von Simone de Beauvoir bereits 1949 beklagte mythisierte Überhöhung der Frau als Mutter als konkreter Denkansatz. Denn der Mythos, demzufolge eine kinderlose Frau für die anderen aber auch für sich selbst als „unvollkommen gilt“, ist gesellschaftlich durchaus noch sehr präsent und bestimmend. Während Human-Enhancement-Technologien, wie die künstliche Befruchtung, therapeutisch zum Zwecke einer rein technisch-instrumentell verstandenen Selbst-Optimierung eingesetzt werden, betonen die Exponenten des französischen Existentialismus, darunter eben auch Beauvoir, dass es die Aufgabe des Menschen ist, sich auf selbstgewählte Ziele hin zu «entwerfen», um sein individuelles Potential durch bewusstes und zielgerichtetes Handeln zu entwickeln, und so eine freiere, gerechtere Gesellschaft zu verwirklichen. Der Grad gesellschaftlicher Instrumentalisierung von Frauen im Sinne ihrer Reproduktionsfunktion in fortgeschrittenem Lebensalter könnte auch als ein deutlicher Hinweis auf den Druck sein, dem Frauen aufgrund ihrer biologischen Disposition bzw. der gesellschaftlich-sittlich-moralischen Rahmenbedingungen ausgesetzt sind. Es gibt zum Beispiel berechtigte Zweifel, ob in der Genese des Kinderwunschs tatsächlich das Kind als eigenständiges Wesen im Vordergrund steht, oder ob nicht doch die Gefahr besteht, dass es primär auf seinen Aspekt als Objekt der Projektion individueller Selbstverwirklichung reduziert wird. Fruchtbarkeitwird also nicht mehr nur „Mutter Natur“ überlassen, sondern wird auch zum Tummelplatz individueller und gesellschaftlicher Utopien (Mythen), sowie Ideologien und (Sci-Fi-)Phantasien eines Machbarkeitswahns.
Das Spektrum, auch der rechtlichen Verantwortung von Reproduktionsmedizinern ist in dieser Hinsicht weder klar definiert noch einheitlich geregelt. Allgemein scheinen Fragen nach den Risiken künstlicher Schwangerschaften insbesondere bei Frauen im fortgeschrittenen Lebensalter in den Hintergrund zu treten. Schwangerschaften im Alter von über 45 oder 50 Jahren sind (da grundsätzlich auch „natürliche“ Schwangerschaften ab dem 35. Lebensjahr der Mutter schon als Risikoschwangerschaften gelten) nicht ohne Gefahren für Mutter und Kind verbunden. Im Gegensatz dazu scheinen ältere Väter bislang sowohl biologisch als auch gesellschaftlich einer höheren Akzeptanz zu begegnen. Elternschaft im fortgeschrittenen Alter erweist sich für Männer auch weniger als besondere Herausforderung, da diese in den meisten Fällen zu Lasten weiblicher Gesundheit (Geburt) und Freiheit (Kindererziehung und Haushalt) geht. Die Situation verschärft sich allerdings, wenn auch die Frau älter ist, d. h. sie ein erhöhtes Risiko in der Schwangerschaft und bei der Geburt trägt, d.h. eher früher als später, auch biologisch an ihre Grenzen stößt, und darüber hinaus auf Grund der psycho-physischen Belastungen, die all dies mit sich bringt. In Bezug auf gesundheitliche Risiken bei Spätschwangerschaften oder aber deren Spätfolgen (sowohl für die Frauen als auch für die Kinder), ist eine Weiterentwicklung der Gendermedizin erforderlich, die sich spezifisch schwangeren Frauen widmet, oder jenen die sich einer fruchtbarkeitsfördernden Therapie bzw. künstliche Befruchtung im fortgeschrittenem Lebensalter unterzogen haben. Da das Fortpflanzungsgeschäft blüht, sind auch die zahlreichen ökonomischen Aspekte künstlicher Befruchtung in einer späteren Lebensphase relevant und können nicht länger außer Acht gelassen werden bzw. ob eine Ökonomisierung des Kinderwunschs moralisch und ethisch zulässig ist, und wer Interesse daran hat.
Letzten Endes betreffen die Fragen, die sich hier aufdrängen, die Objektifizierung der Frau, d.h. die Reduzierung des weiblichen Körpers auf einen verfügbaren und manipulierbaren Gegenstand medizinischer Praxis. Wünschenswert ist es ein Bewusstsein für diese immer häufiger anzutreffenden Phänomene zu schaffen, um so das Leben von Frauen konkret zu verbessern und damit zu einer durchdachteren, sinnvolleren und verantwortungsvolleren gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen. Denn andernfalls ist zu befürchten, dass sich angesichts der Entwicklungen in der Reproduktionsmedizin und Biotechnologie zahlreiche hart erkämpfte Errungenschaften der Emanzipation als schwer haltbar erweisen könnten, da die Frau wiederum, wenn auch nicht auf den ersten Blick erkennbar, zum Objekt degradiert wird, oder dazu gar selbst Vorschub leistet. Es ist daher an der Zeit, dass sich Philosophinnen und Philosophen auch an diesem gesellschaftlichen Diskurs beteiligen, und – ganz im Sinne Simone de Beauvoirs – klar und entschieden auf der Seite der Frauen stehen – im Sinne der freien Entfaltung ihrer multidimensionellen Existenz.
Esther Redolfi Widmann ist Philosophin, Ethikerin und Referentin im bereich der Erwachsenenbildung. 2015 hat sie mit einer Arbeit zu Simone de Beauvoir in Innsbruck promoviert.
Literatur
Beauvoir de, Simone: Das andere Geschlecht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008.
Beauvoir de, Simone: Das Alter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008.
Redolfi, Esther: Simone de Beauvoirs existentialistische Konzeption der Frau als Spannungsverhältnis von Freiheit und Situationsgebundenheit in Das andere Geschlecht und Das Alter. Innsbruck, University Press Innsbruck, 2018.
[1]Beauvoir de, Simone: Das andere Geschlecht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008.
[2]Beauvoir de, Simone: Das Alter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008.
[3]Beauvoir de, Simone: Das andere Geschlecht, S. 860.
[4]Ebenda, S. 167.
[5]Vgl. Redolfi Esther, Simone de Beauvoirs existentialistische Konzeption der Frau als Spannungsverhältnis von Freiheit und Situationsgebundenheit in Das andere Geschlecht und Das Alter. Innsbruck, University Press Innsbruck, 2018. In meiner Dissertation konnte ich die Grundhypothese ausarbeiten, dass die Frau als Spannungsverhältnis von Freiheit und Situationsgebundenheit definiert werden kann. Dies impliziert, dass die Frau ihre gesamte biographische Existenz als permanentes, determinierendes Spannungsverhältnis erfährt. Indem ich die Evolution der philosophischen Begriffe Freiheit und Situation im Sinne einer realistischen Konfrontation mit konkreten Bedingungen weiblicher Existenzen nachgezeichnet habe, konnte ich – unbenommen aller Genderdebatten – zeigen, dass Simone de Beauvoir grundsätzlich davon ausgeht, dass die Lage der Frau sowohl durch biologisch-faktische, als auch gesellschaftlich-kontingente Bedingtheiten determiniert wird. Hierfür habe ich die spezifischen, durchaus konkreten Aspekte weiblicher Situationen in den Vordergrund der Untersuchung gerückt, und die Situation der bejahrten Frau mithilfe realer Fallbeispiele in ihren Werken Das andere Geschlecht und Das Alter detailliert analysiert.