07 Mai

Biologische und geistige Selbsterhaltung des Menschen in Zeiten der Pandemie

Von Max Gottschlich (Linz)


Die Eindämmung der ersten Welle der Covid-19-Pandemie scheint in einigen Ländern Europas gelungen zu sein. Die Zeit für Zwischenbilanzen ist gekommen. Einerseits gibt es Bilanzen im Feld der Fachwissenschaften. Da geht es um die Beurteilung der Effektivität der Maßnahmen anhand von Rechenmodellen, in die unsere „hyperkomplexe“ menschliche Wirklichkeit übersetzt wird, um Ereignisfolgen handhabbar zu machen. Andererseits wird die Frage diskutiert, ob die im Wortsinne radikalen, also an die Wurzel des Rechts reichenden Regelungen im Umgang mit der Pandemie angemessen und legitim waren und sind. Die öffentliche Diskussion und politische Auseinandersetzung damit wird lauter. Kein Wunder, geht es doch an die Substanz des modernen Lebens und Selbstverständnisses des Menschen: die Freiheit. Man fragt wieder vermehrt nach Grundsätzlichem. Man sucht größere Deutungshorizonte, in die die Handlungen und Ereignisse einzuschreiben sind.

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06 Mai

Die Krise der Rechtswissenschaften vor dem Hintergrund von COVID-19, KI und Klimawandel

Von Christoph Winter (Mexiko-Stadt / Cambridge, MA)


Armin Steinbach fragte jüngst, wo der konstruktive und lösungsorientierte Beitrag des Rechts zur Krisenbewältigung bleibe? Den Grund für das Ausbleiben dessen und den derzeitigen Fokus auf den mahnenden Zeigefinger schiebt er gleich hinterher: Demut! Der ausbleibende Beitrag ließe sich demnach auf den „bescheidenen professionalen Habitus der Juristen“ zurückführen.

Ich habe diesbezüglich meine Zweifel. Vielmehr glaube ich, dass Juristinnen, jedenfalls wenn sie sich weiterhin auf den traditionellen rechtswissenschaftlichen Methodenkompass verlassen und dabei insbesondere jede bewusste Aufrechnung unterschiedlicher Interessen unterlassen, schlichtweg wenig beizutragen haben. Dies liegt zum einen an einer in Deutschland bekanntermaßen eindimensionalen Ausbildung. Zum anderen an den mitunter wenig aussagekräftigen zentralen Verfassungsprinzipien, die in Hinblick auf die innerhalb der Debatte zentralen trade-offs nur wenig (Menschenwürde) oder (fast) gar keine (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) Orientierung geben. Näher werde ich in diesem Beitrag nur auf die verfassungstheoretische Komponente eingehen. Dabei wird deutlich, dass die Rechtswissenschaften nicht nur im Kontext der aktuellen Pandemie der Bedeutungslosigkeit entgegensteuern. Sofern sie ihre ausgeprägte Aufrechnungsaversion nicht ablegen sollten, stehen sie vor einer schweren Krise.

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02 Mai

Wir alle sind Risikogruppe

Von Alina Omerbasic (Potsdam)

Das Bild von zugunsten vulnerabler Gruppen eingesperrter gesunder Mitglieder der Gesellschaft scheint sich im öffentlichen Diskurs einer isolations-müden Gesellschaft immer schneller zu verbreiten, doch handelt es sich hierbei um ein bloßes Zerrbild der gegenwärtigen Situation, welches nicht nur ihr Kernproblem, sondern auch den eigentlichen Zweck der eingeführten Regelungen in den Hintergrund rücken lässt. Bestand dieser Zweck ursprünglich einhellig im Schutz und der Entlastung des Gesundheitssystems, so ist es nun der Schutz der „Risikogruppen“, der Alten und Vorerkrankten, der eine solidarische Einschränkung gewichtiger Grundrechte Gesunder aufwiegen soll. Da Gefühle der Solidarität bekanntermaßen keine unbegrenzt verfügbare Ressource sind, werden die gegenwärtig noch geltenden Regelungen, die zweifelsohne in ernstzunehmenden Einschränkungen bedeutender Grund- und Freiheitsrechte münden, zunehmend in Zweifel gezogen. Doch bevor nun weitere Lockerungen gefordert werden, sei an dieser Stelle nochmal daran erinnert, dass diese Einschränkungen nicht einzig dem Schutz von Mitgliedern vulnerabler Gruppen, sondern dem Schutz des Gesundheitssystems und somit all derer, die hoffen, im Ernstfall und unabhängig von einer Corona-Infektion im Augenblick oder den kommenden Wochen und Monaten optimale medizinische Versorgung erhalten zu können.

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01 Mai

Corona vs. Rationalität – zum Umgang mit Unvernünftigen

Von Timo Greger (München)

„Charakter zeigt sich in der Krise“ – dieses von Altkanzler Helmut Schmidt stammende Zitat reift in Zeiten der Corona-Krise zum Bonmot. Treffend fasst es zusammen, was man deutschlandweit in den vergangenen Wochen reichlich beobachten konnte: Corona-Partys trotz Versammlungsverbot, Massenansammlungen in den Biergärten, Flussufern und Parks dieses Landes, geflutete Baumärkte, die in Zeiten des social distancing zu wahren Freizeitparks mutieren, unsolidarische und irrationale Hamsterkäufe von Nudeln und Toilettenpapier oder Jugendliche, die wohl scherzhaft gemeint mit „Corona“-Rufen ältere Menschen anhusten. Würde man nicht gleichzeitig so viele zahlreiche von Solidarität und Empathie getragenen Handlungen wahrnehmen, wie bspw., dass gerade jüngere Menschen für ihre älteren Nachbarn die Einkäufe übernehmen, den Hund ausführen oder tatkräftig ihre Unterstützung im Gesundheits- und Sicherheitsbereich anbieten, so müsste man wohl mit Helmut Schmidt weiterdenken: Deutschland, ein Volk von Charakterlosen.

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29 Apr

Ansteckende Freiheit

Von Arnd Pollmann (Berlin)

Es war abzusehen: Je länger die coronabedingten Notgesetze und Zwangsmaßnahmen aufrechterhalten werden, umso stärker wächst der Unmut vieler Bürgerinnen und Bürger über Einschränkungen ihrer Grundrechte. Manchen Menschen scheint überhaupt erst jetzt so richtig klar geworden zu sein, dass sie diese Grundrechte haben: Mit der verhängten Kontaktsperre ist die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit außer Kraft gesetzt. Die Religions- und Gewissensfreiheit leidet, weil Gläubige nicht mehr öffentlich zusammenkommen dürfen. Zahllose Menschen können derzeit ihren Beruf oder ihr Gewerbe nicht frei ausüben. Einreise- und Aufenthaltsverbote, etwa in Mecklenburg-Vorpommern, setzten dem Recht auf Freizügigkeit „alte“, längst überwunde geglaubte Grenzen. Die Zwangsquarantäne nach Grenzübertritten beschneidet die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Und die Regierung in Sachsen erwägte gar die Einweisung von Quarantäneverweigerern in die Psychiatrie. Man muss selbst nur einmal kurz ins Grundgesetz schauen, um zu erschrecken, was unzähligen Menschen derzeit so alles an Freiheit und vielleicht auch an Würde fehlt.

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26 Apr

Von Fledermäusen und Elefanten

Von Birgit Beck (Berlin)

Niemand (außer Harald Lesch) spricht über den Elefanten im Zimmer. Elefanten im Zimmer haben es an sich, ignoriert zu werden. Der Elefant, von dem hier die Rede ist, heißt „Zoonose“ und ist schon häufiger im Zusammenhang mit Nahrungsmittelskandalen, Epidemien und Pandemien aufgetreten. Der Elefant taucht etwa in Gestalt von Schweine- oder Vogelgrippen auf, einst hieß er – ursprungsgeografisch inkorrekt – „Spanische Grippe“, danach Ebola oder SARS, heute heißt er COVID-19 (ein Nachfahre eines prominenten Opfers des vermeintlich spanischen bezeichnet den aktuellen Elefanten – politisch inkorrekt – als „Chinese virus“, zit. in dem Beitrag von Andrea Klonschinski). Der Elefant ist jedenfalls ein alter Bekannter. Aber Elefanten im Zimmer werden übersehen, selbst, wenn das Zimmer sich im Porzellanladen befindet. Wie kommt der Elefant in unser Zimmer? Der Elefant reist im Gepäck von Viren, die in Symbiose mit Wildtieren leben, zum Beispiel Fledermäusen, Schleichkatzen und (möglicherweise) Schuppentieren. Kontakt mit solchen Tieren oder gar die Aufnahme derselben in den Speiseplan kann zu einer Übertragung des Virus auf Menschen führen. Das Virus kann mutieren, seinen Wirt wechseln, wie es heißt, und fortan auch von Mensch zu Mensch weiterverbreitet werden. Das ist bei der aktuellen, ebenso wie bei der letzten Corona-Epidemie der Fall, nur findet die Verbreitung diesmal exponentiell statt, weswegen SARS-CoV-2 als ungleich gefährlicher eingestuft wird als sein Vorläufer vor einigen Jahren. Darüber kann man sich informieren (etwa auf den Seiten des Robert Koch-Instituts oder ganz schnell und oberflächlich mit ein paar Klicks bei Wikipedia) und man könnte nun darüber nachdenken, wie sich solche Pandemien in Zukunft vermeiden lassen. Nachdem die Zoonose (auch in weniger gravierenden, jedoch häufiger auftretenden Formen, etwa als Salmonellose) aber nur ein Elefant im Zimmer ist, wird lieber über andere Themen diskutiert.

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24 Apr

Medizinethik und COVID 19

Von Sabine Salloch (Greifswald)


Die gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen der COVID 19-Pandemie beeinflussen unser Leben in erheblicher, bisher oft ungekannter Weise. Individuelle Perspektiven und Einschätzungen zu Risiken, Pandemie-bezogenem Verhalten und staatlichen Maßnahme variieren erheblich und werden, meinem Eindruck nach, sowohl durch die beruflich-fachliche Perspektive als auch durch die persönliche Lebenssituation der Person geprägt, die jeweils als Sprecher*in auftritt. In der Überzeugung, dass Lebenserfahrung bei der moralischen Bewertung einen unhintergehbaren Stellenwert besitzt und dass zugleich die Erklärung von Interessenkonflikten ein zentrales ethisches Gebot darstellt, versteht sich auch dieser Beitrag als beides: als Gedankensammlung einer Medizinethikerin zum jetzigen Zeitpunkt des Pandemiegeschehens und als Ausdruck der Perspektive einer Mutter zweier (noch nicht schulpflichtiger) Kinder mit Wohnort Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern).

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22 Apr

Verletzbarkeit und Benachteiligung in Zeiten von COVID-19

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Verletzbarkeit ist nicht nur eine natürliche Eigenschaft aller Menschen, sondern sie ist stark von den sozialen Verhältnissen geprägt, in denen Menschen leben. Das sehen wir auch jetzt in Zeiten der COVID-19-Pandemie. Es ist zu befürchten, dass insbesondere jene Bevölkerungsgruppen, die von Armut, Ausgrenzung anderen Benachteiligungen betroffen sind, in dieser Pandemie zu Opfern werden.

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19 Apr

Die unausweichliche Tragik moralischer Kompromisse. Warum wir nicht mit guten Gewissen aus der aktuellen Lage herauskommen. Sind Kompromisse in der Moral tabu?

Von Véronique Zanetti (Bielefeld)

Immer lauter werden die Stimmen aus Politik und Wirtschaft, die davor warnen, dem Kampf gegen das Corona-Virus jede andere Rücksicht zu opfern. Es drohe ein Kollaps der Wirtschaft und eine Periodisierung der Pandemie-Wellen, hinter der andere notwendige medizinische Eingriffe ins Hintertreffen gerieten, ja, wegen der sozialen Isolation, eine Zunahme gesellschaftlicher Spannungen, die am Ende noch mehr Menschenleben kosten werde als das Virus selbst. Auf der anderen Seite wissen wir, dass eine Lockerung der Maßnahmen zu einem rapiden Anstieg der Covid-19-Erkrankungen führen und das Gesundheitswesen in Deutschland innerhalb kurzer Zeit mit Schreckensszenarien wie in Italien überziehen würde, wo ältere und vorerkrankte Patienten von immer knapper werdenden Beatmungsgeräten abgehängt werden.

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16 Apr

Die Corona-Krise als Chance?

Von Stefan Kunzmann (Worms)

Ein Virus erschüttert die Menschenwelt (mein Hund scheint davon nichts zu bemerken) und man könnte meinen, dass ein neues Denken die Welt jetzt wachrütteln müsse, dass nach der Krise nichts mehr so sein werde wie davor. Der ‚Shutdown‘, das ‚social‘ bzw. ‚physical distancing‘ – verändern unsere Formen des Umgangs in bisher kaum vorherzusehender Weise. Aber birgt das Virus wirklich das Potenzial, unser Leben nachhaltig zu verwandeln?

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