Die „Befreiung der Natur“ als Antwort auf die ökologische Krise

Von Max Gottschlich (Linz)


Die jüngste Auseinandersetzung mit den objektiven Rückwirkungen eines ungehemmten technisch-praktischen Naturverhältnisses in Gestalt ökologischer Krisen stellt nicht nur Ökonomie und Politik vor eine gewaltige Herausforderung, sondern zunächst und zuallererst das Denken. Denn das eigentliche Problem ist nicht unmittelbar auf der Ebene des Handelns zu lösen. Neue Normierungen für das Handeln zur Vermeidung unliebsamer Konsequenzen und zur Sicherstellung der „Ressource“ Natur für künftige Generationen zu fordern, greift zu kurz. In utilitären Kalkülen bewegen wir uns noch innerhalb des Feldes des technisch-praktischen Weltumganges, der Reduktion der Natur auf ihren Gebrauch. Teil des Problems ist auch die um sich greifende quasi-naturreligiösen Ideologie, die sich dem archaischen Gedanken des Opfers des Menschen für die Aufrechterhaltung des Vitalzusammenhanges bedrohlich annähert. In ihr schlägt jener Blick auf die Natur, der es nur mit funktionalen Tatsachen in Sachverhalten zu tun hat, auf seinen Urheber zurück, indem sich der Mensch selbst unter die Botmäßigkeit dieser Funktionalität stellt und als dysfunktionales und daher gegebenenfalls zu eliminierendes Element beurteilt.

An der Zeit ist vielmehr dasjenige, was Hegel „Befreiung der Natur“ nennt. Gemeint ist damit nicht ein Aufruf zum Aktionismus, sondern etwas viel Radikaleres: eine Revolutionierung des Bewusstseins. Diese besteht darin, dass wir den Schritt vom technisch-praktischen Naturverständnis, mittels dessen wir Natur in den alteritätslosen und entselbsteten Raum einer transparenten, zuhandenen Objektwelt verwandeln, hin zu einem Denken von Natur machen, das diese als ein anderes Selbst begreift. Erst dies öffnet den Weg für eine wirklich neue, geistvolle Kultur der Achtung und damit Erfahrung der Natur, die getragen davon ist, dass wir im Fremden der Gestalten der Natur – mit W. v. Humboldt gesprochen – „innigste Verwandtschaft“ erfahren. Doch der Weg zu einem sympathetischen Weltumgang ist nicht leicht erschwinglich. Mit Appellen zur emotionalen Identifikation mit der Natur – was Vertreter einer deep ecology fordern – ist es nicht getan. Denn in der Natur als Gegenstand der exakten Wissenschaft finde ich mich zwar als Verstand überhaupt im Sinne Kants, nicht aber als Mensch. Es bedarf einer Revolutionierung des Begriffs der Natur. Die ist aber nur durch jene Revolutionen im Begriff des Denkens selbst zu gewinnen, die mit den Namen Kant und Hegel verknüpft sind.

Hegel beschreibt in der Einleitung zu seiner Naturphilosophie die Spannweite unseres Naturverhältnisses: Da ist der sattsam bekannte, aber deshalb noch lange nicht in seinen Voraussetzungen erkannte „endlich-teleologische Standpunkt“. Es ist das technisch-praktische Naturverhältnis, das durch das Streben nach unmittelbarer Selbsterhaltung des Menschen, dem suum esse conservare bestimmt ist. Auf diesem Boden steht auch die exakte Naturwissenschaftlichkeit, denn das durch sie gewonnene Herrschaftswissen zielt auf die Verwandlung der Naturdinge zu nützlichen Objekten für die Zwecke der Freiheit. Hier spricht sich eine erste Emanzipation der Freiheit im Verhältnis zur Natur aus – die Emanzipation von und gegenüber der Natur. Freiheit interpretiert sich da als Nicht-Natur, als im Gegensatz zur Natur stehend. Nur der Mensch kann, weil er sich von der Natur wissend unterscheidet, die Natur zu seinen Zwecken gebrauchen. Das ermöglicht die Kolonialisierung der Natur durch die List der Technik, in der die Kraft der Natur gegen sie selbst gewendet wird. Dieses Recht hat der Mensch, weil in ihm die Natur zum Bewusstsein ihrer selbst gekommen ist. Doch die Hybris dieses Standpunktes besteht darin, dass sich das Bewusstsein für eine von der Natur losgelöste Macht hält. Die Natur erscheint da nur als Schranke der Freiheit, die der „Wille zur Macht“ (Nietzsche) immer weiter hinausschiebt.

Der Erfolg im fortschreitenden Zurückdrängen dieser Schranke täuscht allzu leicht darüber hinweg, dass dafür ein gewaltiger Preis zu entrichten ist:

Einerseits zahlen wir den Preis der äußersten Entfremdung von der Natur als einer sich zeigenden, manifestierenden Natur. Von der Natur bleibt da nur der Raum, in dem der erklärende Verstand seine Identität kontinuiert – da darf es keine Alterität geben.Diese Verwandlung von Natur in eine beherrschbare Objektwelt wirklich zu begreifen, wäre das vorrangige Desiderat, wenn es um einen wirklichen Fortschritt im Bewusstsein der Natur geht. Der Weg dazu führt über Kant. Denn – wie Bruno Liebrucks herausgearbeitet hat – die „Kritik der reinen Vernunft“ ist die erste logische Aufklärung der Genese und der Grenzen des Herrschaftswissens. Die Trennung zweier Erkenntnisstämme, die Restriktion der wissenschaftlichen Erkenntnis auf Modelle von Erscheinungen sowie die Setzung des Dings an sich als unerkennbares Dawider des Erkennens macht diese Entfremdung von jedweder sich manifestierenden Natur deutlich. Wir sehen hier, dass diese Entfremdung notwendig zur Etablierung des wissenschaftlichen, technisch-praktischen Weltumganges dazugehört. Nur dann, wenn wir Natur als ein System von Erscheinungen unter allgemeinen Gesetzen betrachten, ist sie beherrschbar.

Andererseits entfremdet sich auf diesem Standpunkt das Denken von sich selbst als wirklicher Weltumgang: Es versteht sich bloß als Funktion zur Herstellung gegenständlicher Bestimmtheit, von Wittgensteinschen Tatsachen in Sachverhalten, als mechanisches, automatisierbares Deduktionsverfahren. Dementsprechend wird heute Logik fast ausschließlich instrumentell verstanden.

Diese Entfremdung reicht freilich bis zur Anschauung. Die menschliche Anschauung muss sich einer ganz bestimmten Disziplinierung unterwerfen. Im wissenschaftlichen Weltumgang darf es, wie sich an Kant zeigt, so etwas wie eine individuelle Anschauung von Räumen und Zeiten, die mit geschichtlich vermittelten Bedeutungscharakteren aufgeladen ist (man denke an Vicos universale fantastico), nicht geben. Vielmehr ist hier die Anschauung nur als von vornherein schematisierte zulässig. Sie darf von ihr selbst her keinerlei Bedeutung enthalten, wenn sich in der Gegenstandskonstitution alle Bestimmtheit des anschaulichen Materials dem Verstandesbegriff verdanken können soll. Es ist eine Anschauung, in der wir blind für alles Übergegenständliche, alles Selbsthafte und Individuelle werden, wenn sie habituell wird. So fällt also dieses Tun auf unsere Weltbegegnung zurück. Die Philosophie könnte zur Aufklärung dieser Zusammenhänge einen großen Beitrag leisten, wenn sie endlich die verfehlten ontologischen und erkenntnistheoretischen Kantinterpretationen hinter sich ließe und Kant als Logiker ernst nähme.

Kant fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher und damit eindeutig aussagbarer Erfahrungen. Die Grundfrage lautet: Welches sind die Möglichkeitsbedingungen a priori von Wissenschaft als angewandter formaler Logik? Hier beginnen wir die eigentliche, nämlich logische Dimension unseres Problems zu sehen: Es geht um die Frage nach der Erkenntnisdignität formaler Logik. Die Antwort darauf ist ein System prinzipiell anzusetzender Möglichkeitsbedingungen für den wissenschaftlichen Verkehr mit der Natur. Das Resultat lautet: Die Reichweite formallogisch korrekten Denkens, das zugleich Sachhaltigkeitsanspruch erheben kann, erstreckt sich nur soweit, als eindeutige, widerspruchsfreie gegenständliche Bestimmungen an Anschauungsgegenständen vorgenommen werden können. Damit ist das ultimative Prokrustesbett für die Erkenntnis der Natur errichtet. Liebrucks spricht in diesem Zusammenhang von einer „Welt der Positivität“. In dieser darf es keine Selbstbewegung, kein Selbstverhältnis, mithin kein Leben geben. Der wissenschaftliche Verstand erreichtet hier auf dem Seziertisch der Eindeutigkeitsforderungen ein Totenreich. Die Grenze dieses Standpunktes wird spätestens in der dritten Kritik evident, wenn es um das Organische als den „Naturzweck“ geht.

Hegel kann im Unterschied zur formallogischen Ontologie, zu Kant, ja noch zu Schelling aufgrund seiner Revolution im Begriff der logischen Form – kurz gesagt: der Begriff als sich selbst bewegende, sich bestimmende Identität des Subjektiven und Objektiven – auf eine logisch ausgewiesene Weise vom Lebendigen sprechen. Damit erneuert Hegel den Ansatz des Aristoteles, die Natur vom Lebendigen her zu denken (phýsei on) her zu denken. Hegel betont daher, dass der adäquate Begriff der Natur nicht erreicht ist, solange wir nicht Natur in ihrer Totalität als Präsenz der „Idee“, als Präsenz wirklicher innerer Zweckmäßigkeit erfassen. Dies nennt er die „wahre teleologische Betrachtung“. In ihr denken wir „die Natur als frei in ihrer eigentümlichen Lebendigkeit“.  Das praktische Interesse tritt hier zugunsten eines genuin theoretischen Interesses im Sinne der aristotelischen theoría zurück. Der Blick ist auf die innere Zweckmäßigkeit der Natur, die Natur als lebendige Totalität gerichtet (was im Gedanken des „Ökosystems“ nur abstrakt anklingt).

An diesem Punkt liegt die größte Herausforderung im Denken im Anschluss an Kant: Mit welchem Recht können, ja müssen wir auf innere Finalität rekurrieren, ohne hinter Kant in eine naive Ontologie zurückzufallen? Diese Frage muss für alle Ansätze der Naturphilosophie und Bioethik (z.B. Hans Jonas), die nicht im Zuendedenken von Kant zur Dialektik gelangt sind, aporetisch bleiben. Denn um den inneren, bewegenden Zweck der Natur zu begreifen, ist der Durchgang durch die Hegelsche Logik erforderlich. Dieser Zweck ist nichts anderes als die höchste Kategorie dieser Logik, die „Idee“: die Entsprechung selbst, die Totalität der Vernunft. Die Natur ist nicht mehr gefasst als kantisches Dasein unter Gesetzen, das Material vernunftgeleiteter Subsumtion, sondern sie ist Präsenz der Vernunft, freilich im Modus der Andersheit, der Äußerlichkeit in Raum und Zeit. Doch die Natur ist darin anderes Selbst, dass sie an ihr die Überwindung dieser Äußerlichkeit vollbringt, indem sie sukzessive reichere Formen von Selbstverhältnissen ausbildet – vom physikalischen und chemischen Objekt bis hin zum Organismus und zu jenem Punkt, an welchem die Natur im Ich die Augen aufschlägt (Adorno). Diese Betrachtungsweise ist die wahrhafte Teleologie, von der Hegel spricht. Dort, wo sich Selbstverhältnisse etablieren – beginnend von der Bewegung des physikalischen Objekts bis hin zum Organismus und seinen Trieben – kommt uns Vernunft entgegen.

Die Natur ist damit als integrierender Lebenszusammenhang gedacht, dem wir nicht bloß äußerlich angehören, wie dies der Standpunkt der ersten Emanzipation meint.  Die Natur ist der Freiheit nicht äußerlich. So setzt Hegel zu Beginn seiner Geistphilosophie die bedeutungsschweren Worte: das Ich setzt sich als Ich – aber „zugleich nur als Zurückkommen aus der Natur“. Das Bewusstsein ist erst als Zurückkommen aus der Natur konkrete, individuelle Identität mit sich – ein Gedanke, der über Kant und Fichte hinausgeht. Ein unmittelbares Selbstverhältnis, das sich nicht über den Umweg einer Weltauseinandersetzung konstituierte, gibt es nicht. Unser Selbstverhältnis ist vom Verhältnis auf unser Anderes, die Natur und den anderen Menschen, nicht abtrennbar. Das zeigt sich nicht nur in den unmittelbarsten Formen von Geist im Sinne der Hegelschen Anthropologie, sondern hält sich auf allen Stufen durch. Ich verweise nur auf das Involviertsein der Natur dort, wo es um die Verwirklichung der Freiheit geht. Ohne Mithilfe der Natur gelangt Freiheit als „Recht“ im Sinne Hegels, also die Selbstaffirmation der Freiheit, zu keinem Dasein – vom abstrakten Recht, dem Eigentum, bis hin zur Sittlichkeit im Sinne der Familie, Ehe, dem System der Bedürfnisse, Wirtschaft und Staat.

Sobald dies begriffen und anerkannt ist, ist die Befreiung der Natur im Bewusstsein vollbracht und die Hybris der Freiheit, sich als völlig losgelöste Macht über die Natur zu verstehen, überwunden. Wir können das die zweite Emanzipation nennen – die Emanzipation von der ersten Emanzipation. Hier wird erkannt, dass die Natur nicht bloß äußeres Mittel, sondern notwendiges Mittel ist, also von der Freiheit selbst als Zweck nicht abtrennbar ist. Nach Hegel ist Freiheit die Negation der Natur, die ihr Dasein nur vermittels der Natur haben kann. Erst diese Einsicht ermöglicht einen freien Blick auf die innere und äußere Natur, einen Blick, in dem das unmittelbare Bedürfnis schweigt – ein „Beisichsein im Anderen“ mit Blick auf den natürlichen Grund unserer Existenz.

Daraus folgt die Pflicht, die Natur als diesen Grund zu achten. Diese Achtung vermittelt sich nicht bloß, wie bei Kant, über die Selbstachtung als Vernunftwesen, sondern über den Gedanken des Beisichseins im Anderen. Erst diese Achtung ist die bestimmte Negation des Willens zur Macht und seines Imperativs: du sollst, weil du kannst. Nicht alles, was an der Natur kolonialisierbar ist, soll kolonialisiert und als Ressource verwertet werden. Natur hat – in dem dann gegenwärtigen Bewusstsein ihrer Befreiung – ein Recht auf einen Raum des Selbstseinkönnens gewonnen, wie auch ihr Gebrauch prinzipiell vor dem Abgrund der Maßlosigkeit bewahrt wird. Auf dem Boden dieses Bewusstseins wäre die Frage, worauf wir im Gebrauch der Natur verzichten können und sollen, zu bedenken.


Ass.-Prof. DDr. Max Gottschlich lehrt am Institut für Praktische Philosophie/Ethik der Katholischen Privatuniversität Linz. Arbeitsschwerpunkte: Logik, Grundlegungsfragen der praktischen Philosophie, Philosophie der Sprache, Naturphilosophie.