Neue Technologien – neue Kindheiten?

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Techniken und Technologien spielen während der Kindheit eine immer größere Rolle. Kinder und Jugendliche verwenden fast täglich neuere Techniken wie PCs, Tablets, Smartphones, das Internet, Soziale Medien, Software oder Computerspiele ebenso wie Eltern, Schulen und Unternehmen. Technologische Entwicklungen in der KI, Robotik und Digitalisierung werden in den nächsten Jahren die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen weiter verändern. Techniken können dabei unterstützend und fördernd wirken aber auch disruptiv und neue Gefahren erzeugen. Die Bewertung dieser Gefahren und die Frage, welche Techniken von Kindern, mit Kindern und für Kinder verwendet werden sollen oder dürfen, stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit.

Kindheit ist nicht bloß eine natürliche, sondern vor allem auch eine soziale Kategorie (Kelle 2019). Eine natürliche Kategorie ist Kindheit, weil sich Kinder von Erwachsenen durch naturwissenschaftlich-medizinisch feststellbare Eigenschaften, die typisch für Kinder sind (also auch eine Variabilität und Plastizität in ihrer Ausprägung zeigen), von Erwachsenen unterscheiden. Eine soziale Kategorie ist Kindheit, weil eben diese Eigenschaften für soziale Normen und Praktiken relevant sind und weil zu diesen biologischen Eigenschaften andere, soziale Eigenschaften hinzukommen, die Kindern zugesprochen werden und ihren Status in einer Gesellschaft bestimmen. Kindheit ist also weder alleine naturwissenschaftlich-medizinisch noch alleine sozialwissenschaftlich bestimmbar; sie wird sowohl festgestellt als auch durch menschliches Handeln konstruiert. Die Grenzen zwischen Kindern und Nicht-Kindern, am Anfang und am Ende der Kindheit, sind fließend, ungenau und porös. Die Biologie und Medizin können Hinweise darauf geben, welche Eigenschaften Kinder typischerweise haben und die Erwachsenen plausibler Weise nicht zugeschrieben werden können, sie können aber weder festlegen, ob Kindheit dadurch ausreichend bestimmt ist, noch wie eine Gesellschaft diese Eigenschaften interpretiert, um Kindheit in sozialer, politischer, rechtlicher oder moralischer zu rekonstruieren (Giesinger 2019). Das wird insbesondere bemerkbar, wenn es um Grauzonen und Grenzfälle geht. Die Grenzen zwischen Kindern und Nicht-Kindern, am Anfang und am Ende der Kindheit, sind fließend, ungenau und porös und weder natur- noch sozialwissenschaftlich exakt bestimmbar. Sie sind daher auch gesellschaftlich variabel und kulturell unterschiedlich auslegbar. Philosophisch relevant ist diese Vagheit des Begriffs der Kindheit und seine Eingespanntheit zwischen Natur und Kultur vor allem auch, weil Kindheit ein normativ geladener Begriff ist, der für Moral und Recht bedeutsame Implikationen in sich trägt (Archard und Macleod 2002; Schickhardt 2012). Um einen etwas kruden Vergleich zu bemühen: es ist ein normativ bedeutsamerer Unterschied, ob ein Mensch als Kind oder Erwachsener eingeordnet und anerkannt wird, oder ob dieser Mensch als Bayer oder Franke gesehen wird. Kinder gelten als verletzlicher, als unvernünftiger, als unfreier und als bedürftiger als Erwachsene – sie haben weniger Rechte und Pflichten bzw. haben sie andere Recht und Pflichten (Archard 2004). Interessanterweise spielt es dabei nur eine geringe Rolle wie sich die betreffende Person selbst sieht und zumeist ist eine eigene Zuordnung zur Kategorie der Kinder oder der Erwachsenen ausgeschlossen, da diese beiden in Altersgrenzen eingeordnet werden und die Selbstbestimmung über das Alter als unmöglich angesehen wird – im Unterschied etwa zur Selbstbestimmung über das eigene Geschlecht, der Religion oder vielleicht sogar der Ethnie.

Techniken sind während der Kindheit stark präsent. Sie prägen die Kindheit, vermutlich mehr als früher, obwohl keine menschliche Kindheit je ohne Techniken ausgekommen ist, da der Gebrauch von Technik zum menschlichen Dasein als conditio humana gehört. Technik ist ein solcher Begriff, der sich einfachen Definitionen zu sperren scheint, da er entweder zu weit oder zu eng gefasst wird (Grunwald 2013). Technik als die Gesamtheit aller künstlichen Dinge und der Handlungen, die sie hervorgebracht haben, wäre so eine weite Definition. Dann wäre fast alles, was den Menschen heute in den Städten aber auch am Land umgibt, Technik, da auch die Natur durch den Eingriff des Menschen stark geprägt wurde (Stichworte: Landwirtschaft und anthropogener Klimawandel). Welches Verständnis von Technik man auch zu Grunde legen will, um einen technikphilosophischen Zugang zum Verhältnis von Kindheit und Technik zu bekommen, man wird nicht umhin können, festzustellen, dass Techniken in mindestens dreifacher Hinsicht eine Rolle im Leben von Kindern spielen. Diese sind dabei eingebettet in soziale Zusammenhänge, die sich durchaus zwischen Gesellschaften und Kulturen unterscheiden. Stark vereinfacht gesagt, würde ein globaler Blick auf Technik und Kindheit zeigen, dass Techniken zwar überall eine Rolle spielen, aber stark ungleich verteilt sind, was die Lebensqualität beeinträchtigt, weil manche Kinder auf problematische Weise nur einen mangelnden Zugang zu relevanten Techniken und technisch verfertigten Artefakten haben (z.B. keinen Strom, keine Sanitäranlagen, keinen Zugang zu medizinischen Geräten).

Erstens sind Techniken verfügbar, Kindheit zu ermöglichen und zu begrenzen. In einem relativ einfachen Sinne ist das an der medizinischen Begleitung von Schwangerschaft und Geburt abzulesen, die sich von einfachen ärztlichen Handlungen hinzu modernen Formen der Befruchtung und der Einsetzung einer Blastozyste über die Überwachung von Schwangerschaften durch Ultraschall bis zur technikbasierten Geburt mittels Kaiserschnitt erstrecken (Marx und Scheerer 2019). Im Anschluss daran die technisch unterstützte frühkindliche Versorgung und Betreuung. In den westlichen, hochtechnisierten Gesellschaften ist Schwangerschaft und Geburt kein technikfreier Raum und diese Techniken sind zunehmend in der Lage, Kinder nachhaltig zu prägen und werden dazu eingesetzt, zu entscheiden, welche Kinder überhaupt existieren dürfen und welche nicht. Viele Kinder gäbe es ohne den technisch-medizinischen Fortschritt gar nicht. Am andere der Kindheit stehen wiederum Techniken. Das sind Techniken, die helfen zu entscheiden, wer noch ein Kind ist – etwa im Falle der Altersfeststellung durch Röntgen der Fingerknochen bei jungen Asylwerbern (Noll 2016). Oder aber alltäglicher Techniken, wie das Ausstellen eines Reisepasses, der das Alter vermerkt und somit allen, die ihn lesen, eindeutig das Signal gibt, dass es sich hier um einen Erwachsenen und kein Kind mehr handelt. Wer einem Menschen auf der Straße begegnet kann durchaus unsicher sein, ob das Gegenüber noch ein Jugendlicher, also ein Kind, oder schon ein Erwachsener ist und es sind Artefakte, die dann weiterhelfen können. Andere Formen der Technik, die Kinder bzw. Erwachsene produzieren sind im Einsatz bei Gericht, wo Gutachter herangezogen werden, die mittels Tests, eine Einordnung vornehmen, ob jemand noch nach dem Jugendstrafrecht zu verurteilen ist oder schon als Erwachsener (Günter 2008).

Zweitens beeinflussen Techniken in erheblichem Maße die körperliche und seelische Entwicklung von Kindern. Auch hier gibt es sehr invasive Techniken, etwa der Geschlechtsanpassung oder –umwandlung (Thyen u. a. 2005), die den Körper nachhaltig ändern. Techniken sind auch für Kinder mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen heute nicht mehr wegzudenken, zum Beispiel künstliche Herzklappen, Rollstühle, Implantate, Computer, um Bücher in Brailleschrift lesen zu können und sehr viel mehr. Techniken sind hier Mittel, um Körper und Psyche zu verändern, sie sind auch Mittel, um mit dem Körper etwas tun zu können und ihn zu unterstützen. Techniken sind also einmalig (im Falle einer Operation) und kontinuierlich (im Falle des Rollstuhls) präsent. Das sind Techniken, die darauf zielen, den Körper und die Psyche on Kindern zu verändern, anzupassen, zu normalisieren oder auch zu verbessern.

Drittens gibt es Techniken, die im Unterschied zu den gerade genannten im Alltag von (fast) allen Kindern präsent sind. Viele davon sind auch nicht kindspezifisch, zielen also nicht darauf ab, nur oder vor allem das Leben von Kindern zu verändern. Klassische Beispiele wären hier das Auto, die Waschmaschine, das Handy, das Internet, die Wahlkabine oder das Kondom. Alle diese Dinge können im Leben von Kindern eine große Rolle spielen, sie wurden aber nicht speziell für Kinder gemacht und zielen auch nicht nur auf Kinder ab. Es macht offensichtlich für ein Kind am Land einen großen Unterschied, ob die Eltern ein Auto haben, ob es einen Bus gibt oder ob es ein Fahrrad hat. Techniken können ein- und ausgrenzen, sie können ermöglichen und einschränken und sie können beschützen und gefährden. Andere Techniken sind speziell für Kinder gemacht worden. Entweder damit Erwachsene sie einsetzen, um im Leben von Kindern etwas zu verändern oder weil sie für den Einsatz durch Kinder und zwar vor allem oder nur durch Kinder hergestellt wurden. Klassisches Beispiel für das letztere sind Spielsachen. Ja, auch Erwachsene spielen mit Puppen und kleinen Autos, aber sie sind doch prinzipiell kindspezifische Artefakte, die durch Techniken hergestellt werden, und wiederum auch Techniken, im Sinne von Handlungsformen, vermitteln. Wenn man einen etwas begrenzteren Technikbegriff anwenden will, dann kann man bei kindspezifischen Techniken auch an Chatrooms für Kinder im Internet denken oder an Kinderfilme im Kino und auf Netflix. Techniken, die für die Benutzung durch Erwachsene aber mit Blick auf Kinder gemacht wurden, sind ebenso zahlreich und aus dem Alltag der meisten Eltern, Verwandter, Freunde wie auch anderer Personen, die professionell mit Kindern zu tun haben, nicht mehr wegzudenken. Das sind Techniken zur Überwachung mittels Babyphon oder der Babytrinkflaschenwärmer, technikbasierte Pädiatrie und andere medizinisch-pflegerische Maßnahmen, oder Techniken, die im schulischen Alltag zur Anwendung kommen etwa Software zur Notenaufzeichnung und zur Auswertung von Tests usw.

Was lässt sich also angesichts der Omnipräsenz von Technik im Leben von Kindern gehaltvolles darüber sagen? Bleiben nur Binsenweisheiten wie dass alles kompliziert ist und alles seine Vor- und Nachteile hat? Hoffentlich nicht. Wir wollen kurz versuchen, die Fragen zu sortieren. Da sind Fragen nach der Präsenz von Techniken und was diese eigentlich bewirken. Diese Fragen sind vor allem empirischer Natur. Ist Handystrahlung schädlich für die Gehirnentwicklung? Wie viele Kinder benutzen Chatrooms? Welche Eltern fahren ihre Kinder mit dem Auto in die Schule? Das alles sind legitime und sinnvolle Fragen und wir brauchen darauf Antworten, um überhaupt die Diskussion führen zu können, welche Techniken die Kinder, die Eltern oder der Staat oder wer auch immer benutzen, reglementieren oder verbieten soll. Damit sind wir schon beim zweiten Bündel an Fragen, welches für die Philosophie und Pädagogik, und damit auch für diesen Band, relevanter sind. Fragen der Ethik, des Sollen und Dürfen und Fragen des Sinns. Das betrifft alle oben genannten Bereiche, in denen Techniken im Leben von Kindern präsent sind. Dürfen staatliche Behörden im Zuge von Asylverfahren junge Menschen zu Alterstests zwingen oder auffordern? Dürfen Frauen Kinder abtreiben? Soll der Staat allen Eltern IVF oder Pränataldiagnostik zugänglich machen? Haben Kinder ein Recht auf Zugang zum Internet – und wenn ja ab welchem Alter und in welcher Form? Soll der Staat Gesetze einführen, die es Eltern verbieten, ihre Kinder mittels implantierter Chips zu überwachen? Auf diese und andere Fragen Antworten zu suchen, ist eine Aufgabe und ein Interesse der Philosophie und der Ethik – wobei diese Disziplinen dafür nicht alleine zuständig sind. Auf der einen Seite bedarf es der gründlichen empirischen Forschung, die in die normative Theoriebildung einfließt, auf der anderen Seite sind viele dieser Fragen nur durch die Einbindung der relevanten Stakeholder auf gesellschaftlicher und politischer Ebene beantwortbar. Ethische Forschung ist entsprechend nicht dazu da ist, Gesetze zu erlassen oder gar zu exekutieren. Sie kann jedoch Argumente abwägen und ausweisen, was sinnvolle Antworten wären, an denen sich Eltern, Politik und Recht orientieren sollten, aber sie kann und soll demokratische und deliberative Prozesse nicht aushebeln. Dennoch ist es nötig, dass sich die Philosophie und Ethik ihrer normativen Begriffe und Theorien versichert und wie deren Anwendung auf das Verhältnis von Technik und Kindheit umgesetzt werden kann. Schließlich hat sich in der normativen Diskussion ein ganzes Bündel an relevanter Konzepte herausgebildet, die alle vielversprechend sind, da sie unterschiedliche Aspekte der Rolle von Techniken im Leben von Kindern hervorheben. Techniken können Kinder verletzlicher machen, sie aber auch schützen; sie können sie in ihrer Autonomieentwicklung und –ausübung unterstützen, Kinder aber auch kontrollieren und unfrei machen; sie können das Kindeswohl fördern oder gefährden; der Zugang zu bestimmten Techniken kann ein kindliches Recht sein, während der Verbot der Verwendung anderer Techniken für Kinder, nicht nur Recht, sondern Pflicht der Eltern oder des Staates ist. Techniken können Eintrittsstellen der Entwürdigung und Demütigung (durch andere Kinder oder Erwachsene) sein. Es kann ungerecht sein, wenn manche Techniken nur einigen Kindern vorenthalten sind, während solche Ungleichheit in anderen Fällen keinen Grund zur moralischen Kritik bietet. Man sieht bereits, dass hier mit Verletzlichkeit, Autonomie, Kindeswohl, Rechten, Würde und Gerechtigkeit unterschiedliche normative Begriffe eingeführt wurden (Drerup und Schweiger 2019; Gheaus, Calder, und De Wispelaere 2018), die sich zur ethischen Analyse und Kritik von Techniken im Leben von Kindern zu eignen scheinen. Das jeweils zu prüfen und durch zu denken und zu argumentieren, ist die Aufgabe der Philosophie. Sie wird dabei versuchen müssen, konkret zu werden, also anwendbar, aber dem sind Grenzen gesetzt; es bleibt ein Grad der Vagheit und Offenheit.

Die Vagheit ethischer Theorie, die sich auf die reale Welt beziehen will, resultiert aus mehreren Quellen: Sie ist deshalb vage, weil sie zumeist nicht mit dem Einzelfall beschäftigt ist. Philosophie und Ethik wollen prinzipiell ergründen, ob bestimmte Normen und Praktiken gut begründet sind, und sie kann auch danach trachten, Prinzipien der Anwendung dieser Normen auf Einzelfälle zu diskutieren, dabei bleibt aber immer ein Spielraum. Es ist eine Sache der Abwägung ähnlich der Anwendung von Rechtsprinzipien und Gesetzen in einzelnen Gerichtsverfahren und Urteilen (Paulo 2016). Im Falle der Technik im Leben Kindern mag es eine sinnvolle Norm zu sein, dass Eltern den Technikzugang immer dann beschränken sollen, wenn er das Kindeswohl gefährdet ohne höherwertige Normen zu begünstigen, aber die Abwägung im Einzelfall bleibt dann bei den Eltern. Ethik und Philosophie sind auch deshalb vage, weil sie selbst epistemisch begrenzt sind (Herzog 2012). Sie werden ja schließlich von Menschen gemacht, die auch als Kollektiv, nicht immer über alle nötigen Informationen verfügen, und sich darüber hinaus auch noch öfters widersprechen. Das ist in einem solchen Falle, wie dem der ethischen Durchdringung von Technik im kindlichen Alltag besonders offensichtlich. Über viele Auswirkungen neuer Techniken auf Kinder und ihr Wohlergehen ist noch zu wenig bekannt. Mache Auswirkungen sind noch unbekannt, weil sie noch nicht erforscht wurden, andere Dinge sind noch unbekannt, weil sie erst im Begriff sind, sich in der Masse durchzusetzen oder die Technik erst in Ausreifung befindlich ist (z.B. Roboter im kindlichen Alltag). Epistemische Beschränkungen sind aber auch deshalb vorhanden, weil es sich bei diesen Fragen oft um solche handelt, wo normative Entscheidungen der Beurteilung von Auswirkungen und Effekten vorgelagert sind. Effekte sind also zu interpretieren, da sie für sich nichts aussagen. Und es fehlt mitunter der Vergleichsmaßstab und die Abwägung von Gütern wie auch Rechten ist komplex. Kindern mögen Freiheitsräume zustehen, aber ab wann ist die Gefahr zu groß? Klar ist: jede sexuelle Beziehung zwischen Jugendlichen birgt (auch technikbasierte) Risiken (wie z.B. die Verbreitung von sexuellen Bild- oder Videoaufnahmen) , aber ab welchem Risiko sollen oder müssen Eltern oder andere einschreiten (Graf und Schweiger 2017)? Epistemische Beschränkungen ergeben sich aus der Drastik von Veränderungen, also ihrer Ubiquität und Tiefe, mit der sie ins soziale Leben eindringen. Es geht ja nicht immer nur um nachträglich Einschätzungen, sondern auch um prospektive ethische Beurteilungen, was kommen sollte, was gefördert werden darf und was nicht. Nachträglich zu sagen, es hätte doch nicht allen Kindern ein Mikrochip ins Gehirn gepflanzt werden sollen, ist angesichts der möglichen Folgen und der Irreversibilität wohl nicht ausreichend. Ethische Reflexion muss auch deshalb relativ vage und offen bleiben, weil sie der gesellschaftlichen Deliberation und Selbstbestimmung, ja der Autonomie der betroffenen Personen, einen hohen Wert zu spricht. Zumindest tun das die meisten ethischen Theorien und das ist auch in der Pädagogik so. Für Kinder ist das ein schwieriges Terrain, da diese ja erst zu solchen selbstbestimmten  Personen werden (sollen), es aber oft noch nicht sind (Giesinger 2007; Anderson und Claassen 2012). Daher wird ihre Stimme und ihre Entscheidung auch zumeist weniger ernst genommen. Es ist also wohl nicht ausreichend für die moralische Legitimität einer Technik, dass Kinder sie wollen (auch wenn dadurch andere nicht gefährdet werden). Dennoch ist es so, dass Kinder vor der Willkür ihrer Eltern und anderer, auch des Staates, gerade deshalb geschützt werden sollten, weil sie noch nicht vollständig autonome Personen sind. Schließlich wollen wir nochmals zu Kindheit als natürlicher und sozialer Kategorie zurückkommen. Es dürfte schon klar geworden sein, dass Techniken in beide Dimensionen der Kindheit eindringen. Sie sind in der Lage die Natürlichkeit, also die biophysische Integrität von Kindern zu verändern. Und zwar massiv und langfristig. Techniken erlauben es Kindern und Erwachsenen Körper auf neue Art und Weise zu bewegen, zu erfahren und zu modifizieren. Dieser körperliche Aspekt von Techniken, gerade auch solcher die virtuell sind, sollte nicht vernachlässigt werden. Die sitzende Lebensweise, die durch PC, Internet, Gaming etc. befördert wird, macht etwas mit den Körpern dieser Kinder und ihrer körperlichen Entwicklung, genauso wie Displays, Strahlung, schnelle Bilder etc. etwas mit den Gehirnen dieser Kinder macht. Der Einfluss der Pille auf den Körper und die Psyche der Mädchen, die sie nehmen, ist hier ebenso zu nennen, wie die dadurch ermöglichte sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung (ein Thema, das vielleicht in den westlichen Ländern weniger im Vordergrund steht, aber beim Blick auf die Raten ungewollter Schwangerschaften jugendlicher Frauen in manchen Entwicklungsländern ändert sich die Perspektive) (Cook und Dickens 2000). Techniken sind aufs engste mit Kindheit als sozialer Kategorie verknüpft. Es geht hier um Technikzugänge und –beschränkungen (simples Beispiel sind Altersgrenzen im Kino und bei Videospielen oder das Verbot, mit zwölf Jahren einen Führererschein zu machen oder eben die Frage, ab wann ein Mädchen selbst entscheiden darf, die Pille zu nehmen). Welche Techniken im Leben von Kindern gewollt, erwünscht, erlaubt sind, ergibt sich nicht alleine aus deren Einfluss auf die natürliche Seite der Kindheit, sondern erst, wenn wir über soziale Normen und Praktiken nachdenken und diese kritisch reflektieren. Hier ist eine Überforderung festzustellen. Es scheint so, dass die Techniknutzung durch Kinder diese selbst, die Eltern, andere Erwachsene aber auch den Staat und seine Institutionen überfordert. Es ist unklar, was erlaubt sein sollte und was nicht. Es geht hier viel um Intuitionen und unreflektierte in kulturellen Vorstellungen geronnene Bilder von Kindheit, die den Diskurs und das alltägliche Handeln antreiben. Die sozialen Praktiken ändern sich aber rapide. Nicht nur die von Kindern. Auch fast alle Eltern haben ihr Smartphone permanent in der Hand: zu Hause, am Kinderspielplatz, am Esstisch (Montag 2018).  Es ist ein Anliegen von Philosophie, Ethik und Pädagogik hier die intellektuellen Ressourcen zu nutzen, die einer Gesellschaft zur Verfügung stehen, um die Nebelschwaden etwas zu lichten und die relevanten Fragen und Probleme, wenn schon nicht abschließend zu beantworten und zu bearbeiten, so doch zumindest systematisch  zu klären und Reflexionen zur Verfügung zu stellen, die für die soziale Praxis relevant sein können.


Der Band „Neue Technologien – neue Kindheiten? Ethische und bildungsphilosophische Perspektiven“, herausgegeben von Marc Fabian Buck, Johannes Drerup und Gottfried Schweiger, ist im Oktober 2020 im J.B. Metzler Verlag erschienen. In diesem Band werden systematische ethische und erziehungs-, bildungs- und kindheitsphilosophische Fragen diskutiert, die sich im Umgang mit neuen Technologien und Techniken stellen. Hierzu zählen z.B. Fragen der folgenden Art: Wie sind (Neben-)Folgen der Einführung von AI-Systemen in Unterricht und Schule zu verstehen und zu bewerten? Dürfen Eltern die Fotos ihrer Kinder auf Facebook teilen? Welche Möglichkeiten und Fallstricke bietet die Nutzung von Robotern in pädagogischen Kontexten? Welche Rolle spielen neue Technologien bei der Gestaltung des Generationenverhältnisses und für technisch vermittelte und realisierte „Regime der Kindheit“?


Gottfried Schweiger arbeitet am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Dort forscht er hauptsächlich im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Er hat einige Texte zur COVID-19 Pandemie für Blogs und Zeitungen verfasst. Gottfried ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie, der Buchreihe Philosophy and Poverty bei Springer, der Buchreihe Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven bei J.B. Metzler. Seit 2013 organisiert er gemeinsam mit Michael Zichy, und Martina Schmidhuber an der Universität Salzburg die Tagung für Praktische Philosophie. Mit Johannes Drerup koordiniert er das Netzwerk Philosophie der Kindheit und hat das Handbuch Philosophie der Kindheit bei J.B. Metzler herausgegeben.

Literatur

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Thyen, Ute, Hertha Richter-Appelt, Claudia Wiesemann, Paul-Martin Holterhus, und Olaf Hiort. 2005. „Deciding on Gender in Children with Intersex Conditions: Considerations and Controversies“. Treatments in Endocrinology 4 (1): 1–8. https://doi.org/10.2165/00024677-200504010-00001.