Epistemische Verletzlichkeit und gemachte Unwissenheit

von Christina Schües (Lübeck)


Verletzlichkeit

Das Gefühl, in die Unwissenheit verbannt zu werden und seinen Sinnen nicht mehr trauen zu können, macht Menschen verletzlich. Verletzlichkeit ist ein Begriff, der sich auf das Leben, den Körper, die Sprache, Gefühle, aber auch die Wissensordnung bezieht. Die Verletzung gehört in den Bereich einer negativen Sozialphilosophie, die davon ausgeht, was normativ nicht sein soll. Verletzlichkeit bedeutet, dass jemand noch nicht verletzt ist, dass aber durchaus eine Empfindlichkeit, eine Sensibilität, eine Beziehungskomponente, ein Verhältnis existieren, welche Verletzungen – die nicht sein sollen – möglich machen. Der Begriff der Verletzlichkeit richtet sich auf die existentielle körperliche, sprachliche, soziale oder rechtliche Unsicherheit oder Zerbrechlichkeit der einzelnen Person und deren Beziehungen. Menschen sind anderen ausgesetzt und mehr oder weniger verletzlich entsprechend innerer und äußerer Faktoren. Diese Faktoren richten sich nicht nur auf Bedingungen der körperlichen Konstitution oder der Umwelt, sie beziehen sich auch auf die Wissens- und Rechtsordnung einer Gesellschaft, nämlich dann, wenn gefragt wird, wer gehört wird und wer überhaupt ein Unrecht als Unrecht im politisch-ethischen Sinn formulieren kann.

Epistemische Ungerechtigkeit

Die englische Philosophin Miranda Fricker (2007) vertritt die These, dass einer Person besonders in Bezug auf ihre Erkenntnisfähigkeit Unrecht getan werden kann. Wird der Aussage einer Frau beispielsweise aufgrund negativer Vorurteile nicht geglaubt, so erleidet diese spezifisch epistemische Ungerechtigkeit, insofern ihr die Erkenntnisfähigkeit abgesprochen wird. Berichtet sie nun von einer  Ungerechtigkeitserfahrung und wird dieser kein Glauben geschenkt, gilt sie also mithin als inexistent, so wird mit ihr umgegangen, als würde ihre Wahrnehmung und Erkenntnis nicht zählen. Das, „worauf“ geantwortet wird, entspricht nicht dem, was die betroffene Person oder die Zeug*in erfahren hat oder zu sagen versucht. Dies kann sowohl in Bezug auf die Erfahrung selbst erlittener Ungerechtigkeit geschehen als auch in Bezug auf die Wahrnehmung einer erlittenen Ungerechtigkeit von anderen. Wenn einer oder einem Zeug*in oder einer von Ungerechtigkeit betroffenen Person auf der Basis von Vorurteilen, etwa aufgrund der Hautfarbe, des gesellschaftlichen Status, des Geschlechts, schlicht die Erkenntnisfähigkeit und damit die Glaubwürdigkeit abgesprochen werden, dann handelt es sich um eine epistemische Ungerechtigkeit.

Varianten epistemischer Ungerechtigkeit

Um Ungerechtigkeiten oder Unrecht aufzudecken, brauchen wir Zeugnisse. Zeugnisse beruhen auf einem Wissen. Aber wem kann warum geglaubt werden? Glauben wir den Worten von Kindern? Denjenigen, die vielleicht stottern oder denen, die Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen sind? Fricker (2007) unterscheidet zwei Arten von epistemischer Ungerechtigkeit: „Die Ungerechtigkeit des Zeugnisses tritt ein, wenn Vorurteile einen Hörer dazu führen, dem Sprecher mangelnde Glaubwürdigkeit zu attestieren; eine hermeneutische Ungerechtigkeit findet auf einer früheren Ebene statt, nämlich dann, wenn die kollektiven interpretativen Sprachressourcen zu einer Kluft führen, die jemanden unfair benachteiligen, weil sie oder er nicht sinnvoll über die sozialen Erfahrungen berichten kann.“ (Fricker, 2007, 1, eigene Übers.) Darüber hinaus und nicht selten wird einer Person ganz aktiv – die Psychologie spricht von gaslighting – von einer anderen wiederholt und manipulierend die Wahrnehmungsfähigkeit abgesprochen. Der Begriff gaslighting führt zurück auf das 1938 geschriebene Theaterstück „gaslight“ des britischen Dramatikers Patrick Hamilton, der zum ersten Mal einsichtsvoll diese Praxis beschrieben hat.

Die erstgenannte Variante, die intrinsische Ungerechtigkeit der individuellen Zeugenschaft (testimonial injustice) liegt zum Beispiel vor, wenn eine Person einer Roma nicht glaubt, weil sie eine „Zigeunerin“ ist und eh lügt. Die hier ausgeübte epistemische Beleidigung bezieht sich auf das Absprechen von Fähigkeiten und die Abwertung einer Person als wissendes Subjekt. Die zweite Variante, die hermeneutische Ungerechtigkeit, beschreibt, was geschieht, wenn die passende Sprache und das treffende Vokabular nicht vorliegen und kein Wissens- oder Sprachdiskurs über die Vorgänge existiert. Zum Beispiel war häusliche Gewalt gegen Frauen erst formulierbar als auch ihr Status in Bezug auf die Eherechte geändert wurde. Fehlt der Sprachdiskurs oder der normative Bezugsrahmen, dann wird nicht „auf ein Unrecht“ geantwortet, sondern so, als sei die widerfahrene Gewalt bloß ein Unglück und das Leiden einer Person nur Ausdruck eines übertriebenen Gejammers. Solch eine Antwort deutet dann auf eine epistemische Ungerechtigkeit hin. Diese umfasst nicht selten beide Varianten, nämlich die Ungerechtigkeit, nicht als Zeug*in in Frage zu kommen, und die hermeneutische Ungerechtigkeit, also nicht über die angemessene Sprache, Ausdrucksmöglichkeit oder Wissenskategorien zu verfügen. Die dritte Variante liegt vor, wenn zum Beispiel ein Ehemann, der gaslighter, seiner Ehefrau einredet sie sei unfähig, einen Beruf auszuüben, wenn er ihr Realitätsferne vorwirft, Dinge manipuliert, um sie zu desorientieren, ihr die Schuld für etwas gibt, was sie nie getan hat, um ihr dann auch noch ein mangelndes Gedächtnis vorzuwerfen oder Worte im Mund zu verdrehen. Üblicherweise zweifelt das ‚Opfer‘ an der eigenen geistigen Gesundheit, gleichwohl kann es sich nicht vom Täter und der desorientierenden und manipulativen Beziehungsstruktur lösen.

Epistemische Ungerechtigkeit und Verletzlichkeit

Wenn einer Person systematisch und wiederkehrend aufgrund von Vorurteilen nicht geglaubt wird oder wenn ihr aktiv der Sinn und Realitätsbezug verdreht werden, dann wird sie unwissend gemacht. Ihr wird dadurch einerseits Unrecht zugefügt und sie wird moralisch verletzt, andererseits wird sie in die besondere Situation der Prekarität gebracht, weil sie als Bürgerin oder Person nicht mehr an der Gesellschaft teilhaben kann. Die Ungerechtigkeit der Zeugenschaft sowie das gaslighting schließen eine Person von gesellschaftlichen Vertrauensbeziehungen aus. Prinzipiell wird einer Person Wahrhaftigkeit unterstellt. Die hermeneutische Ungerechtigkeit dringt sogar noch in die tieferen Schichten des mitmenschlichen Zusammenlebens ein, denn sie betrifft die Sprache, Wissenskategorien und Wahrnehmungsweisen, die notwendig wären, um ungerechte, gewalttätige oder unwürdige Tatbestände zu beschreiben und zu bezeugen. Ein mögliches Ergebnis eines hermeneutischen Unrechts ist, dass ein Tatbestand schlicht behandelt wird als existiere er gar nicht bzw. als hätte er auch nie stattgefunden. Die hierbei erlittene Verletzung schlägt sich auch in der Zukunft in einer stärkeren Verletzbarkeit nieder, denn wieder wurde das nicht gehörte Selbst erniedrigt und das gesellschaftliche Verhältnis als prekär bestätigt. Eine Gesellschaft, die bestimmte Personen aufgrund von rassistischen, sexistischen oder anderen Vorurteilen von der Zeugenschaft ausschließt oder sie aufgrund von sozial und kulturell eingeübten Sprachdiskursen zur Stimmlosigkeit verdammt, wäre keine gerechte Gesellschaft, sondern eine, die prekäre Verhältnisse befördert. (Schües 2016, 192)

Prekarität und epistemische Verletzlichkeit

Der Begriff ‚prekär‘ verweist auf die sozialen, technischen, politischen Bedingungen und die normative Ordnung einer Gesellschaft. Prekär bezieht sich auf eine Seinsweise, die in der conditio humana liegt und selbst unhintergehbar ist. Je prekärer eine Beziehung ist, desto verletzbarer ist die Person. Mitmenschliche Beziehungen können Gewalt oder Fürsorge beinhalten, Gesellschaften haben mit mehr oder weniger Verlust oder Sicherheit zu tun, normative Ordnungen mit mehr oder weniger Orientierung. Allgemein gesagt: Prekärsein bedeutet Verletzlichkeit und Unsicherheit, Verunsicherung und Gefährdung innerhalb der Gesellschaft und ihrer technischen und normativen Ordnung. Im Vorwort zur amerikanischen Taschenbuchausgabe des Buches Raster des Krieges schreibt Judith Butler: „Precariousness is not simply an existential condition of individuals, but rather a social condition from which certain clear political demands and principles emerge.“ (2009, XXV) Somit ist eine Gefährdung (Pecauriousness), nicht einfach eine individuelle Eigenschaft, sondern eine Art Definition, die die menschlichen Bedingtheiten beschreibt. Um es zugespitzt zu formulieren: Menschen als leibliche, körperliche Wesen sind nicht einfach schutzlos verletzlich, gefährdet oder prekär, weil sie sterblich, also dem Tod ausgesetzt, sondern weil sie sozial sind.

Menschen sind eben nicht nur verletzlich, weil sie Körper haben und als Existierende leiblich anderen ausgesetzt sind. Sie sind auch verletzlich, weil sie nach Erkenntnis strebende Wesen (Platon, Aristoteles) sind, sich Wissensordnungen aussetzen müssen und mit Normen und Wahrheitsansprüchen konfrontiert werden, die ihrerseits einen Bezugsrahmen für eine, wie ich es nennen möchte, epistemische Verletzlichkeit bieten. Je tiefer Menschen in Beziehungen und Verhältnissen leben, in denen sie Lügen und Manipulationen ausgesetzt sind, desto mehr sind sie epistemisch, doch auch emotional, verletzlich.

Lüge, Manipulation und Tatsachen

Wer sich im gegenwärtigen politischen Zusammenhang über Ausgrenzungen und Lügen, Täuschungen oder Manipulationen beschwert, dem kann schlicht entgegnet werden, dass es diese Strategien eigentlich immer schon gab. Man kann eine ganze Geschichte des Lügens und Täuschens von der Antike bis heute erzählen. Wer lügt oder manipuliert, kennt zumeist die Wahrheit und hat gewisse Absichten – hehre oder nicht – im Blick. Aber die heute zu beobachtende Transformation in Politik und Gesellschaft geht über die Lüge hinaus. Sie betrifft unsere Wissensordnung, die unser Denken und Handeln orientiert.

 Die politische Theoretikerin Hannah Arendt hat 1964 in ihrem Aufsatz „Wahrheit und Politik“ ein Problem, das uns heute umtreibt, angesprochen. Sie unterscheidet Tatsachen- und Vernunftwahrheiten, die unterschiedliche Gültigkeitskriterien beanspruchen. Tatsachen stehen in gewissem Sinne außerhalb der Übereinkunft und freiwilligen Zustimmung. Meinungen, also subjektive Ansichten oder Einstellungen über Tatsachen, tragen nichts zu ihrem  Wahrheitsgehalt bei. Tatsachen werden durch Zeugnisse, etwa Zeugenaussagen, Denkmäler, Dokumente oder Berichte, übermittelt. Vernunftwahrheiten sind Prinzipien, die unseren Werten und Normen zugrunde liegen und die unser Denken und Handeln inspirieren. Etwa Platons Einsicht, dass Gerechtigkeit besser sei als Ungerechtigkeit, beruht auf Gründen und Kriterien, die das Ergebnis von Überlegungen und der Urteilskraft sind. Die Gegenposition würde der geschärften Argumentation nicht standhalten. Die Wahrheit der Vernunft wird nicht entdeckt, sondern in dem Diskurs, der in der Pluralität des politischen Raums lebt, hergestellt.

Tatsachen- und Vernunftwahrheiten gehören in den politischen Bereich. Beide beanspruchen zwingende Gültigkeit. Aber Politik und Wahrheit scheinen wie Feuer und Wasser. Warum? Der politische Raum, der Bereich der menschlichen Angelegenheiten, ist pluralistisch. Die Pluralität ist ihr Wesen. Deshalb formuliert Arendt pointiert: „Vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch.“ (1994, 341) Wenn sie gefunden ist, vereint sie die Vielstimmigkeit auf den Anspruch des wahren Urteils. So ist die Wahrheit despotisch, zwingend, und deshalb Verschleierungs- und Vereinnahmungsstrategien ausgesetzt: Gegenwärtig behandelt die mediale Inszenierung Tatsachen so, als seien sie Meinungen, über die nun gestritten werden kann. Die Folge ist die Implosion des Unterschieds, aber auch die Verdeckung – womöglich endgültiges Vergessen – der Tatsachen selbst.

 Die Vernunftwahrheit verträgt es, dass über sie wie über eine Meinung verhandelt wird. Eine Tatsache aber muss, bevor sie Meinung wird, verstellt werden. Die ‚große‘ Lüge, das Tabu, das Vergessen und die systematische Transformation einer Tatsache in eine Meinung, können der Tatsachenwahrheit wirklich etwas anhaben. Deshalb verdienen nicht nur Zeichen der Wahrheit, sondern auch Zeichen des Vergessens, der Tabuisierung, der Lüge und der Transformation unsere Aufmerksamkeit.

Sinnesraub

Unser Bezug zur Wirklichkeit und unser Orientierungssinn brauchen die Tatsachenwahrheit, sie brauchen das Urteil ‚wahr‘ oder ‚falsch‘. Dazu Arendt: „Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, daß es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt.“ (1994, 361) Die Wahrheit ist unersetzbar. Ein ‚Meinungsjournalismus‘ oder eine Politik, die versuchen Tatsachen durch Meinungen zu ersetzen, verstellen die Wirklichkeit und betreiben somit einen Sinnesraub. Tatsachen werden wie Meinungen behandelt und diesen als Information der Lüge oder Unwahrheit gleichwertig zur Seite gestellt.

Dieser Sinnesraub betrifft drei Ebenen: Erstens die Aufmerksamkeit, zweitens die Bedeutung und Wahrnehmung und drittens die Wissens- und Erkenntniskategorien.

Erstens scheint die heutige Situation in einiger Hinsicht epistemisch verführerisch: Immer wieder kommt es vor, dass bestimmte Tatsachen eigentlich klar vorliegen. Das Problem ist somit nicht unbedingt, dass Tatsachen einfach vergessen sind, vielmehr können wir unseren Blick nicht mehr von den banalen Äußerungen bestimmter Politiker*innen, von der Absurdität einiger Streitigkeiten abwenden. Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit bringt die Menschen gleichermaßen in eine Situation der epistemischen Prekarität, weil sie sich mit Dingen beschäftigen, die nicht wirklich für die Welt wichtig sind.

 Die zweite Ebene eines Sinnesraubs betrifft die entfaltete epistemische Verletzlichkeit. Für das, was erfahren wurde, gibt es keine Sprache, die Absicherung, auch Abgleichung des erlebten Geschehens mit anderen, ist nicht möglich, die Erkenntnisfähigkeit wird einer Person abgesprochen: Sie war nicht wirklich bei Sinnen und was sie gesagt hat, hat keinen Sinn ergeben. Ihr Wissen ist sinnlos, damit ist sie nichtwissend. Fehlt die Sprache, dann wird die Sinnstiftung im Bedeutungshorizont der Gesellschaft nicht glücken.

Drittens betrifft der Sinnesraub die Wissensordnungen und Erkenntniskategorien. Hier habe ich mit Hannah Arendt einen Kollaps der Erkenntniskategorien von Erfahrungen, Urteilen, Wahrheitsansprüchen, Glauben… diagnostiziert, der dazu führt, dass politische Diskurse und Tatsachen zu schlichten Meinungen werden. An die Stelle von Wirklichkeit oder von Begründungen einer Rechtfertigungsinstanz tritt ein subjektives Meinen, ein Gefühl, und das ohne Anspruch auf Wahrheit oder Wissen. Das Problem hier ist nicht, dass bestimmte Tatsachen, etwa im Zusammenhang des Klimawandels, Armut oder eines Fotos von Trumps Inauguration, nicht als solche anerkannt werden. Das Problem ist, dass die Kategorie der Tatsache wie eine Meinung behandelt wird. Gibt es alternative Fakten? Eine Meinungsvielfalt und eine Tatsachenvielfalt liegen nicht auf gleicher kategorialer Ebene.

Postfaktisches Zeitalter?

Wenn nun die Wissensordnung, die die Gesellschaft und die einzelnen Menschen orientieren soll, nur auf einer diffusen Pluralität von Meinungen beruht, die argumentativ weder an die Vernunft, noch mit Erfahrungen, Zeugen oder Schriften an Tatsachen rückgebunden werden kann, dann ist die Situation prekär. Vielerorts wird das postfaktische Zeitalter beschworen. Den Begriff „postfaktisches Zeitalter“ halte ich für irreführend, weil er so tut, als sei ein neues Zeitalter angebrochen. Damit verstellt er, dass es sich um eine negative Ideologie handelt, die uns der Erfahrungen und Sinne beraubt. An die Stelle von Wirklichkeit oder von Begründungen einer Rechtfertigungsinstanz tritt ein Meinen. Die Sphäre des Meinens wird zum Hort einer zerstörten normativen Ordnung, der von der Faktizität des Wirklichen und der Erfahrung befreit ist. Wir haben es mit einer epistemischen Ungerechtigkeit zu tun, die uns zeigt, dass wir prinzipiell epistemisch verletzlich sind, und zwar hinsichtlich unserer Erkenntnisfähigkeit und Wissensordnung, Sprache und unseres normativen Bezugsrahmens.

Folge: radikale epistemische Verletzlichkeit

So wie die Lüge, die epistemische Ungerechtigkeit, als Verletzung des zwischenmenschlichen Vertrauens, der Beziehungen und des Realitätssinns gilt, so bedeutet der Kollaps der Wissensordnungen und der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten, eine radikale epistemische Verletzlichkeit der Individuen und eine besondere Prekarität der politischen und sozialen Beziehung zwischen ihnen. Die Sichtbarmachung der epistemischen Verletzlichkeit und Prekarität lenken den Blick auf eine epistemische Ungerechtigkeit, die deutlich macht, dass eine Sprecherin mit einer objektiven Schwierigkeit und nicht mit einer subjektiven Unfähigkeit zu kämpfen hat, wenn sie Gewalt, Unterdrückung oder Ungerechtigkeit nicht angemessen beschreiben kann oder sie nicht wirklich gehört wird. Die Thematisierung von epistemischer Verletzlichkeit verdeutlicht, dass wir alle als soziale und politische Wesen in sozialen Verhältnissen, Wissensordnungen und normativen Bezugsrahmen eingebunden sind, die ihrerseits mehr oder weniger prekär sein können.


Christina Schües ist Professorin für Philosophie am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Universität zu Lübeck. Ihre Forschungen liegen in den Bereichen der Erkenntnistheorie, Phänomenologie, politischer Philosophie, Friedenstheorien, und Theorien der Biomedizin. Ihr besonderes Interesse gilt der conditio humana und fragilen Beziehungsverhältnissen.


Literatur

Arendt, Hannah (1994): Wahrheit und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München: Piper, 327-376.

Butler, Judith (2009): Frames of War. When is Life Grievable?, London / New York: Verso.

Fricker, Miranda (2007): Epistemic Injustice. Power & the Ethics of Knowing, Oxford: Oxford University Press.

Schües, Christina (2016): Auf Ungerechtigkeit antworten, in: H. Landweer/I. Marcinski (Hg.) Dem Erleben auf der Spur, Transcript, S. 175-196.