Das Theodizeeproblem oder ein Problem mit der Theodizee? Was passiert mit klassischen Fragen, wenn wir die Religionsphilosophie neu denken?

von Amber L. Griffioen (Konstanz)


Wer mal eine Einführung in die „klassischen Debatten“ der Religionsphilosophie besucht hat, ist wahrscheinlich über den Begriff Theodizee gestolpert. Grob gesagt ist eine Theodizee der Versuch, den allmächtigen, allwissenden, allgütigen Gott des sogenannten klassischen Theismus angesichts der Übel in der Welt zu rechtfertigen. Etwas weniger grob gesagt geht es bei der Theodizee nicht wirklich darum, Gott zu rechtfertigen (denn wenn es eine solche Gottheit gibt, braucht diese unsere Hilfe nicht, sich zu verteidigen). Es geht vielmehr darum, die Überzeugung[1] derjenigen zu rechtfertigen, die an diesen Gott glauben. Dies ist eine wichtige Präzisierung, denn sie deutet auf einen zentralen Schwerpunkt der analytischen Religionsphilosophie des 20-21. Jahrhunderts hin, nämlich auf den wiederholten Versuch, die Rationalität oder zumindest die rationale Zulässigkeit der klassisch monotheistischen Überzeugung zu prüfen (und meistens zu verteidigen) – hier in Anbetracht eines möglichen defeaters (Gegenbelegs), nämlich der Menge an erlebtem Bösen bzw. subjektivem Leiden in der Welt. Dieser Fokus auf die Rationalität der religiösen Überzeugung macht das sogenannte „Theodizeeproblem“ also eher zu einem Rätsel für die Religionsphilosophie, das es zu „lösen“ gilt: Wie kann man den klassischen Monotheismus mit den Übeln der Welt so versöhnen, dass es nicht irrational wäre, weiterhin an diesen Gott zu glauben?

In der heutigen religionsphilosophischen Literatur gibt es zwei Hauptformulierungen des Theodizeeproblems. Beide gehen von der Prämisse aus, dass es (zumindest dem Anschein nach) grundloses, überflüssiges oder unnötiges menschliches Leiden[2] gibt – sei es Leiden an oder aufgrund von „natürlichen“ Übeln wie Naturkatastrophen, Krankheiten oder Altwerden, oder Leiden als Nachwirkung von „moralischen“, von Menschen versursachten Übeln wie Genozid, Misshandlung oder Mobbing. Dem logischen Problem des Leidens zufolge, ist die Realität solcher Fälle von Leiden logisch unvereinbar mit der Existenz eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes. Das heißt, das Vorhandensein dieser Übel schließt es notwendigerweise aus, dass es den Gott des klassischen Theismus gibt. Dem etwas schwächer formulierten evidenzielle Problem des Leidens zufolge, macht die Tatsächlichkeit von bzw. Menge an Leiden die Nicht-Existenz Gottes (eventuell viel) wahrscheinlicher als die Existenz.   

Da das logische Problem stärker formuliert ist, ist es auch einfacher zu entschärfen. Man muss nur zeigen, dass es möglich ist, dass die Existenz des Gottes des klassischen Theismus mit dem scheinbar unnötigen Leiden auf der Welt kompatibel ist. Dies erfolgt hauptsächlich über sogenannte Verteidigungen, die versuchen zu zeigen, dass wir uns zumindest eine mögliche Welt denken können (die soweit wir wissen, auch unsere sein könnte), in der das von den Menschen erfahrenen Leiden mit der Existenz Gottes einhergeht. Wir können uns z. B. vorstellen, dass eine von Gott erschaffene Welt mit Willensfreiheit besser sein könnte als eine komplett determinierte Welt, auch wenn unser Missbrauch dieser Freiheit zum großen Leid auf der Welt führen mag. Wenn dies zumindest denkbar ist, so der Verteidiger, dann kann es nicht sein, dass Gottes Existenz mit den Übeln auf der Welt logisch unvereinbar ist.

Dem evidenziellen Problem ist etwas schwieriger zu entgegnen, da man nicht nur zeigen muss, dass eine solche Welt denkbar ist, sondern auch, dass die Realität grauenhaften Leidens in der aktualen Welt die Existenz eines perfekten Wesens nicht unwahrscheinlich macht. Hier sind die meisten Theodizeen zu finden, die man aus dem Religionsphilosophieseminar kennt. Zum Beispiel: Vielleicht liegt es in der Natur eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Wesens, die beste aller möglichen Welten zu schaffen. Diese muss unsere Welt sein, auch wenn wir – aus unserer Sicht – „das große Ganze“ nicht sehen können. Oder vielleicht dient das Leiden von Menschen dazu, uns geeigneter für angemessene Beziehungen mit Gott zu machen – z. B. weil es uns Gelegenheiten gibt, gewisse Tugenden und spirituelle Eigenschaften zu kultivieren und auszuüben („no pain, no gain“?), oder weil das Leiden uns zur intimen Vertrautheit mit Gott bringen kann. Alternativ könnte es sein, dass wir Menschen kognitiv zu beschränkt sind, um Gottes Wege zu verstehen, aber wir können zumindest davon ausgehen, dass ein perfektes Wesen wie Gott über gute Gründe verfügen müsste, das Leiden in der Welt zuzulassen.

An dieser Stelle erwartet man vielleicht von einer analytischen Religionsphilosophin wie mir, dass sie zu diesen unterschiedlichen „Lösungsvorschlägen“ zum Problem des Leidens Stellung nimmt: Welche Theodizeen sind angesichts des „Rätsels“ am Erfolgreichsten, und was bedeuten die jeweiligen Antworten für die Rationalität der religiösen Überzeugung? Statt mich allerdings diesen Fragen zuzuwenden, möchte ich hier eher auf die „metaphilosophische“ Ebene gehen und einige Fragen zur Performativität der Theodizee stellen: Denn was machen wir eigentlich, wenn wir in der Religionsphilosophie Theodizeen aufstellen? Wessen Werte und Interessen werden in diesen Diskussionen vertreten? Wer profitiert von einem solchen Diskurs?

Mit Rekurs auf J.L. Austins Sprechakttheorie, können wir vielleicht sagen, dass der „lokutive“ Sprechakt einer Theodizee in der Religionsphilosophie die „illokutive“ Funktion hat, die Rationalität theistischer Überzeugungen bzgl. eines perfekten Gottes zu verteidigen. Aber welche indirekten („perlokutiven“) Effekte hat dieser Diskurs, vor allem wenn wir unsere Aufmerksamkeit weniger auf Gott richten und stattdessen die Personen, die für diese Theodizeen die Daten liefern – nämlich diejenigen, die grauenhafte Übel tatsächlich erleiden bzw. erlitten haben – in den Mittelpunkt stellen? Denn jede Theodizee (die immer nur hypothetischer Natur sein kann) nimmt das echte Leiden von echten Menschen und wandelt diese abscheulichen Erlebnisse in ein „notwendiges Übel“, das von einem vermeintlich perfekten Gott genehmigt oder zumindest toleriert werden müsste. Diese Transformation vom Bösen als etwas Entsetzliches in etwas instrumentell Wertvolles mag ein Trost für Einige sein, aber für manche, die von solchen Übeln betroffen sind oder sogar traumatisiert wurden, sieht es eher wie ein Versagen seitens der Religionsphilosophie aus – eine Verkennung der Schlechtheit dieser Geschehen, ein Nichthören der Zeugenschaft der Leidenden und eine Sanktionierung dessen, was nicht sanktioniert werden darf. In diesem Sinne werfen Kritiker*innen der Theodizee vor, dass viele religionsphilosophische Theodizeen eine moralisch problematische Unempfindlichkeit aufweisen, welche die existenzielle Dimension des Leidens zwecks der Lösung des obengenannten epistemischen Rätsels ignoriert. Denn jede Theodizee vermittelt der leidenden Person, ihr Leiden sei – in irgendeiner Form – eine notwendige Folge göttlich zugelassenen Übels. Dies kann nicht nur zu einer Re-traumatisierung der leidenden Person führen, es kann auch für uns Religionsphilosoph*innen selbst moralisch schädlich sein, indem es die lasterhaften Tendenzen verstärken kann, die viele von uns haben, nämlich uns vom Leiden anderer abzuwenden – und dazu beitragen, dass wir für solches Leiden noch weiter desensibilisiert werden.

Aber das Problem ist nicht nur ein Moralisches. Indem wir der Aussagen leidender Personen bzgl. der Schlechtheit ihrer Erfahrungen nicht zuhören oder sie nicht ernst nehmen, laufen wir Gefahr, glaubhafte Zeugnisse zugunsten der Verteidigung der göttlichen Perfektion zu ignorieren. Und dies kann zu verzerrten und verzogenen Vorstellungen darüber führen, was es eigentlich bedeutet, zu leiden. In anderen Worten, der „theodikischer“ Ansatz kann – im Sinne von Miranda Fricker – anfälligen, leidenden Personen ein testimoniales Unrecht tun, was auch unsererseits zu epistemischen Lastern und falschen Überzeugungen über unsere Mitmenschen führen kann. Gleichwohl wenn schwer leidenden Menschen ausschließlich solche Theodizeen angeboten werden, um die eigenen Erlebnisse zu verarbeiten, könnte es ihnen auch ein hermeneutisches Unrecht tun, indem ihnen keine „Deutungswerkzeuge“ gegeben werden, um jene schlimmen Erlebnisse als genuine Übel zu interpretieren. Denn was vermittelt man einer Überlebenden sexueller Gewalt oder einem Elternteil, dessen Kind gestorben ist, wenn man ihnen (wenn auch nur indirekt) sagt, diese Erlebnisse und das Leid, das sie empfinden, seien „notwendige Übel“? Auch wenn man es nur „gut meint“, ist nicht klar, ob solche Sprechakte nicht vielmehr die Merkmale von Gaslighting als von tugendhafter Theoretisierung aufweisen.

Wenn die Kritiken der Anti-Theodizee-Position plausibel sind – und wir sollten die Möglichkeit ernst nehmen, dass sie uns zumindest auf etwas Wichtiges hinweisen – dann hat das auch Konsequenzen für die Religionsphilosophie. Es heißt keineswegs, dass Religionsphilosoph*innen aufhören sollten, Fragen über Leiden und Gott (und ihre Vereinbarkeit) zu stellen. Aber es ist wichtig, dass die Disziplin einen etwas schärferen Blick auf ihre eigenen Herangehensweisen und Vorurteile wirft – dass sie reflektiert, wessen Fragen und Werte hauptsächlich vertreten werden, und aktiv weitere Stimmen einholt, vor allem Stimmen jener Personen, die von diesen Debatten und Diskursen betroffen, häufig aber von der Diskussion ausgeschlossen, sind. Die Religionsphilosophie muss anerkennen, dass ihre Ansätze nicht unbedingt „interessenlos“ und „neutral“ sind und dass sie nicht aus einem unparteiischen „Blick von nirgendwo“ hervorgeht. Denn Objektivität heißt nicht unbedingt, eine neutrale, kontext- und perspektivfreie „Aussicht“ zu schaffen (auch wenn wir dies könnten). Sie ist vielleicht besser verstanden als die Leistung eines kritischen Dialogs zwischen unterschiedlichen Perspektiven – inklusiv (besonders) derjenigen Stimmen, die häufig marginalisiert werden (vgl. Medina 2013, Longino 1990).

Mehr Stimmen anerkennen und ernst nehmen heißt aber gleichzeitig, dass man selbst manchmal schweigen muss. In diesem Sinne ist es für uns in der Religionsphilosophie unentbehrlich, dass wir lernen, besser zuzuhören. Aber auch das reicht nicht aus. Wir müssen dafür offen sein, wenn wir zuhören – wenn andere Stimmen sprechen, andere Werte ins Zentrum rücken, andere Perspektiven hervortreten – dass unsere Religionsphilosophie selbst transformiert werden könnte. Hier stoßen wir auf Fragen für eine Religionsphilosophie der Zukunft: Welche Vorstellungen des (der?) Transzendenten treten hervor, wenn wir z.B. epistemische Werte wie elegante Komplexität statt simpler Einfachheit, pluralistische Diversität statt monotoner Singularität, perspektivische Partikularität statt allgemeiner Universalisierbarkeit hervorheben? Welche Bilder des Menschen, der Welt und ihrer Beziehung zum Göttlichen entstehen, wenn wir eine Philosophie anstreben, die nicht nur Rationalität sondern auch Solidarität betont? Können wir uns eine Religionsphilosophie vorstellen, die sowohl Kontakt mit der Wirklichkeit wie menschliches Mitgefühl aufweist? Kann unsere Liebe zur ultimativen Weisheit auch gleichzeitig ein besseres Verständnis unserer Mitmenschen schaffen? Ist eine philo-sophia quaerens intellectum in diesem Sinne noch möglich für uns? Oder sind wir dazu prädestiniert, wie Hiobs Freunde, Gott zu rechtfertigen, während wir die unschuldigen Leidenden zum Missverständnis verurteilen?[3]


Dr. Amber L. Griffioen ist seit 2010 am Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz tätig und arbeitet derzeit an ihrer Habilitationsschrift, Beyond Belief: Expanding the Horizon of Analytic Philosophy of Religion, und an einer Monographie für die Cambridge-Elements-Reihe zur religiösen Erfahrung. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen hauptsächlich in der analytischen Religionsphilosophie, der Geschichte der Philosophie und der praktischen Philosophie. Weitere Arbeitsgebiete sind die Sozialphilosophie und der Sportphilosophie. Ein besonderes Interesse von Dr. Griffioen ist der Blick über den Tellerrand des tradierten Kanons der westlichen Philosophie, und ein Sammelband zur Diversifizierung der philosophischen Ideengeschichte, Pluralizing Philosophy’s Past (zus. mit Marius Backmann), ist in Vorbereitung. Ihr letzter Artikel (zus. mit Mohammad Sadegh Zahedi) zur Tugendethik in der christlichen und islamischen Mystik ist neulich im Cambridge Companion to Medieval Ethics (Hrsg. Thomas Williams) erschienen. Weitere Artikel zur Religionsphilosophie, Philosophie der Mystik und Sportphilosophie können hier heruntergeladen werden.


[1] Ich meine hier Überzeugung im Sinne des englischen belief, wie üblich in der analytischen Philosophie.

[2] Ich beschränke mich hier hauptsächlich auf das Leiden von Menschen, auch wenn es andere Formulierungen des Problems gibt – z.B. mit Bezug auf die Unvollständigkeit der Natur oder das Leiden von Tieren – die das Problem umso schwerwiegender machen.

[3] Vgl. Gustavo Gutiérrez (1987), On
Job: God-Talk and the Suffering of the Innocent
(Maryknoll, NY: Orbis Books): 30. Siehe auch Dorothee Sölle (2018; 1973), Leiden (Freiburg i. B.: Herder Verlag): „Die einzige Form des Überschreitens dieser Grenzen [der Verdummung und Desensibilisierung] besteht darin, den Schmerz der Leidenden mit ihnen zu teilen, sie nicht allein zu lassen und ihren Schrei lauter zu machen“ (200).