01 Aug

Theologie und Philosophie im Zeichen der Pluralität

von Michael Bongardt (Universität Siegen)


Es mag sie einmal gegeben haben: Die Zeiten, in denen sich die meisten Gläubigen und ihre Theologen ihres Glaubens gewiss waren; in denen sich die meisten Philosophen der Vernunft sicher waren. Und es mag sie auch heute noch geben: Menschen, die sich ihres Glaubens gewiss und / oder der Vernunft sicher sind.

Zweifel

Doch es ist unübersehbar, dass zumindest in den westeuropäischen Ländern, und nur auf diese beziehen sich meine Beobachtungen und Überlegungen, nagende Zweifel dem Gebälk alter Sicherheiten heftig zusetzen. Die wohl stärkste Infragestellung christlicher Wahrheitsgewissheit geht von der Erfahrung einer unhintergehbaren Vielfalt aus. Menschen, die anderen Religionen – oder gar keiner Religion – angehören, leben ihre Überzeugungen nicht weniger beeindruckend und nicht weniger gebrochen als Katholikinnen und Protestanten. Und in den meisten Lebensbereichen des Alltags, von der Arbeit bis in die Freizeit, vom Konsum bis in die Nutzung von Technik, spielt die religiöse Überzeugung keine Rolle mehr. Gläubige werden nicht mehr nach ihrem Glauben gefragt. Auch für sie selbst hat er in den meisten Kontexten ihres Lebens keine Bedeutung mehr. Die Behauptung von der transzendenten Wahrheit, gar der alleinigen Wahrheit des Christentums verliert durch diese Erfahrungen ihre Glaubwürdigkeit. Nicht anders in der Philosophie. Die Einsicht in die Kontingenz jeder Erkenntnis und aller Systeme, in die Unerreichbarkeit der Wirklichkeit hinter den Vorstellungen, die wir uns von ihr machen, hat zu der verbreiteten Gewohnheit geführt, statt von der einen Vernunft lieber vom Plural der Rationalitäten zu sprechen.

Scheidung

Die enge Verbindung von Glaube und Vernunft, von Theologie und Philosophie, die bei allen Veränderungen über Jahrhunderte im Gleichgewicht gehalten wurde, kann den aktuellen Entwicklungen kaum etwas entgegenhalten. Denn diese Liaison ist selbst vom tiefen Zweifel betroffen und beschädigt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die christliche Lehre sich als „vera philosophia“ verstand, sich eng mit dem philosophischen Denken verband – nicht ohne in dieser Verbindung ihren Führungsanspruch durchzusetzen. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen sich dieses Verhältnis umkehrte; Zeiten, in denen die Philosophie eine „Religion der Vernunft“ erdachte und die konkreten Religionsgemeinschaften vor ihren Richterstuhl zitierte. Vorbei ist schließlich auch der Höhepunkt jener Zeit, in der sich die philosophische Kirchenkritik in eine grundlegende Religionskritik wandelte und das Verhältnis zwischen philosophischem und religiösem Denken in einen Kampf verwandelte, in dem sich beide auf die Vernunft beriefen und gegenseitig zu überwinden suchten.

Statt all dessen: Man scheint – von Ausnahmen abgesehen – nicht mehr viel miteinander zu tun haben zu wollen. Skeptische Distanz herrscht vor. Viele Glaubende halten Abstand von der Philosophie aus Angst, sie nähme Ihnen auch noch die letzten Sicherheiten. Wer in der Philosophie etwas auf sich hält, scheut, zumindest im deutschsprachigen Raum, die Berührung mit der Religion, die als obskur und aufdringlich gilt. Das konkrete Erscheinungsbild der Kirchen und Religionen mit ihren Skandalen, Krisen und ihrer Hilflosigkeit im Umgang damit, macht es leicht, solche Distanzierung zu legitimieren.

War’s das? Sollen Philosophie und Theologie, Denken und Glaube sich nach einer langen Beziehungsgeschichte über die Aufteilung der letzten Erbstücke einigen und damit ihre Scheidung besiegeln? Das wäre schade und schädlich. Schädlich für all jene Glaubenden, die nicht darauf verzichten wollen, zu denken und dazu auch der Philosophie bedürfen; schädlich für all jene Glaubenden, die sich nicht aus der Welt zurückziehen wollen und deshalb nach einer Verbindung mit der Vielfalt von Überzeugungen, Lebensregeln und -formen suchen; zumindest schade, vielleicht auch schädlich, für die nicht Glaubenden, weil sie die Chance verspielen, die Bedeutungspotentiale, die in den religiösen Traditionen aufbewahrt werden (Habermas), für sich zu nutzen. Deshalb lohnt es, die Bedingungen und Chancen einer neuen Verhältnisbestimmung auszuloten.

Vieldeutigkeit

Der Vielfalt von Lebens- und Denkformen, von Erkenntnissen und Überzeugungen ist nicht beizukommen durch eine alles erklärende Theorie. Weder ein Glaube noch eine philosophische Reflexion können alles verstehen, können auch nur einen einzigen ihrer Gegenstände ganz begreifen. Denn jede Form des Erklärens und Verstehens ist eine Deutung, aber keine die einzig mögliche. Worum es geht, ist deshalb die kritische Selbstbegrenzung des eigenen theologischen wie philosophischen Denkens und die Anerkennung anderer Wege des Verstehens und der Orientierung. Es lohnt sich, dem produktiven Verdacht zu folgen, dass auch der Andere Recht haben könnte (Gadamer). Dies gilt nach „innen“ wie nach „außen“.

Keine christliche Kirche, erst recht nicht das Christentum insgesamt ist in sich so homogen, wie sie es gern beanspruchen. Einig sind sich die Glaubenden allein darin, dass die Bibel  und deren Rede von Gott der Bezugspunkt ihres Glaubens und Lebens ist. Doch diese anerkannte Norm – und selbst die ist nicht in allen Kirchen exakt die gleiche – wird in unüberschaubarer Vielfalt von den Glaubenden gedeutet und in Lebenspraxis übersetzt. Von dieser Einsicht ist es nicht weit zu der Feststellung, dass auch die Bibel nur ein vielstimmiges Glaubenszeugnis von Menschen ist, neben dem andere von Gott zeugende Bücher, Lebensformen und Hoffnungen stehen. Nicht anders die Philosophie mit ihren vielfältigen Gegenständen, Methoden und Denkformen. Gern beansprucht jede von ihnen, die alleinige und umfassende Erkenntnis – auch Wahrheit genannt – zu besitzen. Bald aber muss jede feststellen, mit diesem Anspruch nicht allein zu sein.

Anerkennung

Doch welcher Weg führt von der Feststellung dieser Pluralität zu ihrer begründeten, ja geforderten Anerkennung? Er kann beginnen mit der politisch geforderten und durchgesetzten Religions- und Gewissensfreiheit. Sie durchzusetzen, ist eine unverzichtbare Bedingung eines friedlichen Zusammenlebens. Doch der von außen erzwungene Verzicht auf Alleingeltung ist noch keine Anerkennung der Anderen. Diese wird erst möglich, wenn von innen die Einsicht wächst, dass jenseits der unüberwindbaren Grenzen jeder Erkenntnis, auch der eigenen, Platz ist für andere Deutungen und Verstehensweisen – der Raum sich öffnet für die Freiheit des Denkens und Tuns. Eine solche selbstreflexive Kritik hat nicht erst und nicht nur Kant durchgeführt, aber er setzte bis heute geltende Maßstäbe. Kant war und ist auch nicht der Einzige, der die Freiheit klar von der Beliebigkeit unterschied und sie auf ihre eigenen Regeln verpflichtete. Deren wichtigste ist die Anerkennung anderer Freiheit.

Von diesen philosophischen Einsichten kann nicht zuletzt die Religion lernen. Oder besser: sich an ihren eigenen Grundimpuls erinnern lassen. Denn schon immer wussten Glaubende, dass sie die Wirklichkeit Gottes niemals würden erfassen und begreifen können; dass sie dieser Wirklichkeit nur in der Verschränkung vielstimmiger Worte, vielfarbiger Bilder, eingeübten Schweigens und bewusster Bildlosigkeit – und vor allem in einer menschenwürdigen und damit gottesfürchtigen Praxis auf der Spur bleiben können. Wenn Glaubende ihre Zuflucht nicht in fundamentalistischen Gewissheiten suchen, sondern zur Gebrochenheit und Vorläufigkeit all ihrer gleichwohl notwendigen Glaubenssätze, Lebensregeln und Überzeugungen stehen, kann auch die Philosophie wieder von der Religion lernen: von ihrem Umgang mit der Transzendenz, die jedem Begreifen zugrunde liegt und sich ihm immer entzieht. Dieses je Umfassendere können die Menschen Gott nennen, müssen es aber nicht.

Gewählte Verbindlichkeit

Leicht vorherzusehen ist die Zurückweisung dieses Vorschlags durch alle, die durch diese Öffnung auch noch die letzte Sicherheit schwinden sehen: Wo bleibt die Verbindlichkeit, ohne die sich weder glauben noch denken lässt? Es ist an der Zeit, auch diesen Begriff neu zu fassen: Verbindlichkeit entsteht nicht durch eine wie immer, durch Gott oder Menschen verkündete Lehre und Moral, die alternativlos verpflichten könnte. Verbindlichkeit entsteht aus der Bindung des einzelnen Menschen an eine Religion, Tradition, Denkform, die sich im konkreten Leben bewähren und im Gespräch mit all denen, die anderes vertreten, verantworten muss. Man hört, dass solche Vielfalt des Eigenen und des Fremden sogar Freude machen kann.


Michael Bongardt wurde 2016 zum Prorektor für Studium, Lehre und Lehrerbildung an die Universität Siegen berufen und ist seitdem dort Professor für Anthropologie, Kultur- und Sozialphilosophie am Philosophischen Seminar. Seine Forschungsgebiet verknüpft die Grenzbereiche von Philosophie, Theologie und Kulturwissenschaften.