I: Was bedeutet „Sex haben“?
von Peter Wiersbinski (Regensburg)
Es braucht nur wenig philosophische Anstrengung, um eine Ahnung davon zu gewinnen, wie leicht man an der Frage „Was ist Sex?“ verzweifeln kann. Und auch sehr ernsthaftes Nachdenken führt eher noch tiefer in Aporien hinein als zu einer allseits einleuchtenden und einheitlichen Antwort. Das gilt sogar dann, wenn wir von vornherein das (zumindest aus philosophischer Sicht) verwirrende[1] Phänomen der Masturbation außen vor lassen und auch nicht nach dem Wesen sexueller Orientierungen und Identitäten fragen, sondern lediglich wissen wollen, welche Art von Tätigkeit „Sex haben“ beschreibt, wenn von zwei Menschen gesagt wird, sie hätten Sex miteinander. Dass die Versuche, eine Antwort auf diese Frage zu geben, in Aporien, das heißt: in Widersprüche und Ausweglosigkeiten führen, könnte den Verdacht aufkommen lassen, dass Sex selbst etwas Widersprüchliches und eine Ausweglosigkeit ist – wenn auch zuweilen eine schöne Ausweglosigkeit. Wie man zu diesem Verdacht gelangt, darum geht es in diesem Beitrag.
Vorab ein Wort zu der Aufgabe, die wir uns stellen: Wenn man die Frage „Was bedeutet ‚P‘?“ beantworten möchte, dann sucht man nach einer Erklärung des Begriffs P, nach einer Definition. Solche Definitionen können grundsätzlich zwei verschiedene Formen annehmen: es gibt solche, die all das und nur das herausgreifen, auf das der zu definierende Begriff tatsächlich angewendet wird, die also den Umfang des Begriffs richtig erfassen. Und es gibt solche, die darüber hinaus auch noch verstehen lassen, warum der Begriff auf all die Dinge angewendet wird, die seinen Umfang ausmachen – die also angeben, was es ist, was die Dinge gemeinsam haben, auf die dieser Begriff Anwendung findet. Manchmal fallen diese beiden Arten, einen Begriff zu erklären, auseinander – dann hat man etwa eine gute extensionale, bloß den Umfang betreffende Erklärung, aber keine intensionale, die den Grund der Anwendung aufdeckt.
Was lässt sich auf die Frage „Was bedeutet ‚Sex haben‘?“ antworten? Ein hilfloser Vorschlag – wobei ich nicht sicher bin, ob es irgendjemanden gibt, der ihn ernsthaft vertritt − überträgt das, was sexuelle Aktivität bei Säugetieren für gewöhnlich ausmacht, kurzerhand auf den Menschen. „Sex haben“ bedeutet demnach, dass von einem Mann und einer Frau die Rede ist, die durch den direkten physischen Kontakt ihrer Sexualorgane Nachwuchs zu zeugen versuchen, oder offen dafür sind Nachwuchs zu zeugen. Mir scheint, man kann mit guten Gründen die Ansicht vertreten, dass in diesem Vorschlag ein winziges Körnchen Wahrheit steckt. Die Ansicht also, dass das Sexhaben irgendwie auf das Zeugen von Nachwuchs bezogen ist. Oder die Ansicht, dass es irgendeine, wie auch immer entfernte und vermittelte Verwandtschaft geben muss zwischen dem Sexualverhalten nicht-vernünftiger Säugetiere und dem, was Menschen tun, wenn sie Sex haben. Darauf komme ich später noch einmal zurück. Nimmt man den Vorschlag jedoch in seiner kruden Form beim Wort, dann ist er, wie gesagt, hilflos. Und das nicht bloß deshalb, weil Sexualverhalten auch bei einigen Tierarten nicht ausschließlich zur Fortpflanzung dient. Zum einen ist unklar, was es heißen soll, dass zwei Menschen, die Sex haben, Frau und Mann sind, und wenn man es einmal klärt, wird es schlicht falsch. Sex können cis-Männer und cis-Frauen haben, ja, aber natürlich zum Beispiel auch zwei cis-Frauen oder zwei cis-Männer oder ein trans-Mann und eine cis-Frau oder eine trans-Frau und eine nicht-binäre Person. Das bei der Geburt aufgrund anatomischer Merkmale zugewiesene Geschlecht eines Menschen spielt für das Sexhabenkönnen ebenso wenig eine Rolle wie die Frage, ob dieser Mensch sich mit seinem zugewiesenen Geschlecht identifiziert oder nicht. Zum anderen gibt es unendlich viele Möglichkeiten, Sex miteinander zu haben, die nicht offen für die Entstehung einer Schwangerschaft sind: Sex, bei dem keine Ejakulation stattfindet, oder Sex, bei dem Vagina und Sperma in keinen physischen Kontakt kommen, oder Sex zwischen zwei Menschen, von denen wenigstens eine/r unfruchtbar ist, oder zwischen zwei Menschen, von denen keine/r oder aber beide schwanger werden können, um nur die naheliegendsten Gegenbeispiele zu nennen.
Ebenso aussichtslos wäre – falls ihn denn jemand vorbringen wollte − der Vorschlag, dass Sex das ist, was Menschen tun, die in einer Partnerschaft leben oder verliebt ineinander sind. Sex wäre gemäß diesem Vorschlag das, was die innige Verbundenheit und Zuneigung von zwei (oder mehr?) Menschen zum Ausdruck bringt. Auch an dieser Idee könnte irgendetwas richtig sein. Aber einfach gleichsetzen lassen sich Sexhaben und Partnerschaft oder Zuneigung natürlich nicht. Abgesehen davon, dass Liebe und Zuneigung auf viele verschiedene, auch nicht-sexuelle Weisen zum Ausdruck gebracht werden können, taugt die Idee nämlich nicht einmal als notwendiges Kriterium: „Es war kein richtiger Sex, ich liebe nur Dich!“ ist eine Beschwichtigungsstrategie mit trüben Erfolgsaussichten und „Ich will nichts von Dir, nur Sex“ ein durchaus nachvollziehbares Angebot.
Zum Sexhaben gehören auch nicht unbedingt Orgasmen, es gehört nicht notwendig dazu, dass die Partner/innen nackt sind, ja, vielleicht ist es nicht einmal erforderlich, dass die Sexualorgane der Partner/innen erregt werden oder erregt sind. Denn was sind die Sexualorgane? Gehören Lippen und Zunge dazu, oder Anus, oder Brüste, oder diese Stelle unterhalb des Ohrläppchens? Kein Sex wird ohne die Erregung irgendwelcher Körperteile stattfinden, aber ob es sich bei den Körperteilen, die da erregt sind, um Sexualorgane handelt, hängt davon ab, ob die fragliche Tätigkeit Sex ist oder nicht. Wir drehen uns im Kreis! Auf die gezielte Stimulation von Penis oder Vulva jedenfalls verzichten Menschen, die Sex haben, oft genug, sei es freiwillig oder aufgrund einer medizinischen Kondition. Oft genug jedenfalls, um diesen Definitionsvorschlag ungeeignet zu machen. Und wer hätte die Autorität, solche Interaktionen per begrifflicher Legislation vom Umfang des Sexhabens auszuschließen?
Aus einem ähnlichen Grund müssen auch Definitionsversuche fehlschlagen, die noch spezifischere anatomische oder gar neurologische Kriterien in Anschlag bringen. Denn ehe wir entscheiden können, ob die Reizung eines bestimmten Organs oder die Aktivität eines bestimmten Hirnareals oder die Ausschüttung eines bestimmten Botenstoffs das Sexhaben von anderen Tätigkeiten abgrenzt, müssen wir erst einmal das Sexhaben von anderen Tätigkeiten abgegrenzt haben. Finden wir dann, dass diese oder jene körperliche Erscheinung immer zusammen mit dem Sexhaben auftritt, können wir es auch durch die fragliche Erscheinung definieren, vorher nicht. Und deshalb kann uns – zumindest, solange wir nur Philosophie treiben und nicht etwa funktionale Störungen therapieren wollen – jede physiologische Definition herzlich egal sein.
Das ist schon eine stattliche Reihe von Definitionsversuchen – von intensionalen, auf eine gemeinsame Eigenschaft abzielenden Definitionsversuchen. Sie nehmen von Mal zu Mal weniger in Anspruch. Es handelt sich, so könnten wir sagen, um ein philosophisches Rückzugsgefecht ins Abstrakte. Von reichhaltigeren, konkreteren Kriterien sind wir zu immer einfacheren, allgemeineren gelangt, ohne eine überzeugende intensionale Antwort auf unsere Frage zu finden. Aber liegt in der Richtung dieses Rückzugsgefechts nicht doch eine sichere Position? Hat Sex nicht unweigerlich irgendetwas mit Körperkontakt und Erregung, mit Berührung und Lust zu tun? Einen solchen Gedanken finden wir bei Alan Goldman.[2] Er schlägt vor, dass Sex das Streben nach der Erfüllung von sexuellem Begehren ist, und sexuelles Begehren das Begehren nach dem Wohlgefühl, das aus dem Kontakt mit dem Körper eines anderen Menschen erwächst. Goldmanns Definition hat den großen Vorzug, im besten Sinne liberal zu sein, offen für den Sex zwischen Menschen mit gleichem oder verschiedenem, auch nicht-eindeutigen Geschlecht, verschiedenen sexuellen Orientierungen und sexuellen Identitäten. Trotzdem – und in gewisser Weise auch deshalb – scheitert diese Definition. Sie ist zu weit und verliert so die Verbindung zu dem, was sie erklären will. Denn das Wohlbehagen, die Lust, die ein Mensch aus dem Kontakt mit dem Körper eines anderen gewinnen kann, muss nicht sexueller Natur sein. Wenn Eltern und Kinder miteinander kuscheln, dann geht das für gewöhnlich mit einer bestimmten Art von Lust und Wohlbehagen einher, die, ganz wie Goldmans Definition es fordert, reiner Selbstzweck ist, aber eben nicht mit sexueller Lust. Es ist nicht einmal plausibel, dass Goldmans Definition notwendige Kriterien nennt. Menschen, die Sex miteinander haben, sind nicht immer am lustvollen Kontakt mit dem Körper des Gegenüber interessiert. Man denke nur an sadistische und masochistische Praktiken, die sich schwerlich in das von Goldman evozierte Bild des liebevollen gegenseitigen Streichelns fügen. Oder daran, dass der Wunsch, der zum Sex motiviert, manchmal nur der ist, Macht oder Überlegenheit zu demonstrieren, oder einen Streit mit der Partnerin oder dem Partner zu vermeiden. Kurz, der Rückzug ins Abstrakte ist ein Irrweg. Es gibt keine einfache, auf Körperteile, Erregungszustände oder bestimmte Motivationen Bezug nehmende Bestimmung, die alles erfasst, was Sex ist.
Dieser Befund verführt zu dem Schluss, dass es bis auf ein paar schwer zu benennende Familienähnlichkeiten gar nichts gibt, was den verschiedenen Erscheinungen des Sexhabens gemeinsam ist, und damit auch keine intensionale, ein gemeinsames Merkmal anführende Definition. Das Beste, was wir bekommen können, ist eine rein extensionale Definition: eine Liste mit all den Arten von Interaktionen, zu denen wir sagen, dass sie Sex seien. Und das ist, wenn ich recht sehe, gegenwärtig die Orthodoxie unter Sexualtherapeut/innen, Sexualwissenschaftler/innen und Sexualpädagog/innen: Sex kann mal so und mal so aussehen, oft aber nicht immer nackt, oft aber nicht immer mit Orgasmus, oft aber nicht immer auf Vulva oder Penis bezogen, meistens in einer Partnerschaft und – fraglich, warum wir das dann überhaupt noch erwähnen sollen! – ziemlich selten versuchen die Beteiligten dabei, ein Kind zu zeugen. Aber manchmal ist das alles auch nicht das Entscheidende, sondern dass eine/r die oder den andere/n fesselt oder demütigt und ihr oder ihm dosierte Schmerzen und Qualen zufügt. Aus meiner Sicht liegt der Verdacht nahe, dass solche Listendefinitionen nicht viel informativer sind als die Auskunft, eine Bank sei manchmal mehrere Stockwerke hoch, manchmal mit Lehne, manchmal ohne, normalerweise werde Geld darin verwaltet, aber ganz selten, wenn man großes Glück hat, liege auch welches drunter. Gibt es denn bloß etymologische Erklärungen dafür, dass wir all diese Dinge „Sex haben“ nennen – Erklärungen, die mit der Sache nichts zu tun haben?
Ich glaube das nicht. Es ist zwar ganz zweifellos wahr und eine Einsicht von schwer zu überschätzender Bedeutung, dass Sexhaben unendlich vielgestaltig sein kann. Aber diese vielen Gestalten scheinen doch eine gemeinsame Natur, ein gemeinsames Wesen zu besitzen. Um nur einen Grund für diesen Eindruck zu nennen: Wenn wir wissen, dass eine Handlung von sexueller Art ist, dann wirkt sich das in einer prinzipiellen und charakteristischen Weise auf unsere moralischen Haltungen gegenüber den Beteiligten aus – zum Beispiel, wenn entschieden werden muss, ob es zulässig war in Kauf zu nehmen, dass Kinder oder andere Dritte Zeugen dieser Handlung werden. Wenn die verschiedenen Dinge auf der Liste ihrer Natur nach nichts miteinander zu tun hätten, könnte der Umstand, dass wir wissen: „Es war Sex“, auch unsere moralischen Haltungen nicht auf diese prinzipielle und charakteristische Weise bestimmen. Wir müssten bei jedem Listeneintrag eigens nachfragen und begründen, warum es problematisch ist, wenn Kinder das mit ansehen. Aber das tun wir nicht, oder zumindest nicht generell. Die Gewissheit, dass es sich um sexuelle Interaktionen handelt, genügt uns für ein erstes, wenn auch vielleicht nicht endgültiges Urteil. Sogar dann, wenn uns jemand eine Praktik beschreiben würde, die wir nicht kennen und die wir vielleicht nicht unmittelbar als sexuelle Praktik einordnen würden, würde sich die Auskunft, dass es sich um etwas Sexuelles handelt, in dieser charakteristischen Weise auf unsere moralische Einschätzung auswirken. Wir gehen also, ob wir wollen oder nicht, davon aus, dass die Dinge auf der Liste ihrer Natur, ihrer Seinsweise nach zusammengehören.
Heißt das nicht, dass es auch eine intensionale Definition geben muss? Aber wir haben ja gesehen, dass sich eine solche nicht finden lässt! Damit sind wir schon recht tief in die angekündigten Aporien hineingeraten. Aber es scheint noch einen Ausweg zu geben. Statt die Idee, dass Sexhaben irgendetwas mit Fortpflanzung zu tun hat, in eine deskriptive Definition zu investieren, wie ich es eingangs getan habe, könnte man sie als Grundlage für eine normative Definition verwenden. Statt also die Ausrichtung auf Fortpflanzung als ein Merkmal zu behandeln, das mit dem Anspruch auftritt, allen Formen des Sexhabens tatsächlich gemeinsam zu sein, könnte man sie als ein Merkmal verstehen, das angibt, was allen Formen des Sexhabens gemeinsam sein soll – auch, wenn es vielen fehlt. Denselben Zug könnte man im Prinzip auch mit allen anderen Vorschlägen machen, die ich genannt habe, also mit Liebe, Orgasmus, Stimulation von Geschlechtsorganen und so weiter. Aber ich betrachte jetzt nur den Vorschlag, die Ausrichtung auf oder Offenheit für Fortpflanzung zur Norm für jeglichen Sex zu erheben. Unter anderem deshalb, weil er tatsächlich und prominent vertreten wird, nämlich in der katholischen Sexualethik.
Ein Beispiel finden wir in Elisabeth Anscombes „Contraception and Chastity“. Die Katholikin Anscombe richtet sich mit diesem Vortrag an ein katholisches Publikum und versucht sich in einer Rechtfertigung der (schon 1975 sogar unter Katholik/innen eher unpopulären) Doktrin, dass jeder Sex verboten ist, der sich der Möglichkeit von Zeugung verschließt.[3] Anscombes Argument hat zwei Schritte. Der erste besteht in der Idee, dass nur der für Zeugung und Empfängnis offene Akt ein natürlicher, dem eigentlichen Sinn der menschlichen Sexualität entsprechender Akt ist, während alle anderen sexuellen Akte in verschiedenen Graden abweichend, deviant und damit unnatürlich sind. Im zweiten verknüpft Anscombe Devianz vom Natürlichen mit dem moralisch Schlechten. Da wir nicht wissen wollen, wann Sexhaben moralisch erlaubt ist, sondern was Sexhaben überhaupt ist, müssen wir uns nicht mit der sophistischen Akrobatik des zweiten Schritts aufhalten. Entscheidend ist der erste, in dem Anscombe eine Ordnung in die Plethora des Sexhabens hineinbringt, und zwar eine Ordnung, durch die alle sexuellen Interaktionen, die kein für Zeugung offener Sex sind, als Sexhaben verständlich werden durch ihre Beziehung zu dem Sex, der für Zeugung offen ist. Diese Beziehung ist das Abweichen, das Verfehlen. Den sexuellen Handlungen, die Anscombe unfreiwillig attraktiv mit den Worten „monkeying around with the organs of intercourse“ beschreibt, fehlt etwas zum echten, eigentlichen Sex. Und dadurch, dass ihnen etwas fehlt, sind sie immer noch Sex, wenn auch nur unvollkommener, verfälschter Sex. Auf diese Weise gibt es wieder eine Einheit zwischen den verschiedenen Weisen, Sex zu haben – eine Einheit, die die deskriptiven intensionalen Definitionen nicht herausgreifen konnten und die der extensionalen Listendefinition vollends abhanden gekommen war.
Wer ein an der Wirklichkeit der Sexualität und der Sexualitäten statt an lebensfremder Doktrin geschultes Urteilsvermögen besitzt, sieht leicht ein, dass die katholische Sexualmoral ein ungnädiger Unfug ist. Gegen „monkeying around with the organs of intercourse“ gibt es moralisch nicht per se etwas einzuwenden. Trotzdem mag man der Idee, dass die eigentlich aristotelische Denkfigur der Abweichung von einem Ideal oder einer Norm nützlich sein kann, wenn wir verstehen wollen, was den verschiedenen Gestalten des Sexhabens gemeinsam ist, etwas abgewinnen. Allein, so wie Anscombe diese Idee versteht, hilft sie uns nicht weiter. Denn es ist zum einen nicht klar, wann es sich bei Tätigkeiten, in denen Sexualorgane eine Rolle spielen, um das verfehmte „monkeying around“ handelt und wann nicht. Die Sexualorgane werden ja zum Beispiel beim Toilettengang, beim Duschen oder von der Gynäkologin oder der Urologin gebraucht und angefasst, und diese Handlungen sind auch für Anscombe keine sexuellen. Und zum anderen gibt es eindeutig sexuelle Interaktionen, in denen mit den „organs of intercourse“ rein gar nichts angestellt wird. Ist denn ein leidenschaftliches stundenlanges gegenseitiges Küssen des ganzen Körpers kein Sex, solange nur peinlich genau um die Sexualorgane herumgeküsst wird?[4] So wie Anscombe die Norm und das Abweichen besetzt – naturgemäßes Gebrauchen der „organs of intercourse“ hier und unnatürliches Gebrauchen derselben da –, kann sie weder erklären, warum Sex, bei dem diese Organe gar nicht gebraucht werden, überhaupt Sex ist, noch, warum Handlungen, bei denen diese Organe berührt und gebraucht werden, häufig kein Sex sind. Anscombes normative Definition stellt die Einheit, die der Listendefinition verloren gegangen war, wieder her, aber der Preis dafür ist, dass sie die deskriptive, extensionale Mannigfaltigkeit des Sex ebenso verpasst, wie alle intensionalen Vorschläge.
Es ist
schwer zu sehen, wie wir aus dieser letzten Sackgasse wieder hinausgelangen
könnten. Mir scheint, ein Ausweg könnte darin liegen, die bisher angestellten
Überlegungen selbst als einen Teil der Erklärung dessen zu betrachten, was „Sex
haben“ bedeutet. Denn so viel haben wir immerhin über sexuelle Interaktionen
gelernt: Es lässt sich nicht abweisen, dass es etwas gibt, das ihnen gemeinsam
ist: das Sexuelle – was auch immer das sei. Und zugleich lässt dieses
Gemeinsame sich nicht in einer intensionalen Definition erfassen – es ist kein
Merkmal und auch keine Menge von Eigenschaften, und nicht einmal eine normative
Eigenschaft. Zu vielfältig und einander entgegengesetzt sind die Phänomene, die
zum Umfang von „Sex haben“ gehören. Beide Seiten sind aber Charakteristika
dessen, was wir verstehen wollen. Und das bedeutet, dass eine Erklärung des Begriffs
den Widerspruch zwischen der Einheit und der Wechselhaftigkeit des Sexhabens enthalten
müsste. Das Sexhaben ist etwas, das Widersprüchlichkeit und Entgegensetzung in sich trägt – und deshalb geraten die
Versuche, es zu definieren, in Aporien.
Peter Wiersbinski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg. Er arbeitet zur Zeit über Metaethik (vor allem moralischer Relativismus) und die Philosophie der Sexualität.
[1] Vgl. Soble, „Masturbation. Conceptual and Ethical Matters“, in: Soble (Hg.), The Philosophy of Sex.
[2] Vgl. Goldman, „Plain Sex“, in: Soble (Hg.), The Philosophy of Sex.
[3] Vgl. Anscombe, „Contraception and Chastity“, in: Geach, Gormally (Hg.), Faith in a Hard Ground: Essays on Religion, Philosophy and Ethics by G.E.M. Anscombe.
[4] Vgl den Text von Greta Christina in Soble: „Are We Having Sex Now or What?“