Sexualerziehung in der Schule. Eine Kritik der Kritik
von Johannes Drerup (Koblenz-Landau)
Einleitung
Sexualerziehung und sexuelle Bildung[1] sind Gegenstand anhaltender Kontroversen über die angemessene und legitime Einrichtung des Bildungssystems in liberalen Demokratien. Zur Debatte stehen Fragen nach der normativen Legitimation, den Inhalten und den Folgen von Sexualerziehungsprogrammen, die Vorgaben machen, ob und wie, wann und mit welchen Schwerpunktsetzungen Sexualität an öffentlichen Schulen zum Thema gemacht werden sollte. Im Streit über den legitimen Umgang mit Sexualität, sexuellen Orientierungen und Praktiken in schulischen Curricula konfligieren unterschiedliche Auslegungen von Interessen, Aufgaben, Rechten und Pflichten von Eltern, Kindern und dem liberalen Staat. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit ist in der deutschsprachigen Debatte der sogenannten `Petition gegen den Regenbogen´ zuteil geworden. Diese Onlinepetition (ca. 200.000 Unterschriften) wendete sich vehement gegen ein im Rahmen des `Bildungsplans 2015´ geplantes Sexualerziehungprogramm in Baden-Württemberg, welches auf die Förderung gleichen Respekts für Personen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und die Akzeptanz von sexueller Diversität abzielte (z.B. durch die Darstellung gleichgeschlechtlicher Paare in Schulbüchern und die Vermittlung von Wissen über unterschiedliche sexuelle Orientierungen). Ähnliche Konflikte gab und gibt es auch in anderen Ländern (z.B. USA, Kanada, Großbritannien).
In den von unterschiedlicher Seite vorgebrachten Standardkritiken wird diesen und anderen Sexualerziehungsprogrammen vorgeworfen, dass sie erstens zu einer doktrinär durchgesetzten `Frühsexualisierung´ und zu sexueller Verunsicherung von Kindern führten, dass sie zweitens illiberal seien, weil sie mit staatlicher Neutralität nicht kompatibel seien und eine illegitime Einschränkung von Elternrechten darstellten, und dass sie drittens auf Abwertung und Verunglimpfung von bestimmten Gruppen und Glaubenssystemen hinausliefen (z.B. `traditionelle´ Werte und Konzeptionen der Familie). Im Folgenden werden alle drei Einwände kritisch diskutiert und Möglichkeiten einer Legitimation von Sexualerziehung und sexueller Bildung in liberalen Demokratien vorgestellt. Diese Einwände fußen m.E. sowohl in empirischer als auch in normativer Hinsicht auf fragwürdigen Prämissen und Vorbehalten, die sich im Rahmen einer liberal perfektionistisch orientierten Begründung der Leitziele von sexueller Bildung und Erziehung ausräumen lassen. Ich beginne mit einem kurzen Überblick über zentrale Konflikte und Begründungsprobleme, die in der Kontroverse über Sexualerziehung im Kontext öffentlicher Schulen in liberalen Demokratien von Relevanz sind (2.). Im Anschluss werde ich vier zentrale Ansätze der Begründung und der Praxis von Sexualerziehung vorstellen und diskutieren (3.). Abschließend werde ich die drei wichtigsten Einwände gegen verpflichtende liberale und autonomiebasierte Sexualerziehungsprogramme rekonstruieren und prämissen- und folgenkritisch auf den Prüfstand stellen (4).
Sexualerziehung: Kontroversen und Konflikte
Versuche einer Begründung von Sexualerziehung in liberalen Demokratien sind mit der Tatsache konfrontiert, dass es in der Gesellschaft sehr unterschiedliche und strittige Auffassungen über eine angemessene oder `richtige´ Sexualmoral gibt. In öffentlichen Schulsystemen kommen Kinder zusammen, deren Eltern aus allen möglichen Gründen sehr unterschiedliche und oft unvereinbare Vorstellungen davon haben, was legitime Formen von Sexualität sind und was nicht. Für liberale Staaten gilt traditionell, dass sie sich weltanschaulich neutral zu verhalten haben, wenn es um die Begründung und Rechtfertigung von Sexualerziehung geht. Sie dürfen ihren Bürgern nicht sexuelle Ausdrucks- und Lebensweisen als verbindlich vorschreiben. Liberale Staaten sollten dem staatlichen Neutralitätsgebot gemäß – versteht man es im Sinne einer Neutralität der Rechtfertigungen (und nicht der Folgen) – verpflichtende Sexualerziehung im öffentlichen Schulsystem nicht mit Rekurs auf partikulare und kontroverse Konzeptionen der Sexualmoral rechtfertigen. Das staatliche Neutralitätsgebot ist in seiner konkreten Begründung und Auslegung umstritten und konfligierende Konzeptionen des Liberalismus nehmen jeweils für sich in Anspruch, die angemessenste Version einer liberalen Begründung von Neutralität vorzulegen. Während Anhänger eines politischen Liberalismus einen übergreifenden Konsens zwischen einer als vernünftig zu qualifizierenden Pluralität von Lehren und politischen Positionen zu begründen versuchen, der keine partikulare Konzeption des Guten privilegiert, gehen liberal perfektionistische Begründungen von stärkeren empirischen und normativen Annahmen über das gute Leben aus, die zu einer engeren Auslegung des Neutralitätsgebots führen. Politisch liberale Begründungen von Neutralität haben mit dem Dilemma zu kämpfen, dass sie ausgehend von einem relativ weit und wenig voraussetzungsreich verstandenen Standard der Vernünftigkeit auch solche Doktrinen noch als vernünftig qualifizieren müssen, die ggf. schädlich für Kinder (z.B. im späteren Leben) sein könnten. Perfektionistische Begründungen, die z.B. Autonomie eine zentrale Bedeutung für ein gutes Leben zuschreiben, werden dagegen dafür kritisiert, dass sie partikulare Vorstellungen über das gute Leben (z.B. ein selbstbestimmtes und aufgeklärtes Sexualleben ist besser als ein nicht selbstbestimmtes und unaufgeklärtes Sexualleben) auch solchen Gruppen über das Schulsystem aufoktroyieren, die diese normative Orientierung nicht teilen.
Konfligierende Ansätze zur Begründung und Praxis der Sexualerziehung
Im Folgenden sollen nicht konkrete Praxisbeispiele und -programme der Sexualerziehung vorgestellt werden. Es geht vielmehr um die Art der Begründung von Arrangements und Praktiken der Sexualerziehung[2], die sich nicht immer ohne weiteres 1-zu-1 konkreten Praxisvarianten und Arrangements zuordnen lassen, über die sie praktisch zu realisieren wären. Zugleich gilt, dass es wenig sinnvoll ist, davon auszugehen, dass eine Rechtfertigung von Sexualerziehung Plausibilität beanspruchen können wird, die gänzlich ohne Rekurs auf empirische Evidenz zu den Folgen der jeweils begründeten policies auskommt. Dies gilt umso mehr, da einige der tradierten Ansätze kontraintentionale Effekte zu haben scheinen, die im Gegensatz zu dem jeweils verfolgten Ziel stehen. Eher repressive, auf sexuelle Abstinenz abzielende Ansätze scheinen z.B. den nichtintendierten Effekt zu haben, dass es zu früheren Sexualkontakten kommt als bei Ansätzen, die eher auf Risikominimierung via Aufklärung abzielen[3].
Eine erste Position geht davon aus, dass Sexualerziehung Aufgabe der Eltern und nicht des Staates sei und daher an öffentlichen Schulen keinen Platz habe. Diese Position lässt sich kaum plausibel begründen, da ein vollständiger Verzicht auf Sexualerziehung mit einer Reihe von Selbst- und Fremdschädigungen bzw. gesellschaftlichen Folgeschäden verbunden sein dürfte (z.B. Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten; Teenagerschwangerschaften)und auch politisch und pädagogisch motivierte Unterlassungen, die solche Folgen – ob bewusst oder nicht – in Kauf nehmen, legitimationsbedürftig sind. Es ist schließlich kaum sinnvoll, davon auszugehen, dass alle Eltern hinreichend kompetent und willens sind, ihren Kindern das notwendige Wissen über Sexualität zu vermitteln. Ebenso fragwürdig ist die moderatere Position, die Ausnahmeregelungen für bestimmte Kinder vorsieht, deren Eltern nicht wollen, dass diesen entsprechendes Wissen vermittelt wird.
Eine zweite Position versucht Sexualerziehung möglichst neutral zu gestalten in dem Sinne, dass es in erster Linie um die Vermittlung von Fakten und die Klärung der jeweils relevanten Werte gehen sollte. Darüber hinaus jedoch sollen Lehrer_innen oder das Curriculum in kontroversen Fragen, die über die bloßen Fakten und die allgemeine Reflektion von normativen Fragen hinausgehen, keine Position beziehen. Diese Position vermag ebenfalls wenig zu überzeugen, da nicht davon auszugehen ist, dass Sexualerziehung tatsächlich wertfrei sein kann[4], und auch der Versuch, ohne expliziten ethische Rahmungen von Sexualität auszukommen, selbst auf eine ethische Rahmung hinausläuft. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass viele der `Fakten´ in öffentlichen Debatten und auch in der Wissenschaft umstritten sind (z.B. die angemessene Deutung der sex/gender Dichotomie). Selbst wenn eine neutrale pädagogische Darstellung sexueller Diversität möglich wäre, wäre dies immer noch für einige Gruppen nicht akzeptabel, die z.B. nicht wollen, dass ihr Kind erfährt, was ein Kondom ist oder was Antibabypillen sind. Eine Klärung der relevanten Werte sollte zudem weder ethische oder epistemologische Formen von Relativismus implizieren (und z.B. Pädophilie als legitime sexuelle Orientierung darstellen, was es ja historisch durchaus gab; hierzu: Baader 2017), noch sollten alle in Gesellschaft und Wissenschaft irgendwie `kontroversen und umstrittenen´ Themen auch im Unterricht kontrovers diskutiert werden. Dies hätte zur Folge, dass man im Widerspruch zu liberalen Grundwerten z.B. Diskussionen der folgenden Art führen müsste: `Manche Leute glauben, Homosexualität ist eine Krankheit, die man heilen kann, andere dagegen…´
Eine dritte Position geht davon aus, dass Sexualerziehung allein auf die Vermittlung von eher abstrakten und allgemein geteilten moralischen Grundlagen abzielen sollte. Dieser Position kann entgegengehalten werden, dass der angenommene Konsens in vielen Fällen nur ein Oberflächenkonsens sein dürfte, der tieferliegenden normativen und evaluativen Dissens bezüglich der vermeintlichen moralischen Grundlagen und ihrer Rechtfertigung nur kaschiert. So mag man sich en abstracto auf ein Prinzip der Verantwortung als Leitziel von sexueller Erziehung und Bildung einigen, konkret werden dann Akteure darunter jedoch sehr unterschiedliches verstehen (z.B. die Nutzung eines Kondoms oder die Regel, nur zu Frauen sprechen, die verschleiert sind).
Eine vierte und aus liberaler Sicht die wohl prominenteste Begründung beruht auf dem zentralen Wert, der den Prinzipien der sexuellen Autonomie und der Zustimmung in liberalen Gesellschaften zukommt. Wie wichtig und grundlegend diese Prinzipien sind, zeigt sich nicht zuletzt dann, wenn sie im Rahmen sexueller Gewalt übergangen oder auch instrumentalisiert werden, wenn z.B. Kindern unterstellt wird, sie seien schon vollständig zustimmungsfähig[5]. Das zentrale Ziel von Sexualerziehung besteht aus dieser Sicht in der Vermittlung von Wissen (z.B. über Verhütung), Fähigkeiten (z.B. Urteilsfähigkeit; relative epistemische Unabhängigkeit) und Einstellungen (z.B. gegenüber dem eigenen Körper), die es erlauben, die eigene Sexualität selbstbestimmt auszuleben und informierte und aufgeklärte Entscheidungen über die eigene Gesundheit und das eigene Wohlergehen zu fällen, ein Recht, das natürlich auch Anderen in gleicher Weise zuzugestehen ist. Sexuelle Autonomie ist aus dieser Perspektive daher als legitimes Ziel von Sexualerziehung anzusehen, weil sie es Kindern ermöglicht, ein gutes Leben zu führen und sich vor problematischen Einflüssen zu schützen (z.B. problematische Rollenbilder; Manipulation u.Ä.), ohne ihnen eine spezifische Sexualmoral – jenseits der Prinzipien der Zustimmungsfähigkeit und Autonomie – vorzuschreiben. Im Rekurs auf den instrumentellen und intrinsischen Wert von sexueller Vielfalt für die Autonomie und das Wohlergehen sich entwickelnder Personen kann dann begründet werden, warum sexuelle Vielfalt in schulischen Kontexten einen legitimen Platz hat. Das Ethos und das Curriculum öffentlicher Schulen müssen sicherstellen, dass sich Kinder mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten in der kulturellen Umwelt der Schule, metaphorisch ausgedrückt, zu Hause fühlen können. Dies bedeutet, dass schulische Umwelten so beschaffen sein sollten, dass Kinder einander angstfrei in ihrer Verschiedenheit begegnen und akzeptieren können. Dazu ist es notwendig, dass diese Verschiedenheit als Normalität curricular anerkannt und akzeptiert wird. Die symbolische Legitimation der öffentlichen Präsenz sexueller Differenz und Diversität (z.B. durch die selbstverständliche und nicht eigens hervorzuhebende Darstellung gleichgeschlechtlicher Paare in Schulbüchern) zielt auf die Förderung von Akzeptanz dessen, was unterschiedliche sexuelle Orientierungen ohnehin schon sind und sein sollten – selbstverständlicher und normaler Bestandteil der sozialen Realität in liberalen Demokratien. Dieser hier vertretene liberal perfektionistische, autonomiebasierte Ansatz hat einige Einwände auf sich gezogen, die im Folgenden diskutiert und entkräftet werden.
Einwände
Gegen liberale und autonomiebasierte Sexualerziehungsprogramme und ihre Begründung sind eine Reihe von kritischen Einwänden formuliert worden, die im Folgenden entkräftet werden sollen. Zu diesen Einwänden gehören die Vorwürfe, Sexualerziehung führe zu sexueller Desorientierung und zu fragwürdigen Formen der `Frühsexualisierung´, sie verletze das staatliche Neutralitätsgebot und die Erziehungsrechte von Eltern und sie führe zur kulturellen Abwertung bestimmter Gruppen und Auffassungen vom guten Leben.
Frühsexualisierung, sexuelle Desorientierung und Indoktrination
`Frühsexualisierung´ und der Begriff der Indoktrination werden in der öffentlichen Debatte über Sexualerziehung als Kampfbegriffe verwendet, die ohne klaren Gehalt sind. Insbesondere mit Bezug auf den Begriff der Indoktrination soll an dieser Stelle nur festgehalten werden, dass ein Merkmal von Indoktrination in dem Versuch der Vermittlung von wissenschaftlich unhaltbaren Doktrinen besteht, die jedoch als sachlich angemessen, empirisch zutreffend und wahr deklariert werden. Wendet man dieses Kriterium auf Positionen an, die in der Debatte vertreten wurden (Homosexualität als widernatürlich etc.[6]), dann ist festzustellen, dass es offensichtlich vor allem Sexualerziehungsgegner zu sein scheinen, die versuchen, ihre vorwissenschaftlichen und empirisch nicht haltbaren Doktrinen durch politische Einflussnahme auf die Curricula öffentlicher Schulen (Indoktrination) durchzusetzen. Da die Durchsetzung akzeptanzorientierter policies mit Autonomiegewinnen für diejenigen Adressaten verbunden sein dürfte, die vor Diskriminierung geschützt werden, ohne das ersichtlich wäre, dass damit nennenswerte Autonomieverluste verbunden sind, kann der Indoktrinationsvorwurf ad acta gelegt werden.
Prüft man andere Kritikpunkte, wie die Annahme, dass Kinder durch Sexualerziehung zu verfrühten Auslebung ihrer Sexualität verleitet würden, oder dass Kinder dadurch sexuell desorientiert würden bzw. gar ihre sexuelle Orientierung ändern würden (`homosexuell gemacht würden´), dann lässt sich nachweisen, dass auch diese Kritiken auf empirisch nicht haltbaren Prämissen beruhen[7]. Sexualerziehungsprogramme haben, wie bereits erwähnt, in manchen Fällen kontraintentionale Effekte. So können z.B. insbesondere Ansätze, die Abstinenz propagieren, zu verfrühter Sexualität beitragen – ein Ergebnis, das auch Kritiker von liberalen Sexualerziehungsprogrammen zur Kenntnis nehmen müssen. Zum zweiten Kritikpunkt: Homosexualität hat natürlich auch biologische Wurzeln (ebd., S. 385) – so wie Heterosexualität offensichtlich auch –, sie ist nicht beliebig wählbar und sollte daher als askriptives Merkmal besonders vor Diskriminierungen geschützt werden (auch vor den diskriminierenden und falschen Vorstellungen von Sexualerziehungsgegnern). Auch deshalb spricht nichts für die Annahme, dass Kinder durch Sexualerziehung verunsichert werden oder irgendwie Schaden nehmen oder gar ihre sexuelle Orientierung und Identität ändern. Die Ergebnisse der hierzu einschlägigen Studien zeigen, dass dies nicht der Fall ist (ebd., S. 385). Wenn Kinder aber ihre sexuelle Orientierung auf Grund der Aufklärung über unterschiedliche Formen von Sexualität ändern sollten, bliebe dennoch unklar, was denn eigentlich dagegen einzuwenden wäre. In einer liberalen Gesellschaft sollte dies schließlich kein Problem sein. Das Problem scheint vielmehr zu sein, dass Homosexualität immer noch von besorgten Eltern zum Problem gemacht wird.
Elterliche Rechte und staatliche Neutralität
Ein zweiter Einwand hebt ab auf die Verletzung des staatlichen Neutralitätsgebots und einen damit verbundenen illegitimen Eingriff in die Elternrechte. Dem kann entgegengehalten werden, dass es empirisch gut belegt ist, dass illiberale Sichtweisen und Einstellungen von Eltern (z.B. Homophobie) die Autonomie und vor allem das Wohlergehen ihrer eigenen Kinder – in dem Fall, wenn diese selbst von elterlichen Vorstellungen abweichende sexuelle Orientierungen haben – in beträchtlichem Maße gefährden (z.B. erhöhte Selbstmordrate[8]). Dies dürfte durch die Verstärkung von diskriminierenden Vorurteilen auf Seiten der Kinder indirekt auch für die Autonomie und das Wohlergehen von anderen Kindern gelten. Eltern, die sich auf diese Art gegenüber ihren Kindern verhalten, kommen zumindest in dieser Hinsicht ihren Pflichten gegenüber ihren Kindern, die ihre Rechte als Eltern mitbegründen[9], nicht in angemessener Form nach. Eltern mögen daher zwar grundsätzlich ein legales Recht haben, ihre illiberalen Einstellungen bezüglich sexueller Orientierungen an ihre Kinder weiterzugeben. Sie haben jedoch weder ein legales noch ein moralisches Recht darauf, dass ihre Kinder diese Einstellungen akzeptieren oder von anderen evaluativen Einflüssen, die durch das Schulsystem vermittelt werden, abgeschirmt werden. Wenn Eltern privatim nicht akzeptieren wollen, dass ihr eigenes Kind ggf. eine andere sexuelle Orientierung hat als sie selbst oder dass es überhaupt andere legitime sexuelle Orientierungen in der sozialen Realität gibt, so bedeutet dies nicht, dass diese Form der Realitätsverweigerung auch in Schulen kultiviert werden sollte.
Das Verhältnis zwischen Schulen, Familien und der Gesellschaft sollte in diesem Zusammenhang von einem Ethos der Diskontinuität bestimmt werden[10], welches Alternativen liefert zu häufig problematischen Stereotypen und verzerrten Sichtweisen auf Sexualität, denen Kinder in anderen Kontexten ausgesetzt sind (z.B. Elternhaus, Medien, Peers). Dies schließt einen Dialog und Kooperationen zwischen Eltern und Schule, öffentlicher und privater Erziehung und Bildung nicht aus. Nichtsdestotrotz gibt es, bei aller Wertschätzung des Ethos symmetrischer Kommunikation, Grenzen des Verhandelbaren und des Diskutablen: Liberale Staaten sind dazu verpflichtet, die Autonomie und das Wohlergehen von allen Kindern zu schützen und zu fördern, unabhängig davon, welche sexuelle Orientierung diese haben und auch unabhängig davon, welche Wert- und Normvorstellungen ihre Eltern haben mögen. Der Versuch, dieses Ziel zu erreichen, kann nicht und sollte auch nicht gegenüber allen beteiligten Gruppen und Konzeptionen des Guten neutral gerechtfertigt werden (z.B. im Sinne eines politischen Liberalismus, d.h. auf eine Art und Weise, die alle `vernünftigen´ Akteure akzeptieren könnten, wenn man damit auch noch solche Doktrinen als respektabel deklarieren muss, die die Autonomie und das Wohlergehen von Kindern unterminieren). Eine politische Rechtfertigung von Sexualerziehung, die möglichst allen beteiligten Gruppen gerecht zu werden versucht, lässt sich nicht ohne weiteres in eine auch aus pädagogischer und ethischer Sicht akzeptable Rechtfertigung überführen. Aus liberal perfektionistischer Perspektive kann staatliche Neutralität hinsichtlich der Einrichtung des öffentlichen Bildungssystems nicht sinnvoll so praktiziert werden, dass sie zu Lasten der Autonomie und des Wohlergehens von Kindern umgesetzt wird. Wenn es um die Abwägung zwischen dem Schutz von Befindlichkeiten von bestimmten Gruppen von Eltern auf der einen Seite und dem Schutz von Kindern vor im Rahmen von bestimmten Doktrinen und Vorurteilen propagierten Formen der Diskriminierung auf der anderen Seite geht, muss ein liberaler Staat Prioritäten zugunsten der sich entwickelnden Autonomie und des Wohls der Kinder setzen.
Kulturelle Dominanz und die Abwertung von Gruppen und Doktrinen
Im Kontext der Debatte über Sexualerziehung gerät leicht aus dem Blick, dass diese nur einen verschwindend kleinen Teil des Curriculums ausmacht, der aber überproportional viel Aufmerksamkeit erhält. Dies läuft dann schnell auf eine Überschätzung der Rolle des Schulsystems bei der Veränderung gesellschaftlicher Normen hinaus und auf eine Unterschätzung von anderen Faktoren, die allesamt dazu beitragen, dass Eltern und Schulen im Vergleich zu den deklarierten pädagogischen Ambitionen nur beschränkte Kontrollmöglichkeiten über die Erfahrungswelt von Kindern und Jugendlichen haben (z.B. der Einfluss neuer Medien). Wenn daher die staatliche Durchsetzung von kultureller Dominanz durch liberale Sexualerziehungsprogramme kritisiert wird, welche auf die Abwertung bestimmter Gruppen und Traditionen (z.B. Konzeptionen der Familie) hinausliefe, dann ist darauf hinzuweisen, dass Schule nur einen Teil der Erfahrungswelt von Kindern ausmacht.
Im Rahmen der konkreten Gestaltung und Umsetzung von Sexualerziehung im Unterricht können spezifische Sensibilitäten von Gruppen durchaus berücksichtigt werden (z.B. Christen oder Muslime). Nichtsdestotrotz muss auch hier klar sein, dass die Annahme, dass eine Pluralität von in gleicher Weise legitimen sexuellen Identitäten und Orientierungen existiert, letztlich nicht zu vereinbaren ist mit gleichem Respekt für alle Doktrinen (z.B. bestimmte Interpretationen des Christentums oder des Islams, die Homosexualität als Sünde ansehen). In den Klassenräumen liberaler Staaten kann es kein Recht auf gleichen Respektfür Doktrinen (oder Interpretationen von Doktrinen) geben, die bestimmte Gruppen auf Grund ihrer sexuellen Orientierung diskriminieren. Das Faktum, dass sich bestimmte Eltern oder Gruppen durch liberale Sexualerziehungsprogramme abgewertet fühlen könnten, und die Befürchtung, dass etablierte Lebensformen (z.B. bestimmte Konzeptionen der Familie) dadurch beeinträchtigt werden könnten, wird durch die Pflicht des liberalen Staates übertrumpft, vulnerable Gruppen im Kontext des Erziehungssystems vor Diskriminierung zu schützen. Diese legitime Form der kulturellen Dominanz, die durch das Schulsystem gestützt und propagiert werden sollte, kann dann zur Folge haben, dass auch vermittelt durch das Erziehungssystem etablierte Doktrinen und Traditionen längerfristig an gesellschaftlicher Bedeutung verlieren, was im Kontext einer liberalen Kultur und Gesellschaft in Kauf genommen werden kann. Es sei daran erinnert, dass moralische Fortschritte der letzten Dekaden wie etwa die Durchsetzung von gleichen Rechten für unterschiedlichen Gruppen nur möglich waren, weil die Sensibilitäten von partikularen Gruppen ignoriert wurden.
Fazit
Debatten über die Legitimität von
Sexualerziehung in pluralistischen Gesellschaften polarisieren und machen
deutlich, dass es auch im 21ten Jahrhundert für viele Menschen in liberalen
Demokratien schwierig zu sein scheint, ein unaufgeregtes Verhältnis zu diesem
Thema einzunehmen. Eine autonomiebasierte und auf die Schaffung von Akzeptanz
abzielende Konzeption und Begründung von Sexualerziehung kann gegen die
wichtigsten Einwände, die in der Debatte vorgebracht wurden, verteidigt werden.
Nicht ausgeblendet werden soll, dass die hier vertretene Lösung zu
Anschlussproblemen und -konflikten führen dürfte mit besorgten Eltern und
Gruppen, die divergierende Wertvorstellungen haben. Diese unvermeidbaren
Konflikte auszuhalten und in zivilisierte Bahnen zu lenken, ist Aufgabe und
Herausforderung des Zusammenlebens in liberalen Demokratien, deren Grundwerte
nicht auf Grund von Sensibilitäten und Sorgen partikularer Gruppen zur
Disposition zu stellen sind.
Johannes Drerup vertritt eine Professur für Erziehungs- und Bildungsphilosophie an der Universität Koblenz-Landau.
[1] Dieser Beitrag stellt eine gekürzte Fassung meines Handbuchartikels „Sexualerziehung, staatliche Neutralität und der Wert der Vielfalt“ dar, der 2019 im Handbuch Philosophie der Kindheit (hrsg. von Schweiger/Drerup) bei J.B. Metzler erscheint.
[2] Die folgende systematische Gliederung der relevanten Positionen orientiert sich an den Überlegungen von: Archard, David: How Should We teach Sex? In: Journal of Philosophy of Education 32/3 (1998), 437-449. Corngold, Josh: Moral Pluralism and Sex Education. In: Educational Theory 63/5 (2013), 461-482.
[3] Gegenfurtner, Andreas/Gebhardt, Markus: Sexualpädagogik der Vielfalt. In: Zeitschrift für Pädagogik 64/3 (2018), 379-393.
[4] Halstead, Mark: Muslims and Sex Education. In: Journal of Philosophy of Education 26/3, 317-330.
[5] Oelkers, Jürgen (2011): Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Weinheim und Basel 2011.
[6] hierzu: Hand, Michael: What Should We Teach as Controversial? A Defense of the Epistemic Criterion. In: Educational Theory 58/2 (2008), 213-228; Hand, Michael: A Theory of Moral Education. London, New York 2018.
[7] (vgl. der evidenzbasierte Überblick von: Gegenfurtner, Andreas/Gebhardt, Markus: Sexualpädagogik der Vielfalt. In: Zeitschrift für Pädagogik 64/3 (2018), 379-393.
[8] Vgl. Brennan, Samantha/ Macleod, Colin: Fundamentally Incompetent: Homophobia, religion, and the Right to Parent. In: Jamie Ahlberg/ Michael Cholbi (Hg.): Procreation, Parenthood, and Educational Rights. Oxon, New York 2017, 230-245.
[9] Schickhardt, Christoph: Kinderethik. Der moralische Status und die Rechte der Kinder. Münster 2012.
[10] Brighouse, Harry: Channel One, the Anti-Commercial Principle, and the Discontinuous Ethos. In: Randall Curren (Hg.): Philosophy of Education. An Anthology. Malden u.a. 2007, 208-220.