Der verdrängte Tod

Von Thomas Pölzler (Graz)


Die Corona-Krise legt den Finger auch in eine existentielle Wunde. Vielleicht hilft es, sich offen mit unserer Sterblichkeit zu beschäftigen.

Unsere Reaktionen auf COVID-19 sind heftig und nicht immer rational. Warum ist das so? Ein Faktor (unter sehr vielen) könnte Verdrängung sein. Wir verdrängen, dass wir sterbliche Wesen sind. Das vergrößert unsere Angst vor der Pandemie oder lässt sie uns im Gegenteil, da wir sie nicht wahrhaben wollen, unterschätzen. Diese Erklärung halte ich nicht nur mit Bezug auf die Corona-Krise für plausibel; sie verdient auch darüber hinaus Beachtung.

Zu sterben ist das folgenschwerste Ereignis in der Geschichte jedes Lebewesens. In einem Augenblick existieren wir: Wir denken, fühlen, atmen. Im nächsten Augenblick ist alles aus. Viele meinen, sie wüssten, wohin die Reise geht. Doch sicher sagen kann es niemand. Was auch immer man glaubt und wie stark auch immer man daran glaubt – die Angst vor dem Tod sitzt tief. Diese Angst hat biologische Wurzeln. Sie bildet sich bereits im frühen Kindesalter aus und lässt sich niemals völlig ablegen. In seinen Büchern und Artikeln argumentierte etwa der Philosoph Herbert Finngarette, dass Angst vor dem Tod zu haben irrational sei. Mit 97 Jahren, als er schließlich kurz vor seinem eigenen Tod stand, widerrief er diese Ansicht: „Ich denke jetzt, dass das keine gute Aussage ist“.

Die Angst vor dem Nicht-Sein ist nicht eine Angst unter vielen; sie ist so etwas wie die menschliche Urangst. Dementsprechend hat sie weitreichenden Einfluss auf unser Denken und Handeln. Warum hängen wir Vorstellungen eines Jenseits an? Warum setzen wir Kinder in die Welt und vermitteln ihnen unsere Werte? Warum haben wir stets ein Auge auf die neuesten Gesundheitstrends? Es würde mich überraschen, wenn nicht vieles bis zu einem gewissen Grad der Bewältigung dieser Angst dient.  

Doch so wichtig das alles ist, so sehr bleibt es auch unter der Oberfläche. Nur in seltenen Augenblicken werden wir uns unserer Vergänglichkeit und unserer tiefen Angst davor wirklich bewusst; etwa, wenn ein Angehöriger stirbt oder wir selbst schwer erkranken. Vermutlich sind diese Augenblicke heute noch spärlicher gesät als in früheren Zeiten. Die Möglichkeiten der Zerstreuung sind zahlreich. Hinzu kommt, dass Alter und Tod zunehmend als Makel empfunden und dementsprechend tabuisiert werden.

Herbert Finngarette, ein Philosoph, der sich in seinen Schriften ausführlich mit dem Tod beschäftigt hat. Im Alter von 97 Jahren blickt er in einer Kurzdokumentation noch einmal darauf zurück und reflektiert über den Sinn seines Lebens.

In gewisser Hinsicht sind diese Mechanismen nachvollziehbar. Der Gedanke an das eigene Ende ist unbegreiflich und kaum zu ertragen. Aber ist dieses Ausweichen auch gut? Manche mögen es zumindest nicht schlecht finden. Statt uns mit morbiden Vorstellungen zu quälen, sollten wir das Leben genießen, so lange es möglich ist. „Eines Tages werden wir alle tot sein“, sagt Charlie Brown in einem bekannten Cartoon zu Snoopy. Woraufhin dieser antwortet: „Ja, aber an allen anderen Tagen ist das nicht so“.

Das Problem ist: Eine dauerhafte Verdrängung unserer Vergänglichkeit hat Nebenwirkungen. Irgendwie findet die Angst vor dem Tod doch ihren Weg an die Oberfläche. Wenn man existentiellen Psychotherapeuten wie Irvin Yalom oder Rollo May glauben darf, manifestiert sie sich zum Beispiel in Form konkreter Ängste. Das ist auch eine der Konsequenzen, die man im Fall der Corona-Krise vermuten darf.

Der Tod ist ein Ereignis, dem wir ganz und gar hilflos gegenüberstehen. Wir können ihn hinauszögern, aber nicht verhindern. Unser Unbewusstes münzt diese ungreifbare Angst vor dem Nichts deshalb in eine greifbare Furcht vor einem Etwas um – davor, dass uns unser Partner verlassen könnte, dass wir uns in unserem Beruf blamieren; oder eben, dass wir uns mit einem Virus anstecken. Denn vor diesen Dingen können wir uns schützen (im Gegensatz zum Tod als solchem). Wir erhalten die Illusion aufrecht, Herr über unser Schicksal zu sein.

Doch es ist eben nur eine Illusion. Hilfreicher wäre es, wenn wir nicht nur konkreten Angstauslösern Aufmerksamkeit schenken würden, sondern auch der Tatsache unserer Sterblichkeit als solcher – mit offenem Visier, ohne uns hinter Rosenkranz oder Riten zu verstecken. Dies würde eine realistischere Einschätzung unserer Situation ermöglichen. Unsere Angst vor dem Tod würde uns in geringerem Maße dazu verleiten, Gefahren zu überschätzen oder sie umgekehrt (um selbst der Angst vor dem Konkreten zu entgehen) zu negieren.

Ich möchte aber sogar noch einen Schritt weitergehen. Viele Religionsführer, Künstler und Philosophen haben das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit für mehr als nur psychologisch ratsam gehalten. Sie haben in ihm die Tür zu einem besseren Leben gesehen. Auch das erscheint bei näherer Betrachtung plausibel.

Das Bewusstsein unserer Endlichkeit verleiht unserem Leben Intensität und Ernst. Das Spiel wird zu einem Spiel mit Einsatz, bei dem es um etwas geht. Damit zusammenhängend fokussiert, befreit und relativiert der Tod. Wir haben nicht ewig Zeit. Also können wir uns nicht in Nebensächlichkeiten verlieren oder blind der Masse folgen. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was uns wirklich wichtig ist. Erst durch dieses „Sein zum Tode“, wie der Philosoph Martin Heidegger diese Haltung nannte, werden wir zu dem, der wir wirklich sind.

Natürlich möchte ich niemanden verurteilen, weil er sich nicht mit seiner Vergänglichkeit beschäftigt. Auch mir selbst gelingt dies viel zu selten. Die Aussicht ist wie gesagt furchterregend. Außerdem ist das Leben ohnehin schon herausfordernd genug. Trotzdem denke ich, dass uns eine bewusste Auseinandersetzung mit unserer Sterblichkeit sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft guttun würde; nicht nur im Kontext von Corona, auch darüber hinaus. “Die Körperlichkeit des Todes zerstört uns, die Idee des Todes rettet uns”, heißt es bei Irvin Yalom. Das mag pathetisch klingen, doch es steckt doch etwas Wahrheit darin.


Thomas Pölzler ist Post-Doc Universitätsassistent am Arbeitsbereich Praktische Philosophie des Instituts für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz.