Sinn im Leben: Von Wertpluralisten und empirischer Sinnforschung

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der im Schwerpunkt „Das Schöne, Wahre und Gute. Das sinnvolle Leben in der Diskussion“ in der Zeitschrift für Praktische Philosophie erschienen ist.


von Katja Stoppenbrink (WWU Münster)


„The purpose of life is a life of purpose.“

[US-Zitatsammler & Billardstar Robert Byrne (1930-2016)]

Gibt es ‚Sinn im Leben’? Dass es sich dabei um eine vom ‚Sinn des Lebens‘ zu unterscheidende Frage handelt, erschließt sich womöglich erst auf den zweiten Blick. Auch für die Philosophiegeschichte lässt sich diese Diagnose reklamieren: Erst in der Gegenwart beschäftigen sich Philosophinnen und Philosophen (alle Geschlechter hier und nachfolgend jeweils miterfasst!), insbesondere auch analytisch orientierte Philosophen, mit dieser für das menschliche Leben aus einer geteilten Binnenperspektive (‚Teilnehmerperspektive‘) heraus grundlegenden Frage wie dem, was denn ‚Sinn im Leben‘ausmachen könne. – Gehen wir, die wir uns womöglich als Sinnsucherinnen verstehen, in medias res: Ist Sinn im Leben wichtig? Wenn ja: warum? Und um was für einen Wert handelt es sich dabei?

Meine erste These (T1) lautet: Die evaluativen Kategorien, mittels derer wir uns auf das Leben anderer oder auch unser eigenes beziehen, erschöpfen sich nicht in Moral- und Glücksbegriffen. Der britische Philosoph William David Ross, der ein Wertpluralist war, hat in seinem Werk The Right and the Good 1930 (Neuausgabe 2002 bei Oxford University Press) vier irreduzible, nicht weiter auf einen ‚Metawert‘ zurückführbare Werte ausgemacht: Tugend (virtue), Lust (pleasure), das ‚rechte Verhältnis von Lust und Tugend‘ („we must recognize (3), as a third independent good, the apportionment of pleasure and pain to the virtuous and the vicious respectively“ (2002, 138); „the allocation of pleasure to the virtuous“ (2002, 140)) und viertens Wissen (knowledge). Dass es uns (allen (!) – so der universalistische Anspruch dieser Behauptungen) darum geht, Wissen zu haben sowie ein moralisch gutes, angenehmes Leben zu führen, mag noch sehr gut nachvollziehbar sein. Erklärungsbedürftig ist gewiss der dritte Wert, der das Verhältnis zwischen dem moralisch Guten und dem Angenehmen betrifft. Es handelt sich um eine Art eingebaute Sicherheitsschleuse oder einen Filter, der es verhindern soll, dass diejenigen Objekte als ‚werthaft‘ angesehen werden, die zwar in der Glücks- oder Lustdimension hervorragend abschneiden, aber als unmoralisch oder untugendhaft charakterisiert werden müssen. Man kann sich fragen, ob dies ein irreduzibler weiterer Wert ist (neben den anderen drei genannten) – oder doch nur ein interpretatives Zusatzmerkmal, das die beiden betreffenden Werte (Glück/Lust sowie Tugend) notwendig aufweisen müssen, eine notwendige Eigenschaft, um als irreduzible axiologische Kategorie ‚durchzugehen‘. Diese Problematik will ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen, sondern aufzeigen, dass es auch im Rahmen eines wertpluralistischen Gesamtkontexts sehr unterschiedliche Auffassungen über die Anzahl der Sterne am Wertehimmel geben kann. Nun schlage ich ausgehend von meiner ersten These noch eine weitere Galaxie vor: die Kategorie des Sinns. Neben Glück und Moral, so meine etwas konkretere zweite These (T2), gibt es noch eine weitere Wertdimension, die wir heranziehen, um unser Leben oder das Leben anderer evaluativ zu beurteilen. Es kommt uns auch auf den ‚Sinn im Leben‘ an. Ich wähle absichtlich die Formulierung ‚Sinn im Leben‘ (engl. meaning in life) und nicht etwa ‚Sinn des Lebens‘ (engl. meaning of life), denn Sinn im Leben ist etwas anderes als Sinn des Lebens, zumal letzterer zumeist explizit verkürzt als ‚der‘ Sinn des Lebens verhandelt wird. Sinn im Leben (fortan: SL) kann nach meiner Auffassung aber durchaus mit der Bestimmung von ‚Sinn des Lebens‘ zusammenfallen, etwa wenn das Ganze der je eigenen Existenz angesprochen, eine bestimmte Zweckhaftigkeit oder Zielrichtung des individuellen Lebens ausgemacht oder eine Verortung eines Individuums in einem kosmischen Zusammenhang ermöglicht, dadurch vielleicht auch auf eine transzendente Dimension menschlichen Lebens verwiesen werden soll.

Nun gibt es durchaus (noch?) Personen, auch Philosophinnen, die dieser dritten Kategorie ‚Sinn‘ wenig bis nichts abgewinnen können, die z.B. der Meinung sind, dieser postulierte zusätzliche Wert sei entweder auf die Moral- oder die Glücksdimension zu ‚reduzieren‘ oder ganz einfach wegzustreichen. Daher lässt sich mit Blick auf diese Positionen von ‚Sinn-Reduktionismus‘ oder ‚-Eliminativismus‘ sprechen. Es gibt danach für ein gutes und gelingendes Leben neben der moralischen Beurteilung und der Frage nach dem individuellen Wohlergehen (welches selbstverständlich auch in der sozialen Dimension, der Verortung eines Individuums in einem Beziehungsgeflecht oder Netz aus interpersonalen Verhältnissen, angesiedelt werden kann) keine weitere bedeutsame evaluative Kategorie. Für eine differenzierte und kluge Auseinandersetzung mit dieser Frage – die eine klare Antwort bereithält – vgl. den Beitrag „Sinn – eine dritte Dimension des guten Lebens?“ von Christoph Halbig in der Ausgabe 2 (2018) der Zeitschrift für Praktische Philosophie (dort S. 55-78). Nun müsste ich mit meiner zweiten These, will ich die Beweislast akzeptieren, beginnen, Material, Belege oder ‚Evidenzen‘ zu ihren Gunsten zusammenzutragen. Grundsätzlich können diese Argumente oder Beweismittel apriorisch oder aposteriorisch bzw. empirisch sein. Es ließe sich an unsere Intuitionen appellieren und aufzeigen, wie ‚unüblich‘ und unplausibel deren Verneinung oder Ablehnung ausfällt. Sage ich ‚unüblich‘, so habe ich aber bereits das Feld gewechselt und spiele nun auf dem Platz der Empirie, indem ich auf Gewohnheiten oder gar statistische Daten verweise. Ich will hier nicht gegen die methodologische Güte eines Rekurses auf Intuitionen in der Philosophie argumentieren; auch die Behauptung irreduzibler Werte im oben genannten Kanon von David Ross wird im Rahmen einer intuitionistischen Ethik vorgebracht.

Meine eigenen Überlegungen zur Sinnthese T2 finden sich ebenfalls in der zitierten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie (S. 119-150). Unter dem Titel „Persönlich bedeutsam, intrinsisch wertvoll und objektiv gut? Entwurf einer hybriden Theorie des ‚Sinns im Leben‘“ schlage ich neben T1 und T2 die weitere These (Sinnthese T3) ‚Es ist für ein Subjekt S objektiv wertvoll, einen Sinn im Leben (SL) zu haben‘ sowie die hier etwas salopp formulierte These (Sinnthese T4) vor: ‚Dabei kommt es – mit einigen wenigen Qualifizierungen – nicht darauf an, welche ‚Inhalte‘ für S den (eigenen) SL ausmachen‘. Auch T3 und T4 können sich in letzter Konsequenz ‚nur‘ auf entsprechende Intuitionen berufen. Ich verorte mich mit T3 und T4 im Feld ‚hybrider‘ Auffassungen zu SL, indem ich ein ‚objektives‘ (T3) mit einem ‚subjektiven‘ (T4) Sinnverständnis kombiniere, doch steht meine Rekonstruktion unserer SL-bezogenen Intuitionen quer zu der wohl prominentesten zu SL vertretenen Position, nämlich derjenigen der US-Philosophin Susan Wolf. Wolf hat den mittlerweile vielzitierten Slogan formuliert, nach dem „meaning in life arises when subjective attraction meets objective attractiveness” (vgl. z.B. Wolf 2016). All das, was S für sich als SL erachten könnte, also frei nach Wolf „subjektiv ansprechend“ findet, muss danach noch einem inhaltlichen Qualitätsfilter ausgesetzt werden. Nur wenn auch in objektiver, überindividueller Hinsicht die von S als sinnstiftend erachteten Gegenstände geeignet sind, SL zu konstituieren, so lässt sich nach Wolf diesem Gegenstand zurecht das Etikett „SL“ anheften. Briefmarkensammeln oder Kiffen fallen zum Beispiel nicht darunter. Ich behaupte hingegen, dass auch Philatelie ein sinnstiftendes Hobby sein kann und es wichtiger ist, dass der Philatelist überhaupt etwas als SL in seinem Leben ausmachen kann. Kiffen halte ich als SL für ungeeignet und ziehe insofern eine gewisse Rationalitäts- und Nichtschadenshürde ein, welche die fragliche Tätigkeit überspringen muss, um SL-konstitutiv sein zu können. Hier ist meine Position gewiss am angreifbarsten, da ich für die Begründung dieser Schwellenkonzeption wieder nur auf Intuitionen rekurrieren kann und in eine ansonsten ‚subjektive‘ Konzeption (vgl. T4) ein starkes ‚intersubjektiv-objektives‘ Gütekriterium einführe. Ich muss zeigen, dass Sätze wie „Rationalerweise kann man Kiffen nicht zum sinngebenden Lebensinhalt machen“ wahr sind, habe als Wahrmacher aber nur den Verweis auf unsere Vernunft und unsere geteilten inhaltlichen Intuitionen zur Verfügung.

Ich argumentiere übrigens im Einklang mit Wolf und anderen, z.B. dem gemeinhin als ‚Subjektivisten‘ angesehenen Philosophen Harry G. Frankfurt, dafür, dass die SL-konstitutiven Gegenstände Handlungen, Tätigkeiten oder Handlungsweisen sind. Bei Frankfurt wird als (notwendige und hinreichende) Handlungsweise ‚caring about X‘ ausgemacht. Für Frankfurt kommt es für die Auswahl von X nicht darauf an, dass es sich bei X um etwas objektiv Wertvolles handelt; vielmehr muss die Sorge um X für S möglich sein. Daraus ergibt sich der Wert der Handlungsweise ‚Sorge um X‘. Im Original heißt es in The importance of what we care about (1988, 80-94, S. 94 ganz am Ende): „The person does not care about the object because its worthiness commands that he do so. On the other hand, the worthiness of the activity of caring commands that he choose an object which he will be able to care about.”

Warum ich der Auffassung bin, dass Frankfurt ebenfalls eine ‚hybride‘ Theorie zu SL darstellt und meine eigene Position in ihrer ‚Objektiv-Subjektiv-Kombination‘ mit Frankfurt übereinstimmt, lege ich in der genannten Veröffentlichung dar. Diesen Blog will ich nun nicht zur Wiederholung des dort Gezeigten nutzen, sondern um ein paar Dinge in Erfahrung zu bringen, die ich an anderer Stelle – etwa in einer Fachpublikation – nur mit großen Kautelen aus interdisziplinärer Perspektive wiedergeben könnte. Hier aber dürfen mich Neugierde und Wissensdurst leiten und zur Exploration der aktuellen empirischen Sinnforschung motivieren. In aller Kürze und notwendig pointillistisch will ich Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen rezipieren und nutzen, um – nun eben empirische – Evidenzen zugunsten meiner Sinnthese (T2) zusammenzutragen. Also: Gibt es Hinweise auf den ‚Sinn des Sinns im Leben‘? Ist ‚SL‘ neben dem philosophischen Instrumentarium der Intuitionsbefragung auch mit den Mitteln psychologischer Forschung als eigenständige axiologische Kategorie auszumachen? Gibt es vielleicht sogar Anhaltspunkte zugunsten einer hybriden Konzeption, die sich womöglich gar im Sinne meiner Kombination von T3 und T4 deuten lassen?

Die in den USA tätigen Shigehiro Oishi & Ed Diener (2014), die im Bereich der ‚positiven Psychologie‘ und empirischen Glücksforschung zu Hause sind, haben anhand der Daten des Gallup World Poll herausgefunden, dass Bewohner armer Länder einen stärker ausgeprägten Lebenssinn haben als Bewohner wohlhabender Staaten. Doch scheint das maßgebliche Merkmal gar nicht der Wohlstand zu sein, sondern die Religiosität bzw. der Säkularisierungsgrad. Andere Studien ergeben, dass es Menschen, die einen ‚Sinn im Leben‘ suchen oder angeben, diesen gefunden zu haben, auf Kohärenz, „Sinnschaffung“ bzw. „Sinnerhaltung“ (meaning maintenance) und eine Zieldimension ankommt; es geht darum, dem eigenen Leben einen Zweck zu verleihen. Diese Endzweckorientierung erinnert an die aristotelische Konzeption guten und gelingenden Lebens, wie sie etwa in der Nikomachischen Ethik prominent firmiert. Doch muss eine genauere begriffliche Analyse der psychologischen Ansätze einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. So ist schon auf einer konzeptuellen Ebene nicht klar, ob es überhaupt eine einheitliche oder zumindest weithin geteilte psychologische Definition von ‚SL‘ gibt. In der deutschsprachigen psychologischen Literatur herrscht die Vokabel ‚Lebenssinn‘ vor. Dabei bleibt unklar, ob ‚Lebenssinn‘ anschlussfähig an die hier verwendete Formel ‚SL‘ ist oder doch eher auf ‚Sinn des Lebens‘ abzielt. Steht die Kohärenzproduktion für das Leben eines Subjekts im Vordergrund, scheint die transzendente Dimension vernachlässigbar. Nicht so, wenn es um die Einordnung des je eigenen partikularen Lebens in ein ‚großes universelles Ganzes‘ geht. Letzteres ‚passt‘ zumindest prima facie gut zu der genannten Studie von Oishi & Diener (2014), überschreitet aber die intensionalen wie extensionalen Grenzen von SL. Historisch schlägt der ‚existenzphilosophische‘ Ansatz von Viktor Frankl eine Brücke zwischen Philosophie und Psychologie. (Vgl. hierzu den folgenden Beitrag von Roland Kipke „Viktor Frankl und die gegenwärtige philosophische Sinndiskussion. Ein Beitrag zur Theorie des sinnvollen Lebens in Psychotherapie, Psychiatrie und Philosophie“ in der genannten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie, S. 243-282, der justament die Potenziale des psychiatrisch-therapeutischen Ansatzes von Frankl für die aktuelle philosophische Sinndebatte zu heben versucht.) Eine vierteilige axiologische Unterscheidung – neben „well-being, moral praiseworthiness, meaning in life“ firmiert hier auch noch „authenticity“ – und grundsätzliche quantitative Messbarkeit der Faktoren ‚guten Lebens‘ behauptet aus psychologischer Sicht Frank Martela (2017), der sich für die Grundlegung seiner Überlegungen explizit auf Susan Wolf bezieht und die Psychologie insofern eher ‚at the receiving end‘ sieht. Die in Österreich forschende Psychologin Tatjana Schnell hat mit ihrem Kollegen Peter Becker ein ‚rating scale‘ für SL entwickelt, den „Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn“ (LeBe 2007), engl. „The Sources of Meaning and Meaning in Life Questionnaire” (SoMe 2009). Damit sollen sich beispielsweise sogenannte „Sinnkrisen“ bei Männern als Hauptprädiktoren von Suizidalität aufzeigen lassen (vgl. die Studie „Crisis of Meaning Predicts Suicidality in Youth Independently of Depression“ von Tatjana Schnell, Rebekka Gerstner & Henning Krampe 2018). Schnell kommt in ihrem jüngsten Überblickswerk „Psychologie des Lebenssinns“ (2016) aber zu ganz und gar nicht in metrischen Skalen erschöpften Ergebnissen. Aufgrund der gebotenen Kürze springe ich an dieser Stelle sogleich zur Konklusion der Forscherin: „Im Verlauf dieses Buches wurde mehrfach darauf verwiesen, dass Sinn nicht zum Wesen einer Sache oder eines Ereignisses gehört. Er wird immer zugeschrieben: von einer Person in einer bestimmten Situation. Diese Subjektivität der Sinnerfahrung bedeutet, dass Menschen sehr unterschiedliche Dinge als sinnvoll erachten können. Wir müssen davon ausgehen, dass Hitler, Stalin oder die Mitglieder des sogenannten Islamischen Staats eine hohe Sinnerfüllung aufwiesen/aufweisen – zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg. Das mag uns widerstreben; doch sobald wir den Sinnbegriff normativ definieren, schränken wir seine Erklärungskraft massiv ein“ (2016, 179). Dies scheint zugunsten von T3 und T4 zu sprechen. Sinn ist danach etwas ‚objektiv Wertvolles‘ und zugleich inhaltlich ‚durch und durch Subjektives‘. Moralische Beurteilung und subjektiv empfundener Sinn können krass auseinanderfallen. Moralische Monster können Sinnchampions sein. Als Ergebnisse qualitativer Forschung führt dieselbe Autorin einige ‚Egodokumente‘ an – darunter auch von Viktor Frankl –, um ein mögliches Auseinanderfallen von ‚Glück‘ und ‚Sinn‘ aufzuzeigen (vgl. Abschnitt 9.2 „Sinn ohne Glück“, 2016, 109-111). Damit lassen sich auch T2 und T1 unter Rekurs auf die empirische Sinnforschung, wenn nicht validieren, so doch zumindest plausibilisieren.