Sinn und Moral

von Simon Weber (Universität Bonn)


Das eigene Leben als sinnvoll zu erfahren ist Teil des menschlichen Glücks. Das weiß jede, die schon einmal in einer handfesten biographischen Krise gesteckt hat. Ebenso beruht unsere Bewunderung für Persönlichkeiten wie Mutter Teresa, Albert Einstein und Paul Gauguin nicht zuletzt darauf, dass wir ihre Leben als in herausragendem Maße mit Sinn erfüllt begreifen. Insofern wir am Gelingen unseres eigenen Lebens interessiert sind, haben wir daher Grund nach Sinn zu streben.

Die Biographien von Mutter Teresa, Albert Einstein und Paul Gauguin, die in der Literatur immer wieder als Standardbeispiele für ein sinnvolles Leben genannt werden, vermitteln uns zudem eine Vorstellung davon, wie sich Sinn im Leben eines Menschen konstituiert: Man verleiht seinem Leben Sinn, indem man sich einem Projekt verschreibt – hier: die Fürsorge um Bedürftige, die Wissenschaft und die Kunst –, das wir als wertvoll und verdienstlich erachten. Dies können wir als die objektive Bedingung von Sinn bezeichnen. Allerdings müssen wir dergleichen Tätigkeiten auch tatsächlich wertschätzen. D. h., um Sinn in meinem Leben zu erfahren, reicht es nicht aus, dass ich einem wertvollen Projekt nachgehe. Ich muss mich auch affirmativ auf das von mir verfolgte wertvolle Projekt beziehen. Dies ist die subjektive Bedingung von Sinn im Leben.

Zugleich steht unser Handeln unter den Geboten der Moral. Wir wissen, dass wir die Ziele und Projekte, die unserem Leben Sinn zu geben geeignet sind, nicht auf Kosten der berechtigten Ansprüche unserer Mitmenschen verfolgen dürfen. Denn auch sie haben das Recht, ihre eigenen Ziele erfolgreich anstreben zu dürfen und nicht durch fremde Zwecke vereinnahmt zu werden. Dies evoziert die Frage nach dem Verhältnis von Sinn und Moral. Kann es in unserem Leben zwischen Sinn und Moral zum Konflikt kommen? Falls ja: Wie haben wir uns in solchen Fällen zu verhalten? Darf man Sinn gar auf Kosten der Moral verfolgen?

Klar ist zunächst, dass das Streben nach Sinn kein unmittelbares moralisches Gebot wie „Du sollst nicht lügen!“ ist. Denn die Moral gebietet uns andere Personen nicht willkürlich zu schädigen und sie in Notlagen zu unterstützen. Sie gebietet uns aber nicht eine bestimmte Form von Leben zu führen – etwa ein Leben, das der Kunst oder Wissenschaft gewidmet ist. Ich kann ein moralisch guter Mensch sein, ohne mich jemals einer wissenschaftlichen Studie gewidmet zu haben oder mit einer Staffelei in Berührung gekommen zu sein. Sinn ist kein Derivativ der Moral.

Wenn Sinn und Moral schon nicht in einem Derivationsverhältnis zueinander stehen, fallen sie dann wenigstens zusammen? Die Koinzidenz von Sinn und Moral wird durch Beispiele wie das Leben von Mutter Teresa nahgelegt. Denn Mutter Teresas Wirken war das der Tugend der Barmherzigkeit. „Sinn“ und „Moral“ fallen in ihrem Leben zusammen, weil sie ihrem Leben dadurch Sinn verliehen hat, dass sie sich in selbstloser Weise einem moralisch wünschenswerten Projekt verschrieben hat. Das Zusammenfallen von Sinn und Moral wäre für uns als Handelnde willkommene Kunde, da es so nicht zu konfligierenden Anforderungen an uns kommen würde.

Ein naheliegender Einwand gegen die Koinzidenzthese von „Sinn“ und „Moral“ besteht in der Annahme, dass auch unmoralische Ziele und Projekte Sinn im Leben eines Menschen konstituieren können. So beschreibt etwa Hannah Arendt Adolf Eichmann in Eichmann in Jerusalem (1963) als eine Figur, die durch den Eintritt in die SS aus einer Phase der persönlichen Orientierungslosigkeit gefunden und seinem Leben Sinn verliehen hat. Ich glaube jedoch, dass man diesen Einwand entkräften kann. (Dagegen argumentiert Michael Kühler in seinem Blogbeitrag.) Denn obwohl Eichmann selbst sein Leben in der SS als mit Sinn erfüllt beschreibt (er sich also affirmativ auf das von ihm verfolgte Projekt bezieht und damit die subjektive Sinnbedingung erfüllt), gibt es berechtigte Zweifel daran, ob man ein solches Leben überhaupt vernünftigerweise als „sinnvoll“ begreifen kann. Denn Eichmanns Einsatz für den Holocaust verstößt gegen die objektive Sinnbedingung, nach der es sich um ein wertvolles oder verdienstliches Projekt handeln muss, dem man sein Leben widmet. Lebensentwürfe, die auf so dezidierte Weise unmoralisch sind wie das Leben Eichmanns, können schlichtweg keinen Sinn konstituieren. Dies liegt daran, dass die Organisation des Holocausts keine „sinnvolle“ Tätigkeit ist. Eichmanns Leben ist daher nicht nur zutiefst „unmoralisch“, es ist auch frei von „Sinn“. Es ist „sinnlos“.

Damit scheint eine mögliche Dissonanz von „Sinn“ und „Moral“ abgewendet. Dieser Befund wäre allerdings vorschnell. Denn Sinn und Moral können noch auf andere Weise in unserem Leben miteinander in Konflikt geraten. Dies ist dann der Fall, wenn zwar das sinnkonstituierende Projekt selbst nicht unmoralisch ist – d. h. moralisch gut bzw. erlaubt ist –, das Projekt aber nur durch Inkaufnahme eines moralischen Kollateralschadens zu verwirklichen ist. Der britische Moralphilosoph Bernard Williams hat ein derartiges Szenario in Anlehnung an die Biografie Paul Gauguins entworfen: Paul Gauguin fühlt sich gegenüber seiner Familie verantwortlich. Dennoch gibt er seine Familie auf und lässt sie in einer schlimmen Notlage zurück. Er tut dies, weil er den Sinn in seinem Leben darin sieht, ein großer Maler zu werden. Er zieht auf eine Südseeinsel, weil er glaubt, dass nur das Leben in einer primitiveren Umgebung ihm erlauben wird, seine Gaben als Maler zu vervollkommnen.

Wie ist Gauguins Fall zu beurteilen? Einerseits lässt sich – anders als im Fall Eichmann – nicht argumentieren, dass Gauguins Leben einem Projekt gewidmet ist, das auf dezidierte Weise unmoralisch ist. Kunst ist eine verdienstvolle (und moralisch zulässige) Tätigkeit. Die objektive Sinnbedingung ist somit erfüllt. Es gibt daher keinen guten Grund, Gauguins Leben nicht Sinn zu attestieren. Man ist vielmehr dazu geneigt zu erwidern: Wenn das Leben von Paul Gauguin keinen Sinn gehabt haben soll, wessen Leben denn bitteschön dann!? Schließlich handelt es sich bei Gauguin um einen Klassiker der modernen Malerei. Anderseits ist ebenso klar, dass er die berechtigten Ansprüche seiner Familie, die er als Ehemann und Vater übernommen hat, verletzt, um sich selbst als Maler zu verwirklichen. Damit liegt tatsächlich ein Fall vor, bei dem (a) Sinn und Moral im Leben einer Person miteinander konfligieren sowie (b) zunächst offen bleibt, ob Gauguin nicht „richtig“ gehandelt hat, d. h., er dazu berechtigt war, seine moralischen Pflichten als Vater und Ehemann zu verletzen, um seinem Leben Sinn zu verleihen.

Die US-amerikanische Moralphilosophin Susan Wolf deutet den Fall von Gauguin dann auch so, dass dem Streben nach Sinn in gewissen Konstellationen tatsächlich Vorrang vor der Moral einzuräumen ist. Denn ihr zufolge haben wir nur dann Grund moralisch zu handeln, wenn wir überhaupt ein Interesse an der Welt nehmen. Und ein existenziales Interesse an der Welt fassen wir nur dann, wenn wir unser Leben als sinnvoll erfahren. Ein vollständig depressiver Charakter, so Wolf, würde sich schlichtweg nicht um die Welt (und damit um die Moral) scheren. Sinn stellt demnach eine notwendige Voraussetzung für moralisches Handeln dar. Entsprechend sind für Wolf moralische Kosten zugunsten von Sinn genau dann in Kauf zu nehmen, wenn nur so das grundlegende Interesse einer Person an der Welt (und damit an der Moral) erhalten bleibt. Die Zurückweisung moralischer Ansprüche durch Sinn geschieht somit selbst im Namen der Moral: Ohne Sinn würde die Welt auch unter moralischen Gesichtspunkten insgesamt schlechter dastehen, da man nicht moralisch handeln würde.

Fassen wir unsere knappen Beobachtungen zusammen: Wie sich zeigt, erweist sich das Verhältnis von Sinn und Moral als äußerst komplex. Einerseits sind wir am Gelingen unseres Lebens interessiert und haben deshalb Grund, unserem Leben Sinn zu verleihen. In einer starken Interpretation, wie sie etwa von Wolf vertreten wird, kann Sinn sogar als notwendige Voraussetzung für das Interesse an Moral überhaupt verstanden werden, so dass Sinn gegebenenfalls auf Kosten von Moral verfolgt werden darf. Andererseits stehen wir als praktisch-rationale Wesen unter den Geboten der Moral, so dass die Moral sowohl den Umfang sinnkonstitutiver Projekte als auch die Mittel zu ihrer Verwirklichung limitiert.

Das Verhältnis von Sinn und Moral ist damit unter Theoriegesichtspunkten nicht zufriedenstellend geklärt und bedarf einer weitergehenden philosophischen Analyse. Eine wichtige praktische Implikation drängt sich jedoch mit Nachdruck auf: Soll unser Leben gelingen und glücklich sein, haben wir Sinn und Moral in ihm in Einklang zu bringen. Denn nur wenn wir es bewerkstelligen, dass Sinn und Moral in unserem Leben zusammenfallen, können wir ein Leben führen, das frei von inneren Konflikten ist. Nur dann können wir ein Leben führen, das zugleich sinnerfüllt und frei von Vorwürfen durch unser Gewissen ist. Mittel, um Konflikte zwischen Sinn und Moral in unserem Leben zu vermeiden, sind etwa eine fortwährende Selbstprüfung und eine kritische Distanz zu den uns überkommenen sozialen Normen. Hätte Gauguin die inneren Regungen, sich als Maler verwirklich zu wollen, früher ernstgenommen und sich von den sozialen Normen, einen „ordentlichen“ Beruf ausüben und eine Familie gründen zu müssen, stärker distanziert, wäre er nicht Ehemann und Vater geworden. Er hätte so seinem Leben Sinn verleihen können, ohne seine moralischen Pflichten zu verletzen. Wir haben uns das Leben von Gauguin daher als sinnvoll, nicht aber als gelingend und glücklich vorstellen. 


Simon Weber ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Praktische und Politische Philosophie der Antike.