27 Jun

Begriffliche Denkmalstürze? Oliver Eberls kolonialismuskritische Verabschiedung von ‚Naturzustand‘ und ‚Barbarei‘

Von Martin Welsch (Flensburg)


Wir leben in einer Zeit der Denkmalstürze, und auch Oliver Eberl verfolgt denkmalstürzlerische Absichten mit seinem Buch Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus. Neben den gesellschaftlichen Denkmalstürzen – man denke an die von Demonstrantinnen gestürzte und ins Hafenbecken von Bristol geworfene Statue Edward Colstons im Juni 2020 –, seien zur Aufarbeitung des kolonialen Erbes auch begriffliche Denkmalstürze vonnöten. Wie postkoloniale Ansätze es fordern, müsse der begriffliche Bestand der Wissenschaften auf seine koloniale Prägung hin durchleuchtet werden. Denn auch Begriffe und ihre Bezeichnungen können bekanntlich koloniale, abwertende und rassistische Wahrnehmungsmuster in sich tragen und so eine Tiefenwirkung bis in die Gegenwart entfalten. Während derlei Bemühungen in der Soziologie und Ethnologie bereits auf der Tagesordnung stehen, seien sie in der Politikwissenschaft bislang ausgeblieben. Oliver Eberl möchte diesbezüglich nachhelfen. So will sein Buch mit einem Schlag gleich zwei Leitbegriffe der Politischen Theorie, Philosophie und Ideengeschichte stürzen: den des Naturzustands und den der Barbarei.

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30 Jun

Zur double bind-Paradoxie der repräsentativen Demokratie

Von Martin Welsch (Heidelberg)


In der Publizistik ist es ein Gemeinplatz, dass sich die repräsentative Demokratie in einer Krise befindet, Politikverdrossenheit und Massenproteste werden als Zeichen dafür gewertet. Die politik- und sozialwissenschaftliche Theorie dieser Krisendiagnose ist die der „Postdemokratie“: Das Repräsentativsystem habe früher seinen demokratischen Zweck erfüllt, doch diese Zeit sei vergangen. Derzeit gleiche sich das System wieder dem vordemokratischen Zustand an, sodass die Demokratie zur leeren Hülse werde. Für Vertreter der Postdemokratiethese liegt dies jedoch nicht am Repräsentativsystem selbst; seine Degeneration sei äußerlich bedingt, nach Ansicht von Colin Crouch durch Wirtschaftsmacht.

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