Der neue SWIP Good Practice Guide „Vereinbarkeit“ – Teil 2
von Almut von Wedelstaedt (Bielefeld), Christiana Werner (Duisburg-Essen), Christine Bratu (Göttingen) und Katharina Naumann (Magdeburg)
Bekannterweise sollte es uns als Philosoph:innen nicht nur darum gehen, die Welt besser zu verstehen, sondern wir sollten auch einen Beitrag dazu leisten, sie zum Besseren zu verändern. Dies gilt insbesondere für unsere eigene wissenschaftliche Community, also denjenigen Ausschnitt der Welt, in dem wir uns als Philosoph:innen berufsbedingt herumtreiben. Die vorliegende Reihe zum Thema „Vereinbarkeit“ soll beides leisten: Zum einen soll sie Personen, die (noch) ohne Sorgeverantwortung im Wissenschaftsbetrieb unterwegs sind, verdeutlichen, was Personen, die (bereits) Sorgeverantwortung für andere übernehmen, schmerzlich bewusst ist – nämlich dass es mit der Vereinbarkeit wissenschaftlichen Arbeitens und der Sorge um andere Menschen meist nicht weit her ist. Zum anderen sollen aber auch konkrete Vorschläge zur Diskussion gestellt werden, wie wir diese Situation als Community verbessern können. Im neuen SWIP Good Practice Guide zum Thema „Vereinbarkeit“ haben wir einige dieser Vorschläge gesammelt, die wir hier nun kurz vorstellen wollen (den vollständigen Guide gibt es hier, Teil 1 der Vorstellung des Guides auf praefaktisch hier).
Das Wichtigste zuerst: Bewusstseinswandel!
Grundlegende Voraussetzung für alle weiteren Veränderungen ist in unseren Augen ein Bewusstseinswandel. Die akademische Community muss anerkennen, dass Sorgeleistende vor besonderen Herausforderungen stehen, die sich auch auf ihr akademisches Arbeiten auswirken. Dies bedeutet nicht, dass Sorgeleistende weniger engagierte Wissenschaftler:innen und deswegen weniger förderungswürdig sind; oftmals beweisen gerade Sorgeleistende, geschult durch ihre Mehrfachbelastung, besondere Leistungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Es sollte auch nicht, wie Tina Jung richtig bemerkt, darum gehen, Sorgeleistende durch Coachings o.ä. noch besser in puncto Selbstoptimierung und -ausbeutung zu machen. Stattdessen müssen wir die Strukturen und Anforderungen so anpassen, dass auch Sorgeleistende die Möglichkeit haben zu reüssieren – anderenfalls können wir uns als Community Ideale wie Vereinbarkeit oder Chancengleichheit nicht mehr glaubwürdig auf die Fahnen schreiben.
Die besonderen Herausforderungen, vor denen Sorgeleistende stehen, müssen demnach immer explizit mitbedacht werden. Nachfolgend ein paar konkrete Vorschläge dazu, wie dies in puncto Organisation von Arbeit und Institutsleben sowie bei der Karriereentwicklung aussehen könnte.
Terminfindung
Beiträge wie der von Almut von Wedelstaedt machen deutlich, dass Personen mit Sorgeverantwortung bei ihrer Zeiteinteilung oft mit mehreren und teils miteinander unvereinbaren Ansprüchen konfrontiert sind – etwa wenn eine Wissenschaftler:in nur vormittags forschen kann, weil da das Kind in der Kita ist, die Ärzt:innen, die wegen dem kranken Vater dringend konsultieren werden müssen, aber natürlich auch nur morgens erreichbar sind. Wegen solchen Mehrfachbelastungen ist es wünschenswert, dass über Terminfindungsfragen (etwa für Institutskolloquien, Gremiensitzungen etc.) regelmäßig mit allen Beteiligten Rücksprache gehalten wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Personengruppen (Personen mit und ohne Sorgeverantwortung, Personen mit und ohne Sorgeverantwortung, die zudem pendeln etc.) unterschiedliche Bedürfnisse haben können und dass es zwischen diesen zu vermitteln gilt.
Veranstaltungen (insbesondere solche mit hohem Networking-Wert wie etwa Institutionskolloquia oder Gastvorträge) sollten zu Uhrzeiten stattfinden, zu denen üblicherweise eine Kinderbetreuung zur Verfügung steht (meistens zwischen 8 Uhr und 15 Uhr). Dies bedeutet u.U., dass mit angestammten akademischen Gepflogenheiten gebrochen werden muss (so dass externe Gäste bspw. zum Mittag- statt zum Abendessen eingeladen werden). Bei Konferenzen sollte eine kostenlose Kinderbetreuung (mit der Möglichkeit zur „Eingewöhnung“ der Kinder) angeboten oder die Mitreise einer weiteren Betreuungsperson für Kinder unterstützt und idealerweise auch bezahlt werden. Wenn Veranstaltungen außerhalb der gängigen Betreuungszeiten stattfinden, sollte man erwägen, Personen, die nicht vor Ort sein können, die digitale Teilnahme zu ermöglichen. Dieses Zusatzangebot darf aber nicht so missverstanden werden, dass dadurch wirklich alle an der Veranstaltung teilnehmen können und müssen.
Insgesamt wäre es wünschenswert, wenn sich in der Community die Einsicht durchsetzen könnte, dass weniger manchmal mehr ist. So kann es sich bspw. manchmal lohnen, weniger Kolloquiumstermine oder Veranstaltungen anzusetzen, bei denen aber alle teilnehmen können, als viele, die jeweils nur von einigen besucht werden können.
Organisation des Semesterbetriebs
Sorgeleistende sollten bei der Planung der Zeiten von Lehrveranstaltungen Priorität haben. Sorgeleistenden Lehrenden (insbesondere solchen, die pendeln) sollte es ermöglicht werden, Teile ihrer Lehre wenn notwendig digital abzuhalten. Hierbei gilt es, zwischen den besonderen Belastungen, mit denen Sorgeleistende konfrontiert sind, und den legitimen Bedürfnissen der Studierenden abzuwägen.
Termine sollten ganz allgemein in der Regel mit einem Planungsvorlauf von mindestens zwei Wochen angesetzt werden. Kurzfristige Terminanberaumungen sollten nur in besonderen Ausnahmen und möglichst selten erfolgen.
In einigen Bundesländern ist die Überschneidung zwischen Semester- und Schulferien nur sehr kurz (siehe auf Twitter #SemesterUnvereinbar). Für diese Zeitspanne ist es wünschenswert, wenn möglichst keine Veranstaltungen oder Sitzungen geplant werden. Sollte sich das nicht vermeiden lassen, sollten die Termine hybrid stattfinden und Sorgeleistende zudem nicht zur Teilnahme verpflichtet sein. Dies gilt ebenso für Schließzeiten der Kitas und eventuelle Streiks usw.
Aufgabenverteilung
Grundsätzlich sollten sich Institute darum bemühen, die Aufgabenverteilung (etwa in der akademischen Selbstverwaltung, bei der Betreuung von Abschlussarbeiten etc.) transparent, kollegial und fair zu gestalten. Insbesondere sollte darauf geachtet werden, dass Sorgeleistenden nur so viele Aufgaben zugeteilt werden, dass sie ihren weiteren akademischen Aufgaben sowie ihrer Sorgearbeit ausreichend gut nachkommen können. Damit dies der Fall ist, wird es u.U. notwendig sein, dass Kolleg:innen, die aktuell ohne Sorgeverantwortung sind, mehr Aufgaben übernehmen. Bei einer möglichen Umverteilung müssen allerdings auch andere Aspekte als die Mehrbelastung durch Sorgeverantwortung, etwa Unterschiede in den Karrierestadien und Anstellungssverhältnissen berücksichtigt werden. Bettina Bohle schildert eindrücklich, mit welchen besonderen Belastungen Personen konfrontiert sind, die sich parallel zu ihren (oftmals ja über lange Phasen hinweg prekären) akademischen Karrieren ein zweites Standbein außerhalb der Wissenschaft aufbauen wollen oder müssen.
Karriere
Im Zuge des oben angemahnten Bewusstseinswandel sollten die Leistungskriterien, nach denen Bewerber:innen für akademische Positionen (Studienplätze, Mitarbeitenden-Stellen, Projektstellen, Professuren etc.) bewertet werden, für Sorgende angepasst werden (hierzu wird es in dieser Reihe noch Beiträge von Elke Schmidt und Christine Bratu geben). Zu erwarten, dass eine Person mit Sorgeverantwortung in der gleichen Zeit genauso viel bzw. genauso gut arbeitet wie eine Person ohne, ist schlicht unrealistisch und unterläuft damit das Gebot der fairen Chancengleichheit! Dies muss mit Blick auf alle Parameter, nach denen gängigerweise akademische Leistung ermittelt wird, berücksichtigt werden, d.h. bei Publikationen, eingeworbenen Drittmitteln, organisierten Veranstaltungen, erfolgten Auslandsaufenthalten etc. In Stellenausschreibungen oder in Vorstellungsgesprächen sollen Bewerber:innen deswegen ausdrücklich dazu aufgefordert werden, Faktoren anzugeben, die ihre wissenschaftliche Produktivität/ihren Lebenslauf beeinflusst haben. Diese Faktoren erlauben eine realistische Einschätzung der Leistungen der Bewerber:innen und dürfen nicht zu einer Abwertung der Bewerbung führen.
Oft werden längere Auslandsaufenthalte noch als wichtige Karriereschritte angesehen. Dies ist sicherlich nicht unberechtigt, weil die Austauschmöglichkeiten, die solche Aufenthalte mit sich bringen, für viele Wissenschaftler:innen bereichernd sind. Weil aber nicht alle Wissenschaftlerinnen die gleichen Möglichkeiten haben, Auslandsaufenthalte zu realisieren (sei es aufgrund von Sorgeverantwortung, Behinderung oder chronischer Krankheit, Finanzierungsschwierigkeiten etc.), sollten Auslandsaufenthalte niemals notwendige Bedingung für weitere akademische Karriereschritte sein. Um Sorgeleistenden Auslandsaufenthalte zu ermöglichen, sollte zudem eine finanzielle Unterstützung angestrebt werden, die Mehrkosten durch häufige Hin- und Rückreisen auffängt. Alternativ sollten Sorgeleistende dabei unterstützt werden können, Gastwissenschaftler:innen für mehrere kürzere oder einen längeren Zeitraum einzuladen, um so den notwendigen internationalen Austausch zu fördern.
Schließlich sollten Universitäten ihre Dual Career Optionen stärker ausbauen und besser bekannt machen. Zum Thema „Dual Career und Vereinbarkeit“ wird es in dieser Reihe noch zwei Beiträge von David Löwenstein geben.
Weitere Vorschläge?
Wir hoffen, dass die aufgeführten Vorschläge wichtige Anregungen dazu geben können, wie Sorgeleistende in ihrer akademischen Arbeit unterstützt und so die für sie anfallenden Mehrfachbelastungen zumindest teilweise aufgefangen werden können. Sicherlich ist hiermit aber noch nicht alles gesagt. Wir freuen uns daher über Ergänzungsvorschläge ebenso wie über konstruktiv-kritische Stellungnahmen an swipgermany@gmail.com.
Almut von Wedelstaedt, Christiana Werner, Christine Bratu und Katharina Naumann sind als Philosophinnen an den Universitäten Bielefeld, Duisburg-Essen und Gießen, Göttingen und Magdeburg tätig und engagieren sich gemeinsam in der SWIP AG Vereinbarkeit.