19 Okt

„Bei gleicher Qualifikation werden Personen mit Schwerbehinderung bevorzugt“

Von Christiana Werner (Justus-Liebig-Universität Gießen und Universität Duisburg-Essen)


Diesen Satz kann man häufig, fast immer in akademischen Stellenausschreibungen finden. Es scheint erst einmal eine gute Sache zu sein, wenn Menschen mit einer schweren Behinderung „bevorzugt“ werden. Ob tatsächlich durch diese Maßgabe mehr Personen mit Behinderung eingestellt werden, ist eine empirische Frage. Es wäre interessant herauszufinden, ob und wie viele Menschen mit Schwerbehinderung eine Professur oder auch eine andere Stelle in der akademischen Philosophie bekommen haben, seitdem auf die Bevorzugung bei gleicher Qualifikation in den Ausschreibungen hingewiesen wird.

Die Idee hinter dieser Maßgabe scheint zu sein, eine bestehende Ungerechtigkeit in der Vergabe von Stellen auszugleichen. Man könnte annehmen, dass in der Vergangenheit auch bei gleicher Qualifikation Menschen mit Schwerbehinderung nicht eingestellt wurden. Das wäre dann eine ähnliche Situation, in der sich Frauen befanden (und wahrscheinlich immer noch befinden). Indem man dann Kriterien für die Entscheidung zwischen zwei oder mehreren gleichqualifizierten Bewerberinnen vorgibt, stellt man die Weichen so, dass nun die Personengruppen, die in der Vergangenheit nahezu chancenlos waren, eine Chance bekommen. Wenn eine Person – trotz ihrer Schwerbehinderung – die gleiche Qualifikation vorweisen kann wie eine Person ohne Behinderung, scheint es tatsächlich sehr fair, der Person mit Schwerbehinderung die Stelle zu geben. So weit so fair.

Ein großes Problem verbirgt sich aber bei der Vorgabe, dass die Person mit Schwerbehinderung die gleiche Qualifikation vorweisen muss wie eine Person ohne Behinderung. Für eine Professur heißt das wohl, dass sie etwa die gleiche Anzahl an Publikationen aufweisen muss, etwa gleich viele Drittmittel eingeworben haben muss und sich in etwa gleichem Umfang in der akademischen Selbstverwaltung engagiert, Tagungen organisiert hat usw. Wir hätten es also mit einer Person zu tun, die trotz ihrer Schwerbehinderung den gleichen quantitativen Output vorweist wie die Mitbewerberinnen ohne diese massive Beeinträchtigung im gleichen (akademischen) Alter der Qualifikationsstufe. Das klingt schon etwas weniger fair.

Eine Schwerbehinderung kann natürlich eine körperliche Beeinträchtigung sein, die sich so gut wie gar nicht auf die philosophisch-akademische Arbeit auswirkt. Man könnte an einen Menschen im Rollstuhl, der nur in seiner Fähigkeit zu laufen beeinträchtigt, sonst körperlich super fit, am besten noch sportlich aktiv und gesund. Wir stellen uns vor, dass wir für diese fiktive Person Rampen und Fahrstühle bauen und ihr so den Zugang zur akademischen Welt erleichtern. Das klingt großartig und einfach. Es entspricht aber kaum der Realität vieler Personen mit Schwerbehinderung.

Was es heißt, eine Person mit einer Schwerbehinderung zu sein, heißt klarerweise sehr Unterschiedliches. Das anzuerkennen und zu berücksichtigen scheint mir ein Aspekt respektvollen Umgangs zu sein. Ich möchte hier eine Person mit Schwerbehinderung herausgreifen, die eine chronische Krankheit hat. Diese chronische Krankheit zwingt sie vielleicht im Alltag zu längeren Pausen oder aber es erfordert, sich häufig Operationen zu unterziehen, was mit längeren Krankenhausaufenthalten und damit Arbeitspausen verbunden ist. Es kann sein, dass eine Schwerbehinderung mit Erschöpfungszuständen und permanenten Schmerzen einhergeht. Die Krankheit oder Behinderung zu managen, d.h. über Behandlungsmethoden nachzudenken, Entscheidungen zu treffen, den eigenen Lebenswandel immer wieder zu überdenken und der physischen Verfassung anzupassen, das alles erfordert sehr viel Zeit und Energie. Wer unter solchen und ähnlichen Umständen den gleichen Output vorzuweisen hat wie eine Person ohne Schwerbehinderung, hat klarerweise unter deutlich höheren Anstrengungen diesen Output erzielt. Diese Person hätte um einiges konzentrierter und damit effizienter in der kürzeren Zeit arbeiten müssen, die ihr zur Verfügung steht. 

Wie könnte man auf diese besonderen Bedingungen gerechterweise reagieren? Ein diskussionswürdiger Vorschlag ist, die Anforderungen für Menschen mit Schwerbehinderung anzupassen ähnlich wie das auch für Personen, die Sorgearbeit leisten, empfohlen wird. So wie für Sorgearbeit empfohlen, könnte eine Schwerbehinderung in die Berechnung des akademischen Alters einbezogen werden. Menschen mit Schwerbehinderung hätten dann mehr Zeit, die quantitativen Anforderungen zu erfüllen, die für die ausgeschriebene Stelle festgelegt werden.

Tatsächlich könnte man den Eindruck haben, dass aber nur eine Person wie der kerngesunde Rollstuhlfahrer, der auf hohem Niveau akademische Philosophie treibt und in seiner Freizeit im Olympiateam Basketball spielt, willkommen wäre. Diese Person ließe sich dann auch leicht in den akademischen Alltag integrieren und wir können ihn oder sie uns gut als Kollegin oder Kollegen vorstellen, der selbstverständlich einen Teil der Aufgaben übernimmt, die im Institut anfallen.

Was wäre aber, wenn eine Person mit Schwerbehinderung eingestellt würde, die etwas weniger diesem Ideal und etwas mehr dem Bild der chronisch Kranken entspricht, das ich oben gezeichnet habe?

Eine Person einzustellen, die weniger leisten kann, ist aber ein Problem für ein Institut. Eine solche Person müsste wahrscheinlich häufig in Gremien vertreten werden, die Lehre würde wohlmöglich häufig ausfallen, wofür Lösungen gefunden werden müssten. Die Lehre ließe sich vielleicht noch durch eilig ausgestellte Lehraufträge retten. Aber die Arbeit in Gremien und anderen Aufgaben der akademischen Selbstverwaltung lassen sich so nicht verteilen. Wahrscheinlich würde es so sein, dass die Arbeit auf die anderen Kolleginnen und Kollegen verteilt würde. Es ist kein Geheimnis, dass die meisten schon ohne zusätzliche Aufgaben gut beschäftigt sind und daher nicht gerade erfreut wären über die Perspektive, wegen einer Kollegin mit Schwerbehinderung sich darauf einstellen zu müssen, mehr zu arbeiten. Und das kann natürlich auch nicht die Lösung sein.

Wenn Universitäten gegenüber Menschen mit Schwerbehinderung tatsächlich fair sein wollen, müssen sie akzeptieren, dass eine Schwerbehinderung eine echte Beeinträchtigung sein kann, die dazu führt, dass es zu Arbeitsausfällen kommen kann. Diese Ausfälle müssen nicht nur bei der Leistungsbemessung berücksichtigt werden, vielmehr müssen sie auch hinsichtlich der Arbeitsverteilung institutionell geregelt sein. Nur wenn es institutionelle Lösungen gibt, die nicht beinhalten, dass die Arbeit auf andere Institutsmitglieder verteilt wird, werden Kommissionsmitglieder bereit sein, eine Person auszuwählen, bei der klar ist, dass es zu Arbeitsausfällen kommen kann. Aber für solche institutionellen Lösungen braucht es Geld. Solange Universitäten nicht bereit sind, sich um Lösungen zu sorgen und auch die finanziellen Mittel aufzubringen, die es braucht, um die Lösungsideen umzusetzen, so lange wird es keinen fairen Umgang mit Personen mit Schwerbehinderung im akademischen Betrieb geben. Wir sollten hoch motiviert sein, diese institutionellen Lösungen und finanzielle Mittel bereitzustellen, nicht nur aus Gerechtigkeitserwägungen, sondern auch, weil wir die Diversität im Fach wollen; die Perspektiven, Denkanstöße und Themen, die damit einhergehen.