Erziehen durch Erzählen. Moralische Bildung im Raum des Fiktionalen

von Anke Redecker (Bonn)


Versteht man Bildung als ein sinn- und verantwortungsvolles Sich-ins-Verhältnis-Setzen zu anderen, anderem und sich selbst, so kann damit ein Humboldtsches Bildungsverständnis angesprochen werden,[1] das sich im fortlaufenden – zum Beispiel wahrnehmenden, bestimmenden und wertenden – Bezug des Menschen zur Welt charakterisieren lässt. Da es sich bei diesem Weltbezug nicht um „meine“ von mir –zum Beispiel  ideologisch oder kulturspezifisch – zurechtgedachte Welt, sondern um „die“ Welt handelt, ist mit dieser Auseinandersetzung zugleich eine zwar je perspektivische, aber letztlich kosmopolitische Relation[2] verbunden, geht es doch um „den“ Menschen schlechthin, der die Welt – mit ihren vielfältigen Bewohnerinnen und Bewohnern – erfährt und zu verstehen versucht sowie zu verantwortlichen weltbezogenen Urteilen und Gestaltungen aufgerufen ist.

Wilhelm von Humboldt spricht von einem regen, dynamischen Wechselbezug von Mensch und Welt. Was wir – von der Welt, zu der wir auch selbst gehören –verstanden zu haben glauben, eröffnet neue Fragen, und jede moralische Wertung kann neue ethische Problemkonstellationen aufzeigen. Dass also nicht nur wir uns im Bildungsprozess verändern, sondern auch die immer wieder neu und anders erlebte, verstandene, gestaltete und beurteilte Welt, die als solche uns immer wieder neu herausfordert, einer Wandlung unterliegt, lässt uns weniger als wissende, sondern eher als suchende, aus Irrtümern lernende und weiterfragende Menschen erscheinen.

Im moralpädagogischen Kontext zeigt sich dies darin, dass unser Urteil in jeder moralischen Entscheidungssituation immer wieder neu herausgefordert wird. Darum möchte ich hier einen Bogen von Humboldts Weltbezug zu Kants moralischer Urteilskraft schlagen. Gerade die reflektierende, vom Besonderen (der je individuellen Entscheidungssituation) ausgehende, hermeneutische Urteilskraft[3] ist entscheidend, wo eine je angemessene Entscheidung gefunden werden soll.[4] Es gilt je herausforderungsrelevant zwischen Werten abzuwägen.[5] Moralisches Urteilen und Handeln erfordert darum Flexibilität und Kreativität[6] und kann nicht auf Handlungsschemata und Rezeptologien setzen, die lediglich bedarfsgerecht abzurufen wären.

Dass zum Beispiel neue Forschungsergebnisse auch neue ethische Herausforderungen mit sich bringen, wie etwa die Reproduktionsmedizin oder der digitale Hype gezeigt haben, lässt eine Ethik als inakzeptabel erscheinen, die meint, sich in einem gegenwärtig festlegbaren Kanon von Handlungsanweisungen ein für alle Mal erschöpfen zu können. Entscheidend ist nicht in erster Linie das Subsumieren von Entscheidungssituationen unter Reglementierungen, sondern das immer wieder neu herausgeforderte situative Entscheiden, das sich zwar – durch bestimmende Urteilskraft – an Regeln orientieren kann, diese aber anhand des konkreten Falls selbst immer wieder reflektierend neu in Frage zu stellen hat.

Durch die Anregung der je eigenen moralischen Urteilskraft Lernender gilt es Indoktrination und Machtmissbrauch im Lehr-Lern-Kontext entgegenzuarbeiten. Was Joachim Willems für einen nicht-indoktrinären Religionsunterricht in Anspruch nimmt, ist dann auch für den Ethik-Unterricht unerlässlich. Dieser sollte ein Unterricht sein, der „Möglichkeiten zur Distanzierung bietet sowie die Freiheit lässt und eröffnet, im Unterricht behandelte Sichtweisen und Überzeugungen zu übernehmen oder abzulehnen – und damit das Überwältigungsverbot beachtet“[7].

Gerade Heranwachsende – aber wohl nicht nur diese – haben die Aufgabe, ihre Urteilskraft zu üben[8] – eine Aufgabe, die mit Kant im Raum des Fiktionalen angesiedelt werden kann.[9] In Auseinandersetzung mit moralischen Erzählungen lässt sich eine verantwortliche Urteilsversiertheit ansreben, die in der Regel auf einen Prozess der Selbsterprobung, des wiederholten Irrens, Scheiterns, Korrigierens und Weiterfragens verwiesen bleibt. Gerade der realitätsentlastete Raum des Fiktionalen bietet hier ein Szenario, bei dem fatale Entscheidungskonsequenzen verhindert werden können. In Auseinandersetzung mit einer fiktiven Entscheidungssituation können Heranwachsende lernen eine entscheidungsfördernde Balance zwischen Emotionalität und Rationalität, „Bauchgefühl“ und Begründung, Empathie und reflexiver Distanz zu gewinnen.

Nun ist dieser moralpädagogisch auf das Fiktionale setzende Kurs nicht neu. Immer noch wird Lawrence Kohlberg mit seinen Dilemma-Diskussionen[10] als der einschlägige Kant-Nachfolger im moralpädagogischen Kontext propagiert. Doch Dilemmata hinterlassen einen üblen Nachgeschmack. Für welche Alternative man sich auch entscheidet, in jedem Fall muss man Einbußen, Nachteile und Abstriche hinnehmen.

Als Beispiel möge das bekannte Kohlbergsche Heinz-Dilemma dienen. Heinz hat die Wahl, entweder ein für ihn unerschwingliches und für seine Frau lebensrettendes Medikament vom Apotheker zu stehlen oder seine Frau sterben zu lassen – entweder also übergriffig und straffällig zu werden oder ein Menschenleben zu riskieren. Beide Möglichkeiten sind nicht sonderlich beglückend und – gerade für Heranwachsender, die mit diesem Dilemma konfrontiert werden – erschreckend, wenn nicht gar verstörend und schockierend.

Sicher, Moral ist eine ernste Angelegenheit, aber muss die lernende Begegnung mit ihr immer ein tragisches, wenn nicht gar moralinsaures Unterfangen sein, wie es selbst kindgerechte Dilemmata noch nahelegen? Schaut man sich bei Kant um, so stößt man auf moralpädagogisch fruchtbar zu machende Topoi wie die „Originalität der Denkungsart“ oder das „fröhliche Herz“. In Verbindung mit einem ermutigenden „sapere aude“ kann der Dilemma-Diskussion eine kreative Urteilsfindung in Auseinandersetzung mit dem Fiktionalen entgegengesetzt werden, die Lernende freisetzt, Handlungsmöglichkeiten zu finden und durchzuspielen, Argumente zu formulieren und abzuwägen, Handlungskonsequenzen zu imaginieren und einzuschätzen.

Auf diese Weise kann jede und jeder Lernende in ihrer und seiner je eigenen – auch soziokulturell bedingten – Herangehensweise ernstgenommen werden. In einer Gruppendiskussion der jeweiligen Überlegungen lässt sich gemeinsam herausfinden, dass es um die Relevanz von Werten geht, die jenseits von Rigorismen und Dogmatismen je situationsrelevant abzuwägen sind, um der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen, aber vielleicht beispielsweise auch dem Eigenwert der Natur möglichst gerecht werden zu können.

Wird moralische Bildung auf diese Weise zu einer individuellen und zugleich intersubjektiv herausgeforderten Angelegenheit, so verbietet sich eine rigorose Klassifizierung von Menschen anhand eines vermeintlich unumstößlichen Stufenschemas moralischer Entwicklung. Gerade das Bestreben, aus der Einengung einer Dilemma-Situation auszubrechen und die Lust am sowohl regelgeleitet als auch fantasievollen Erdenken, Prüfen und Entscheiden verweist auf die individuellen Aspekte einer reflektierenden Urteilskraft, die sich nicht in Schemata fassen lässt.

Durch die Art und Weise, wie Heranwachsende eine offene Entscheidungssituation angehen, können sie uns überraschen und verblüffen. Hier gilt es gerade in moralpädagogischen Kontexten die Andersheit des Anderen zu achten und damit eine Bildsamkeit, die sozial bedingt sein kann, aber letztlich in ihren Potenzialen nicht abschätzbar ist. Wer als Lehrperson bereit ist, sich durch unverhoffte Bildungserfolge überraschen zu lassen, bleibt selbst offen für eine reflektierende Urteilskraft, die jedes Kind in seiner Einzigkeit ernstnimmt.

Kinder vertrauen darauf, dass die sie begleitenden Erwachsenen die Urteilsversiertheit schon mitbringen, die Heranwachsende sich erst aneignen möchten, und dass Lehrende und Erziehende gerade darum Hilfestellung leisten können. So kann gegen Jean Piagets Favorisierung der Peers in der Werterziehung argumentiert werden,[11] Ohne den Einfluss der Peers leugnen zu wollen, lässt sich einwenden: Erwachsene können Erziehungsprozesse viel versierter und fokussierter einleiten und begleiten, indem sie Lernende gezielt auf relevante Problemsituationen aufmerksam machen und die Auseinandersetzung mit diesen anregen.

Lehrende habe auch dadurch moralische Urteilskraft unter Beweis zu stellen, dass sie die jeweilige moralische Geschichte „richtig“ erzählen, nichts für die Entscheidung Wesentliches weglassen, aber auch die Entscheidung nicht durch die Art ihrer Schilderung beeinflussen, haben doch ebenfalls die Handlungsumstände „in der Darstellung einen konstitutiven Anteil. Sie müssen berücksichtigt werden, und die Fähigkeit, ihre Bedeutung jeweils richtig zu bestimmen, sie in der jeweiligen Darstellung richtig auszudrücken oder vorgelegte Darstellungen kritisch zu prüfen, ist eine unerlässliche Leistung der ‚moralisch reflektierenden Urteilskraft’“.[12]

So kann ein versiertes Erzählen ein ebenso versiertes moralisches Urteilen fördern, das schließlich auch den Sprung ins Realszenario bewältigt. Anhand lebensweltlicher Entscheidungssituationen können Heranwachsende dann ihren Erfahrungsschatz an moralischen Erzählungen befragen, um herauszufinden, ob in der aktuellen realen Situation ein Entscheidungsfall vorliegt, der in Analogie zu einer erlebten und selbst weiterentwickelten Geschichte betrachtet werden kann, um vergleichbar und doch wieder innovativ zu entscheiden.


Anke Redecker habilitierte  nach ihrer Promotion in Philosophie an der Universität Bonn im Fach Erziehungswissenschaft mit der Arbeit „Das kritische Selbst. Bildungstheoretische Reflexionen im Anschluss an Hugo Gaudig, Marin Heitger, Käte Meyer-Drawe und Immanuel Kant (Weinheim: Beltz 2018). Sie forscht und lehrt als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bonn zu den Bereichen Bildungstheorie und -philosophie, moralische Bildung, systematische Pädagogik sowie Bildung und Heterogenität.


Fußnoten

[1] Vgl. Humboldt, Wilhelm von (1980): Theorie der Bildung des Menschen, In: Flitner, Andreas/ Giel, Klaus (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Bd. 1. Darmstadt, S. 234 – 240.

[2] Vgl. hierzu auch die Überlegungen  von Krassimir Stojanov und Melanie Förg zu einer kulturübergreifenden Bildung sensu Wilhelm von Humboldt in diesem Blog: Stojanov, Krassimir: Bildung gegen Populismus, https://praefaktisch.de/bildung/bildung-gegen-populismus/ (05.11.2018) sowie Förg, Melanie: ‚Interkulturelle Bildung‘ – theoretisch problematisch, praktisch möglich, https://praefaktisch.de/bildung/interkulturelle-bildung-theoretisch-problematisch-praktisch-moeglich/ (05.11.2018)

[3] Vgl. Kant, Immanuel (1974): Kritik der Urteilskraft, Hamburg.

[4] Vgl. Redecker, Anke (2018): Das kritische Selbst. Bildungstheoretische Reflexionen im Anschluss an Hugo Gaudig, Marian Heitger, Käte Meyer-Drawe und Immanuel Kant, Weinheim/Basel.

[5] Vgl. Standop, Jutta (2013): Die Grundschule als ein Ort grundlegender Wertebildung. In: Deutsches Rotes Kreuz e.V. (Hg.): Werte und Wertebildung in Familien, Bildungsinstitutionen, Kooperationen. Beiträge aus Theorie u und Praxis, Berlin, S. 39-51.

[6] Esser, Andrea (2009): Aufklärung der Praxis. Kantischer Konstruktivismus in der Ethik. In: Klemme, Heiner (Hg.): Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin, S. 319-335, Hier S. 334.

[7] Willems, Joachim (2007): Indoktrination aus evangelisch-religionspädagogischer Sicht. In: Schluß, Henning (Hg.): Indoktrination und Erziehung. Aspekte der Rückseite der Pädagogik, Wiesbaden, S. 79-92, hier S. 91.

[8] Vgl. Kant, Immanuel (1983): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Stuttgart. S. 126 sowie Schoberth, Ingrid (Hg.) (2012): Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen.

[9] Vgl. Kant, Immanuel (1986): Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart, S. 243 sowie Bittner, Rüdiger/ Kaul, Susanne (2014): Moralische Erzählungen, Göttingen.

[10] Vgl. Kohlberg, Lawrence (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt/M.

[11] Vgl. Piaget, Jean (1954): Das moralische Urteil beim Kinde, Zürich, S. 113.

[12] Esser 2009, S. 331.