Kick it like Putin? Über den politischen und ökonomischen Mehrwert des Sports und die Achtung der Menschenwürde
von Frank Martin Brunn (Hamburg)
Mit Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer am 14. Juni 2018, sind aus aller Welt Menschen nach Russland gereist und die Ereignisse in den russischen Fußball-Stadien dominieren für einen Monat die Nachrichtensendungen. Die „Welt“ ist zu Gast in Russland, medial und z.T. auch physisch. Die russische Politik und die russische Wirtschaft werden diese Situation genießen und zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen. Fußball ist zu ihrem symbolischen Kapital geworden, dass sich politisch und ökonomisch auszahlt. In ähnlicher Weise wusste man sich die olympischen Winterspiele 2014 in Sotschi und die Leichtathletik-Weltmeisterschaften 2013 in Moskau zu Nutze zu machen.
Im Folgenden soll der symbolische Charakter des Fußballs in seinen politischen und ökonomischen Dimensionen beschrieben werden.[1] Zuerst werde ich die metaphorische Dimension des Sports darstellen (1). Sodann zeige ich, wie Sport an die Semantiken von Politik und Ökonomie anschließt (2). Im dritten Abschnitt stelle ich die Angewiesenheit des Sports auf die Unterstützungen dar, die er sich in Politik und Wirtschaft erschließt (3). Zum Schluss beschreibe ich ethische Regeln, die im Sport gelten sollten und deren Geltung Politik und Wirtschaft einfordern sollten (4).
1 Die metaphorische Dimension des Sports
Im Vergleich zu Arbeit ist Sport unproduktiv. Es wird nichts hergestellt. Niemand hält als Ergebnis eines Fußballspiels ein Produkt in den Händen. Im Sport wird lediglich etwas dargestellt. Je nach Sportart wird anderes dargestellt. Aber stets handelt es sich – zumindest in der Masse der Sportarten, die dem Sport in der Öffentlichkeit sein „Gesicht“ geben[2] – um die körperlichen Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Bei Wettkämpfen und Meisterschaften gehört zu den Zielen, Ungleichheit zwischen den Teilnehmern oder teilnehmenden Mannschaften zu erzeugen und darzustellen. Am Ende der Wettkämpfe muss eine Rangfolge der Besten stehen. Der spezifische Charakter einer Sportart entsteht durch die willkürliche Eingrenzung der Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten durch weitere Ziele und Regeln. Beim Fußball muss ein Ball von zwei Mannschaften ins jeweils gegenüberliegende Tor gespielt werden, ohne dass er im je eigenen Tor landet (Ziel). Dabei dürfen aber von den Feldspielern nur Fuß und Kopf eingesetzt werden u.s.w. (Regeln). Durch das Gegeneinander der spielenden Mannschaften werden die Handlungsmöglichkeiten begrenzt. Leistung wird erzwungen und dargestellt, in Mannschaftssportarten wie Fußball sind es Einzelleistungen in Verbindung mit Teamleistungen. Durch das Gegeneinander kommt es im Spiel permanent zu Ungleichheiten auf den verschiedensten Handlungsebenen. Die Spieler nehmen sich gegenseitig den Ball ab, erwirtschaften sich durch eingeübte Spielzüge Vorteile oder stören erfolgreich das gegnerische Zuspiel. Diese Ungleichheiten erzeugen die spielerische Dynamik.
Indem Zuschauer das sportliche Spiel anschauen, interpretieren sie es, sowohl als zuschauenden Einzelpersonen für sich selbst, als auch als professionelle Sportfunktionären und Journalisten für ein Millionenpublikum. In den Interpretationsprozessen schließen sich die Einzel- und Teamleistungen des Sports Leistungssemantiken an, die sozial kommuniziert werden. Der Sport wird auf diese Weise metaphorisch aufgeladen. Weil jede regelgerechte Handlung im Sport und meistens auch die Regelverstöße wiederholbar sind, werden die Athleten zu stereotypen Charakteren und ihre Spielzüge zu exemplarischen Handlungsweisen. Sport und insbesondere Fußball liefert Bilder für technische Finesse, Durchsetzungskraft, Ausdauer, Schnelligkeit, strategisches Handeln, Fitness, Taktik, Kraft, Fairness, Glück, Erfolg und Freude, aber auch genauso für Fehler, Tricksereien, Betrug, Erschöpfung, Pech, Misserfolg und Niedergeschlagenheit. Im Sport geht es aufwärts und abwärts. Seine Bilder laden zur Identifikation ein und werden metaphorisch aufgeladen. Indem beim Sport metaphorische Bedeutungen mitlaufen, gewinnt er an Attraktivität.
Das Identifikationspotential des Sports wird auch dadurch gesteigert, dass per se ein Bedarf besteht, konkurrierende Athleten und Mannschaften optisch voneinander unterscheiden zu können. Dazu wird meist auf eine regionale Verortung der Athleten durch den Sitz ihres Vereins oder nationaler Zugehörigkeit der Mannschaft zurückgegriffen. Es spielte in der Champions League Madrid gegen Liverpool, bei der Weltmeisterschaft Russland gegen Saudi-Arabien, Deutschland gegen Mexiko. Die Spieler stehen für Städte und Länder. Die Athleten und Funktionäre des Sports bedienen sich einer Symbolik, die auch außerhalb des Sports bedeutungsträchtig ist und dadurch in besonderem Maße die Zuschauer zur Identifikation einlädt. Die Zuschauenden fühlen sich ebenfalls als Russen, Saudis, Deutsche und Mexikaner und erleben sich durch die Athleten im Spiel vertreten. Das steigert die Attraktivität des Spiels.
Wegen seines prägenden Sieg-Niederlage-Codes wird Wettkampfsport gerne als Nullsummenspiel bezeichnet. Die rechnerische Egalität dieses Begriffs verdeckt aber die Potentiale, die das sportliche Wettkampfspiel durch die Produktion von Ungleichheiten auf den verschiedensten Handlungsebenen erzeugt. Durch seine metaphorische Aufladung bietet der Sport tugendethisches Anschauungsmaterial für typische, von Konkurrenz geprägten Lebenssituationen. Der Sport zeigt Tugenden zum Handeln in Konkurrenzsituationen wie Besonnenheit, Disziplin, Mut, Ausdauer, Schnelligkeit und Fairness. Wie bei einem Fußballspiel erscheinen die meisten Konkurrenzsituationen auf den ersten Blick übersichtlich. Bei genauerem Hinsehen werden allerdings eine Fülle von Faktoren sichtbar, die für die Entwicklung der Situation eine Rolle spielen, sich aber längst nicht ohne weiteres beherrschen lassen.
Indem der Sport, insbesondere der Fußball, spannende Wettbewerbe aufführt und unter der Hand allgemeine Tugenden thematisiert, bietet er Themen, die über gesellschaftliche Milieugrenzen hinweg kommunikabel sind. Das wird bei großen Sportereignissen wie den Fußballweltmeisterschaften oder den Olympischen Spielen in der breiten Öffentlichkeit erfahrbar. Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Zusammenhängen haben durch den Sport in solchen Zeiten ein gemeinsames Thema. Auf diese Weise trägt der Fußball zum Überschreiten von Milieugrenzen und damit zur gesellschaftlichen Integration unterschiedlicher Milieus bei.
Obwohl Tugendethiken das Wie von Handlungspraxen in den Vordergrund stellen, sind sie dennoch immer auf ein offen oder verdeckt kommuniziertes Ziel hin orientiert. Seine tugendethische Dimension stellt den Fußball in den Zusammenhang der weltanschaulich geprägten Sinngebungen, die in einer Gesellschaft kommuniziert werden. Damit befindet sich der Sport als gesellschaftliches Teilsystem in einem ethischen Kontinuum zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, insbesondere zu solchen, die eine Affinität zu zentralen sportlichen Symbolen aufweisen. An Akten der Fairness, Konkurrenz, Hilfsbereitschaft und auch des Betrugs wird dieses Kontinuum besonders anschaulich. Vergleichbare Handlungen begegnen auch in nicht sportlichen Zusammenhängen und laden gerade deshalb viele Menschen ein, darüber zu urteilen. Weil Sport, insbesondere der massenmedial vermittelte, als Regelspiel betriebene Sport, auf verhältnismäßig leicht nachvollziehbaren Regeln beruht, eignet er sich als exemplarisches Modell für gesellschaftliche Regelsysteme.
2 Der Anschluss an die Semantiken von Ökonomie und Politik
Sport symbolisiert Leistung. Leistung wird im Sport durch Vergleich ermittelt. Grundlage des Vergleichs ist eine irgendwie definierte, in Regeln gefasste und allgemein nachvollziehbare Form der Chancengleichheit. Zu den grundlegenden Darstellungsleistungen des Sports gehört also die Symbolisierung von Leistung und von Chancengleichheit. Leistung und Chancengleichheit gelten als die beiden Teilprinzipien des so genannten agonalen Prinzips des Sports. Gelegentlich werden die beiden Teilprinzipien als einander widerstreitend aufgefasst und als Paradoxon der wettkampfsportlichen Sonderwelt beschrieben.[3] Dabei wird allerdings zu wenig beachtet, dass Leistung erst durch Chancengleichheit exakt darstellbar wird, weil durch die Chancengleichheit Messgrößen etabliert werden. Die Prinzipien Leistung und Chancengleichheit ergänzen sich also und werden dadurch zum agonalen Prinzip.
Für demokratische Gesellschaften, ihre Politik und ihre Wirtschaftssysteme, sind Leistung und Chancengleichheit wesentliche Symbole. Leistung gepaart mit Chancengleichheit gehört in demokratischen Gesellschaften neben einer Bedarfsorientierung zu den Grundprinzipien der Verteilung wirtschaftlicher Güter.[4] Wo die verschiedensten Formen von Feudalgesellschaften und ihre Wirtschaftsformen abgelöst wurden oder werden, geschah und geschieht das durch die emanzipatorische Wirkung des Leistungsprinzips. Das Leistungsprinzip tritt oder trat an die Stelle von Statuszuweisungen qua Geburt oder qua Loyalitäten in Adelsgesellschaften und in oligarchisch oder diktatorisch organisierten Gesellschaften. Das Leistungsprinzip stellt einmal errungene soziale Positionen und damit den Status von Personen immer wieder in Frage. Daher ist es wenig überraschend, dass gesellschaftliche Eliten das Leistungsprinzip oftmals hintertreiben und ihren eigenen Status über Loyalitäten absichern, auch wenn sie nach außen hin für das Leistungsprinzip eintreten. Weil Leistung und Chancengleichheit im Sport symbolisiert werden, ist der Sports sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft demokratischer Gesellschaften interessant.
Wegen ihres Interesses an den Symbolen des Sports erfolgt aus den Gesellschaftsbereichen Wirtschaft und Politik eine Unterstützung des Sports. Im Gegenzug wird die Verbindung der eigenen Symbole mit den Symbolen des Sports bei Wettkämpfen und anderen Präsentationsformaten des Sports verlangt. Schriftzüge, Firmenlogos, Orts- und Ländernamen werden auf Kleidung und andere Sportausrüstung sowie Werbebanner gedruckt. Firmenchefs und Politiker zeigen sich mit erfolgreichen Athleten in der Öffentlichkeit. Athleten werden zu Botschaftern von Marken-Unternehmen und politischen Organisationen. So entsteht ein Imagetransfer vom Sport auf Politik oder Wirtschaft. Der Sport wird zum Werbeträger für Politik und Wirtschaft. Darum fördern staatliche Institutionen und Wirtschaftsunternehmen die Institutionen des Sports und seine Akteure. Die massenmediale Präsentation von Sportereignissen erhöht dessen Bedeutung als Werbeträger.
Die Austragung der Fußballweltmeisterschaft in Russland zeigt wie vorher schon die olympischen Winterspiele und die Leichtathletik Weltmeisterschaften dort, dass der sportliche Wettbewerb durch seine regionale und nationale Symbolik auch für nicht auf Chancengleichheit beruhende Gesellschaftsformen interessant ist. In internationalen Meisterschaften wird der Sport zum Ausweis der Leistungsfähigkeit des eigenen Landes. In der Zeit des so genannten Kalten Krieges demonstrierten sozialistische Staaten in Konkurrenz mit kapitalistischen Staaten im Medium des Sports und seinen Symbolisierungen ihren Wettstreit um das bessere Gesellschaftsmodell. Auf beiden Seiten wurde dabei auch mit regelwidrigen Doping um Vorteile gekämpft, im Bewusstsein, dass die andere Seite die gleichen Regelverstöße begeht.[5]
Weil in nicht-demokratischen oder autoritär gelenkten Gesellschaften für die Bürger keine Chancengleichheit herrscht, entsteht allerdings in Fällen wie der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft eine Inkohärenz zu den Symbolen des auf formaler Chancengleichheit beruhenden sportlichen Wettbewerbs. Diese Inkohärenz wurde in der Vergangenheit zweifellos meistens durch eine ideologische Aufladung der Sportdarbietungen verschleiert. Offensichtlich wurde die Inkohärenz im Vorfeld der in Polen und der Ukraine ausgetragenen Fußball-Europameisterschaft der Männer 2012. Es entstand eine breite Diskussion darüber, ob die Spiele in einem Land ausgetragen und besucht werden sollten, in dem eine Oppositionsführerin, Julia Timoschenko, aus politischen Motiven in Haft gehalten wurde und eine notwendige Krankenversorgung verweigert bekam. Die im Fußballstadion gefeierte Chancengleichheit stand in offensichtlichem Widerspruch zur politischen Praxis der Ukraine.
Zum fairen demokratischen Wettbewerb gehört die Freiheit der Medien. Sie ermöglicht die öffentliche Darstellung von politischer Meinungsvielfalt. Der Umgang des russischen Staates mit dem deutschen Sportjournalisten und Dopingexperten Hajo Seppelt wegen seiner Berichterstattung über russisches Staatsdoping zeigt wieder, wie schwer sich der russische Staat mit dem fairen politischen Wettbewerb der Meinungen tut. Seppelt wurde zunächst ein Einreisevisum für die Fußball-Weltmeisterschaft verweigert. Auf Druck der deutschen Bundesregierung wurde das Visum gewährt, gleichzeitig aber eine Vernehmung Seppelts nach seiner Einreise angekündigt.[6] Das politische Vorgehen der russischen Regierung widerspricht im Umgang mit der Presse aber auch im Umgang mit Oppositionellen der Chancengleichheit, die mit der Fußballweltmeisterschaft dargestellt werden soll.
Ein Widerspruch liegt auch in den Anfang Mai 2018 veröffentlichten Fotos der beiden deutschen Nationalspieler Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Erdogan symbolisiert als Person die Missachtung von Chancengleichheit in der Türkei, für die Özil und Gündogan als deutsche Nationalspieler im Fußball eigentlich stehen. Die Bilder mit dem türkischen Präsidenten symbolisieren einen Wertekonflikt zwischen Sport und Politik. Chancengleichheit im Fußball aber nicht in der Politik? Über die Hervorhebung nationaler Loyalitäten in der anschließenden Debatte über das Treffen Özils und Gündogan mit Erdogan ist diese Dimension leider verdeckt worden.[7]
3 Die Angewiesenheit des Sports auf seine öffentlichen Darstellungsleistungen
Die metaphorische Dimension des Sports ermöglicht es, das Sportgeschehen auch an andere, sportfremde Sinnzusammenhänge anzuschließen, wie sie in der Wirtschaft und der Politik begegnen. Ohne diese Anschlüsse könnte Sport und auch Fußball nicht in der uns bekannten Weise betrieben werden. Die oft zu hörenden Sätze, Sport habe nichts mit Politik zu tun, oder man müsse Sport und Politik trennen, sind genauso unzutreffend wie es die Behauptung wäre, Sport habe nichts mit Wirtschaft zu tun und man müsse zwischen Sport und Wirtschaft trennen. Der Sport ist auf die öffentlichen Ressourcen finanziell und personell angewiesen, die ihm die Politik und die Wirtschaft erschließen. Offiziell fördert der deutsche Staat den Sport als Kulturgut. Staatsvertreter nutzen ihre persönliche Unterstützung des Sports zur Förderung ihres öffentlichen Ansehens. Schöne Beispiele dafür bieten die Bilder von den Besuchen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Kabine der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Angesichts des politischen Verhältnisses der Europäischen Union und Deutschlands zu Russland werden in diesem Jahr solchen Besuchen die Leichtigkeit fehlen, wenn sie denn stattfinden. Der Besuch der Kanzlerin im Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft am 3. Juni 2018 in Südtirol zeigt aber, wie viel ihr an der Symbolik ihrer Fußballbegeisterung gelegen ist.
Für populäre Profisportarten wie den Fußball ist die Unterstützung aus der Wirtschaft erheblich wichtiger als aus der Politik. Große Fußballvereine sind selbst Wirtschaftsunternehmen. Oft haben sie für ihre Mannschaften in den Profiligen eine entsprechende Rechtsform gewählt. Auch die Verbände und Ligen des Fußballs agieren als Wirtschaftsunternehmen. Anders lässt sich ein Sportbetrieb wie im Fußball nicht aufrechterhalten. Das wird leicht übersehen, wenn über die Kommerzialisierung des Sports geklagt wird. Wirtschaftliches und politisches Engagement im Sport ist auch zur Gewinnung von Nachwuchsathleten hilfreich. Dadurch, dass Sportarten wie Fußball massiv in den Medien präsent sind, wird bei vielen Menschen, insbesondere jungen Menschen, Interesse geweckt, selbst Fußball zu spielen. Wirtschaft und Politik dienen also dem Sport zur Selbsterhaltung. Daher ist es im Blick auf die Integrität des Sports von großer Bedeutung, dass seine Unterstützer seine Werte Leistung und Chancengleichheit teilen.
4 Die Frage nach ethischen Regeln
Der Einfluss von Politik und Wirtschaft auf den Sport stellt allerdings die Frage nach ethischen Werten und Regeln, denen die Einflussnahme genügen muss und nicht widersprechen darf. Die deutsche Politik und mit ihr die deutsche Wirtschaft ist dem deutschen Grundgesetz verpflichtet. Der oberste Wert des deutschen Grundgesetzes ist die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen (Art. 1 GG). Die europäische Grundrechtecharta stimmt damit überein.[8] Auch die olympische Bewegung bekennt sich seit Juni 1991 in den „Fundamental Principles of Olympism“ der Olympischen Charta zum Schutz der Menschenwürde.[9] Gerade, weil sich mit der Olympischen Bewegung auch ein internationaler Sportverband der Menschenwürde verpflichtet hat, eignet sie sich als ethisches Kriterium, um die Einflussnahme von Wirtschaft und Politik auf den Sport zu beurteilen. – Das FIFA-Ethikreglement ist allerdings nicht der Menschenwürde verpflichtet. Es schützt nicht auf individuelle Menschen bezogene ethische Werte, sondern die Integrität und das Ansehen des Fußballs.[10]
Gerade, dass sich die FIFA nicht dem Schutz und der Achtung der Menschenwürde verpflichtet, wirft die Frage nach der inhaltlichen Bedeutung des Begriffs Menschenwürde auf. Menschenwürde ist das einem jeden Menschen mit dem Dasein gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch. Dass dieses Anrecht besteht, wird in Zusammenhängen offensichtlich, in denen dieses Anrecht drastisch missachtet wird. Dies geschieht, etwa wenn Menschen als bloße Mittel zu ihnen fremden Zwecken missbraucht werden, ihre Willensäußerungen gezielt nicht beachtet werden, sie willkürlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt, bloßgestellt, gedemütigt oder diskriminiert werden.[11] Solche Situationen sind der Entdeckungszusammenhang der Menschenwürde. Die Achtung der Menschenwürde muss mindestens einschließen, Leben, Gesundheit und Selbstbestimmung eines jeden Menschen zu achten, Verantwortung wahrzunehmen und Gerechtigkeit (Fairness) zu üben. Ein daran orientierter Sport
- sollte Leistung und Chancengleichheit auf allen organisatorischen Ebenen (Athleten, Funktionäre, Politik) präsentieren,
- sollte das Leben und die Gesundheit der Athleten nicht dauerhaft schädigen und sportspezifischen Gesundheitsgefährdungen vorbeugen,
- hat daher Regeln zu etablieren und weiterzuentwickeln, die das gewährleisten (z.B. konsequentes Vorgehen gegen Doping, Verbot von gesundheitsgefährdenden Spielvarianten, ausreichende Regenerationszeiten nach Verletzungen),
- sollte Menschen nicht als Objekte von Regelungen oder als Mittel und Faktoren für Erfolge oder Misserfolge behandeln,
- sondern er sollte Möglichkeitsräume zur Selbstbestimmung in einer Weise pflegen, dass Menschen in gesunder Weise Sport treiben, ihre persönliche Meinung vertreten und sich mit ihrem Sport identifizieren können,
- sollte Athleten Möglichkeitsräume für Bildung erschließen sowie Bildungsmöglichkeiten jenseits des Sports nicht verschließen, damit sie mehr als nur ihr sportliches Talent entwickeln und Anschlusskarrieren nach der Sportkarriere möglich sind,
- sollte Verantwortlichkeiten für Mit- und Gegenspieler, Fans und die natürliche Umwelt aufzeigen und zur Wahrnehmung von Verantwortung in den verschiedenen Handlungsbereichen ermuntern,
- sollte gerechte Verhältnisse durch fairen Umgang der aktiv und passiv am Sport Beteiligten fördern, d.h. jeden Einzelnen in seiner Rolle und mit seinen Interessen achten, sowie einen fairen Zugang zu den verschiedenen Ressourcen des Sports ermöglichen, und für Chancengleichheit auch in der politischen Öffentlichkeit eintreten.[12]
Diese knappe Entfaltung der Menschenwürde als ethischen Grundwert zeigt: Wenn die FIFA die Achtung und den Schutz der Menschenwürde zu ihrem ethischen Ziel erklären würde, würde sie automatisch Integrität und Ansehen des Fußballs schützen. In diesem Sinne sollten auch politische und wirtschaftliche Ressourcen dem Sport dienen. Wo sie diesen Regeln widersprechen, muss ihr Einfluss zurückgedrängt und beendet werden. Weil die Vertreter des Sports von sich aus solche Regeln auch oft nicht einhalten, sollten Politik und Wirtschaft bei der Sportförderung darauf achten, dass solche ethischen Standards im Sinne der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde eingehalten werden. Da sie finanzielle Ressourcen für den Sport bereitstellen, haben sie die Möglichkeit, ihre Zuwendungen an die Einhaltung ethischer Regeln zu binden. Die praktische Umsetzung ethischer Werte ist immer ein Gemeinschaftsunternehmen aller Beteiligten. Wie es um all dies zur Zeit im Fußball bestellt ist, wird uns die Weltmeisterschaft in Russland vor Augen führen.
Frank Martin Brunn ist wissenschaftlicher Geschäftsführer der Arbeitsstelle Kirche und Gemeinwesen am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg und Privatdozent für Systematische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Autor des Buches Sportethik. Theologische Grundlegung und exemplarische Auslegung (DeDruyter 2014).
[1] Vgl. dazu auch Frank Martin Brunn, Sportethik. Theologische Grundlegung und exemplarische Auslegung, Berlin/Boston 2014, 344-368.
[2] Schach, E-Sports und Denksport sind Spezialfälle, die aufgrund ihres Spiel- und Wettkampfcharakters zur Sport-Familie gezählt werden.
[3] Vgl. Elk Franke, Doping und „Vertrags-Ethik“ im Sport – zwischen individueller Verantwortung und systemischer Kontrolle, in: ders./Spitzer, Giselher (Hg.): Sport, Doping und Enhancement – Transdisziplinäre Perspektiven, Köln 2010, S. 77-93, insbesondere 85.
[4] Vgl. Günter Meckenstock, Wirtschaftsethik, Berlin/New York 1997, S. 301-307.
[5] Vgl. Marcel Reinold, Doping, in: Michael Krüger, Hans Langenfeld, Handbuch Sportgeschichte, Schorndorf 2010, 362-377.
[6] Oliver Fritsch, Hajo Seppelt: „Russland beherrscht die gesamte Klaviatur der Gegenpropaganda“, in: Zeit Online, 17.05.2018, www.zeit.de/sport/2018-05/hajo-seppelt-visum-doping-pressefreiheit-wm-russland (zuletzt abgerufen 31.05.18).
[7] Vgl. auch den Beitrag von Norbert Paulo, Nationalspieler als Soldaten, in: prae faktisch 17.05.2018, www.praefaktisch.de/fussball/nationalspieler-als-soldaten/#more-540 (zuletzt aufgerufen 01.06.2018).
[8] „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Charta der Grundrechte für die Europäische Union, Kapitel 1, Artikel 1.
[9] Vgl. International Olympic Commitee, Olympic Charta. In force as from 16th June 1991, Lausanne 1991, 7.
[10] „Die FIFA trifft eine besondere Verantwortung, die Integrität und das Ansehen des Fussballs weltweit zu wahren. Die FIFA ist unablässig bestrebt, den Ruf des Fussballs und insbesondere der FIFA vor illegalen, unmoralischen oder unethischen Machenschaften und Praktiken zu schützen. Das folgende Reglement widerspiegelt die Prinzipien des FIFA-Verhaltenskodex, der die wichtigsten Grundsätze für das Verhalten und den Umgang innerhalb der FIFA und mit externen Parteien definiert.“ Fédération Internationale de Football Association, FIFA-Ethikreglement 2012, Zürrich 2012, 6 (Präambel).
[11] Vgl. Wilfried Härle, Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010.
[12] Vgl. dazu im Einzelnen Brunn, Sportethik (wie Anm. 1), 197-277.