Globale Armut und die kollektive Verantwortung der Jugend
Anlässlich der Veröffentlichung des Handbuch Philosophie der Kindheit (J.B. Metzler 2019) bringt praefaktisch Texte zur Philosophie der Kindheit.
von Gottfried Schweiger (Salzburg)
Der Titel dieses Blogbeitrags könnte provokativ wirken – welche Verantwortung für die globale Armut könnten Jugendliche schon haben? Wenn dann, sind nicht die Erwachsenen viel eher in die Pflicht zu nehmen? Diese Kritik ist nicht ganz falsch – es ist sicher nicht mein Ziel davon abzulenken, dass erwachsene Menschen die Hauptschuld für die globale Armut tragen und auch die Hauptlast ihrer Abschaffung tragen sollte. Es ist auch nicht mein Interesse in diesem Beitrag, die ethischen Gründe zu diskutieren, warum wir globale Armut abschaffen sollten und wie wir dies bewerkstelligen könnten (Beck 2016). Kurz gesagt: globale Armut zerstört das Leben von hunderten Millionen Menschen und die Verantwortung, dagegen etwas zu tun, hat zumindest zwei plausible Gründe. Nämlich, erstens, ist globale Armut ein Problem, dass durch eine ungerechte Verteilung von Gütern und wirtschaftlicher Macht erzeugt wird. Sie ist also kein Schicksal, sondern ein menschengemachtes Problem und wir alle partizipieren zumindest zu einem kleinen Teil daran. Und, zweitens, selbst, wenn wir nichts dafür können, dass es globale Armut gibt, so haben wir eine ethische Verantwortung, hier zu helfen, sofern wir es können, da wir niemanden in einem solchen schlechten Leben zurücklassen sollten. Dass wir helfen können, zumindest zu einem größeren Teil als wir es jetzt tun, scheint mir ebenso unstrittig. Genug Geld und Technik und Wissen wäre auf dieser Welt allemal vorhanden. Dass es sich bei der Bekämpfung globale Armut um eine kollektive Aufgabe handelt, ergibt sich aus eben diesen beiden Gründen. Wir alle tragen eine kleine Mitverantwortung und können etwas tun; und es ist auch sehr viel wahrscheinlicher, dass sich etwas ändert, wenn wir alle zusammen etwas tun und dadurch auch Druck auf jene Elite ausüben, die Macht und Vermögen in ihren Händen konzentriert hat.
Aber warum nun also etwas über die Jugend schreiben? Mein Interesse hat zwei Motivationen. Erstens ist es intellektuell herausfordernd, die kollektive Verantwortung der Jugend zu thematisieren, da sich hier mehrere schwierige Fragen bündeln: welche Art von Verantwortung können Jugendliche überhaupt übernehmen, wo stehen sie hier zwischen Kindern und Erwachsenen? Was bedeutet kollektives Handeln von Jugendlichen hinsichtlich eines Problems, dass vornehmlich politische und ökonomische Lösungen zu verlangen scheint, wo doch Jugendliche wenig bis gar keine politische und ökonomische Macht besitzen? Zweitens, und wahrscheinlich wichtiger, haben die letzten Monate des Jahres 2019 gezeigt, dass Jugendliche zu kollektiven Akteuren werden können – Fridays for Future – und durchaus mediale und politische Öffentlichkeit erhalten. Ja, es scheint so, dass manche die Zukunftshoffnung auf die Jugend legen und sich damit abgefunden haben, dass die alten Erwachsenen zur Lösung der größten Probleme dieser Welt (alleine) nicht in der Lage sind; schließlich haben sie schon seit Jahrzehnten keine Lösungen zu Stande gebracht.
Globale Armut
Nach aktuellen Berechnungen leben fast 800 Millionen Menschen auf dieser Welt in Armut ( Die Weltbank hat immer aktuelle Zahlen). Diese Zahl alleine ist wohl unvorstellbar; sie ist vielleicht intellektuell fassbar, aber nicht wirklich greifbar. Wäre die Welt viel schlechter, wenn es 900 Millionen Menschen wären und wäre sie viel besser, wenn es nur 500 Millionen Menschen wären? Doch nicht nur die Zahl der armen Menschen auf dieser Welt ist unbegreiflich, auch das, was hier als Armut bezeichnet wird, ist nicht eingängig und leicht verständlich zu machen. Die Weltbank misst Armut damit, dass jemand arm ist, wenn er von weniger als 1.9$ am Tag lebt. Anders als viele glauben, hat diese Messlatte gar nichts mit dem Einkommen dieser Menschen zu tun, sondern mit deren Konsumtion, also damit, wie viel arme Menschen zum Leben ausgeben. Die Berechnung der 1,9$ ist komplex und auch notorisch umstritten, die Armenzählung ist ein weiteres Problem (Wisor 2012). Wie zählt man 800 Millionen Menschen und fragt sie alle wie viel Geld sie pro Tag zum Leben brauchen? Wer macht das und kostet das nicht auch viel Geld?
Es geht aber nicht nur um Fragen der wissenschaftlichen Armutsmessung, die komplex sind, sondern auch darum, dass die Lebensrealität dieser Menschen für die allermeisten Einwohner in den gut behüteten westlichen Ländern unvorstellbar ist. Was heißt es, zu hungern, was bedeutet es, kein Klo zu haben und kein sauberes Trinkwasser? Wie fühlt es sich an, in einem Camp zu leben, Menschen sterben um einen herum, man kann den eigenen Kindern nicht helfen, es gibt keine Ärzte, es gibt keine Sozialarbeiter, keine Ämter, keine Sicherheit. Ein solches Leben muss doch voller Trauer und Wut sein oder ist es schon so hoffnungslos, dass solche Emotionen gar keinen Platz haben – vielleicht lässt der Kampf ums Überleben auch keine Zeit dafür, die eigene Lage zu verstehen und ihr nachzufühlen? Es geht hier, wie gesagt, auch nicht um die Erlebnisse und täglichen Erfahrungswelten von einigen wenigen Menschen – es sind hunderte Millionen. Und denken sich zumindest einige dieser vielen armen Menschen nicht manchmal: während die dort drüben bei einem gemütlichen Feierabendbier über die neuste Netflix-Serie diskutieren, verrecken wir hier und es ist jedem scheißegal – ein bisschen Spenden und das war‘s.
Vielleicht ist es ein Schutzmechanismus der Seele und des Geistes, dass wir uns diese Dinge gar nicht richtig vorstellen können, sondern sie nur erahnen, nur kurze Einblicke und Eindrücke aufnehmen und verarbeiten. Vielleicht würde es uns alle irre machen, wenn wir es tatsächlich begreifen würden, mitfühlen würden, was hier vor sich geht, was Menschen auf dieser Welt durchmachen müssen. Menschen, die in Armut leben, einer Armut, die uns völlig fremd ist. Und Armut ist ja nicht die einzige Form von Leid auf dieser Welt – es gibt Krieg, Ausbeutung, Missbrauch, Gewalt. Und das alles in so großer Zahl, dass man sich schon fragen kann, ob es überhaupt Sinn in dieser Welt geben kann.
Es fällt also sehr schwer, sich vorzustellen, was globale Armut bedeutet – sie ist abstrakt und konkret sind nur die einzelnen Schicksale, die kleinen Geschichten und dichten Erzählungen. Sie begegnen uns in wissenschaftlichen Studien, in biographischen Erzählungen, in den Prospekten von Hilfsorganisationen und in der Kunst, dem Film und der Literatur. Wir können Einblicke gewinnen, wie es Menschen in großer Armut ergeht. Auf der einen Seite bleibt wohl dennoch oft ein Rest des Unbegreiflichen, wenn wir uns so aus der Distanz dem Schicksal von Menschen nähern, davon nur hören, lesen oder sehen. Wie denn auch? Wir können die Prospekte und Bücher weglegen, die Filme und Videos ausdrehen und wir müssen das ja auch tun, da die allermeisten ein anderes Leben haben, eines das auch viel Aufmerksamkeit benötigt, in dem es auch immer wieder Leid und Sorgen, Stress und viel zu tun gibt. Auf der anderen Seite ist und bleibt es für uns wohl unmöglich, diese Geschichten und Schicksale zu extrapolieren, aus den wenigen Personen, die uns hier nahegebracht wurden oder denen wir selbst begegnet sind, die Zahl von 800 Millionen begreiflich zu machen. Wer übrigens denkt, es gäbe Armut nur in der sogenannten Dritten Welt, der irrt – dort ist das Ausmaß und die Tiefe der Armut weitaus schlimmer, aber die Situation armer Menschen ist auch in den USA oder den europäischen Wohlfahrtsstaaten skandalös (Gaisbauer, Schweiger, und Sedmak 2019). Wenn wir also über globale Armut nachdenken, dann sollten wir, die Armut im eigenen Land und in unserer geographischen Nähe keineswegs ignorieren.
Kollektive Verantwortung der Jugend?
Nun könnte man viel darüber schreiben, was es bedeutet, in Armut zu leben und aufzuwachsen – aber es genügt für meine Zwecke hier die Einsicht, dass globale Armut mit sehr viel Leid verbunden ist, mit Hunger, Krankheit, Tod und Lebensumständen, die äußerst prekär sind, so dass oft nicht einmal die basalen Bedürfnisse gedeckt werden können. Und dass wir, wie schon eingangs geschrieben, eine Verantwortung gegenüber diesen Menschen tragen. Diese Schicksale gehen uns etwas an und sie fordern uns auf, etwas zu tun. Sie sind moralisch relevant und auch wenn wir unsere ethischen Pflichten oft einfach auf die Seite schieben und ignorieren können, so ändert das wenig daran, dass wir eigentlich etwas anderes tun sollten. Die Möglichkeit, unmoralisch zu handeln, und die Möglichkeit, kein moralisches Bewusstsein zu haben, sprechen nicht dagegen, dass wir moralische Pflichten haben, also Verantwortung für andere tragen. Die Leichtigkeit, mit der es uns gelingt, unsere moralische Verantwortung gegenüber den Menschen in Armut zu ignorieren, zeigt nur an, dass es ein sehr schwieriger Weg sein wird, bis wir einer gerechten Welt näher kommen werden. Dies betrifft ja auch nicht nur unsere Verantwortung gegenüber globaler Armut, sondern auch unsere Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen, Menschen auf der Flucht oder auch nur der Bettlerin, der wir auf der Straße begegnen und vorübergehen.
Aber nun zur Jugend und zu ihrer kollektiven Verantwortung. Dafür sind einige Vorbemerkungen hilfreich, um das theoretische Terrain abzustecken. Während es in der Philosophie in den letzten Jahren einige Forschung zum moralischen und politische Status von Kindern und der Kindheit als besonderer Lebensphase gab (Drerup und Schweiger 2019), ist die Jugend als eigenständige Phase erst sehr selten thematisiert worden. Die eindeutige Eingrenzung der Jugend auf Basis medizinischer oder sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse ist notorisch schwierig wie auch die Abgrenzung der Kindheit gegenüber dem Erwachsenenalter. Jedenfalls besitzt der Begriff der Jugend auch normative Implikationen – schließlich dürfen Jugendliche mehr als Kinder und weniger als Erwachsene. Kinder werden in der Philosophie häufig unter dem Defizitvorsatz betrachtet: sie sind weniger autonom, weniger selbstständig, haben weniger Rechte (und Pflichten), sind mehr verletzlich, mehr auf Fürsorge angewiesen (alles immer im Vergleich mit „normalen“ Erwachsenen, die nicht krank, dement oder schwer behindert sind). Es gibt auch den Diskurs, dass Kinder besondere Fähigkeiten haben, die sie als Erwachsene verlieren und die wertvoll seien, wie zum Beispiel Imagination, Unschuld oder das völlig ungezwungene Spiel. Jedenfalls ist der philosophische Diskurs über Kinder stark davon geprägt, zu fragen, was wir (der Staat, die Gesellschaft, die Eltern) Kindern schulden und wie wir sie beschützen sollen und auch davon, was wir Kindern gegenüber dürfen. Wir schulden ihnen zum Beispiel, dass sie eine gute Kindheit erleben und geliebt werden, wir sollen sie vor Schaden beschützen, auch wenn sie etwas gefährliches tun wollen, und wir dürfen sie dazu zwingen, in die Schule zu gehen und sich medizinisch behandeln zu lassen. Sehr wenig wird aber darüber diskutiert, was Kinder eigentlich tun sollen, in dem sie Sinne, dass sie selbst eine Verantwortung sich selbst oder anderen gegenüber haben.
Die Jugend als Phase zwischen „früher“ Kindheit und Erwachsenenalter ist hier besonders spannend. Jugendliche, wenn hierunter die Altersgruppen zwischen 13 und 18 verstanden werden, sind in ihren Fähigkeiten Erwachsenen schon recht ähnlich – sie verfügen weitegehend über die kognitiven Fähigkeiten Wünsche auszubilden, zu reflektieren und zu artikulieren. Sie sind also zumindest semiautonom. Auch wenn die körperliche und geistige Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, sind Jugendliche hier schon definitiv weiter als jüngere Kinder – sie können zum Beispiel Kinder zeugen und gebären. Warum sie dennoch weniger dürfen als Erwachsene, wird durchaus kontrovers diskutiert (Anderson und Claassen 2012), vor allem, wenn es um Rechte (und Pflichten) geht, die keine besonderen kognitiven oder sonstigen Fähigkeiten verlangen. So gibt es zum Beispiel keinerlei Kompetenztests hinsichtlich der Fähigkeit von Erwachsenen, wählen zu gehen, dennoch sind viele Jugendliche vom Wahlrecht ausgeschlossen (in Österreich, das sei nur bemerkt, wurde das Wahlalter vor einigen Jahren auf 16 reduziert). Man muss nur auf die Gruppe der sogenannten „young carers“ blicken, also Kinder und Jugendliche, die andere Familienangehörige pflegen, um zu erkennen, wozu sie fähig sind und dass sie Verantwortung und seelisch und körperlich belastende Aufgaben in großen Ausmaß übernehmen können. Wie viel Rechte und Pflichten, also auch Verantwortungsübernahme, Jugendlichen zugetraut und zugeteilt wird, ist immer auch ein soziales Konstrukt, also von den Normen und Praktiken abhängig, die eine Gesellschaft ausgebildet hat bzw. die in einem sozialkulturellen Milieu als normal angesehen werden. Es gibt also durchaus auch milieu- und schichtspezifische Vorstellungen davon, ab wann ein Jugendlicher erwachsen ist und für sich selbst und andere Sorgen können sollte.
Aus einer ethischen Perspektive scheint es angebracht, jugendliche Verantwortung von zwei Seiten zu betrachten: Wie viel Verantwortung können Jugendliche angesichts ihrer Fähigkeiten und sozialen Position übernehmen? Welche Effekt hat dies auf Jugendliche? Wenn wir davon ausgehen, dass Jugendliche ein Recht darauf haben, sich gut zu entwickeln und während der Jugend all jene Fähigkeiten und jenes Wissen zu erwerben, welches sie für ein gutes Erwachsenenleben benötigen, dann ist auch die Verantwortungszuschreibung unter diese Bedingungen zu stellen. Das Kindeswohl ist für Jugendliche also komplexer, da nicht einfach paternalistisch, zu verstehen. Das Wohl von Jugendlichen besteht sicherlich auch darin, insoweit für sich selbst und andere Verantwortung übernehmen zu dürfen und darin unterstützt zu werden, wie es ihren Fähigkeiten entspricht und für ihre Entwicklung gut ist. Gerade, die Eigenschaften, die wir von Erwachsenen verlangen, nämlich rational und autonom entscheiden und handeln zu können, müssen während der Jugend eingeübt und erprobt werden.
Welche kollektive Verantwortung für globale Armut können und sollen nun Jugendliche übernehmen? Ich schlage vier Aspekte vor. Erstens scheint es plausibel, dass Jugendliche über die Fähigkeiten verfügen, zu verstehen, dass globale Armut moralisch falsch ist und, dass hier eine Pflicht zur Hilfe und Unterstützung vorliegt. Der Sachverhalt ist zwar komplex, aber nicht so gelagert, dass hier eine prinzipielle Überforderung vorliegen würde. Es ist zwar sicher so, dass Jugendliche wie auch Erwachsene der Hilfe und Unterstützung bedürfen, um diese Erkenntnis zu gewinnen und zu verarbeiten. Das Wissen um die sozialen globalen Verhältnisse, die Hintergründe, die sie verursachen und die Möglichkeiten, zu handeln und Dinge zu verändern, ist nicht angeborenen und eröffnet sich einem auch nicht intuitiv. Zwar sind wir alle auf die eine oder andere Art mit globaler Armut konfrontiert und Informationen dazu sind vielfältig erhältlich, aber das ist in Zeiten der Informationsflut und der epistemischen Überforderung durch fake news und Echokammern nicht ausreichend, um ein entsprechendes Bewusstsein auszubilden. Dafür ist es nötig, gebildet und aufgeklärt zu werden – eine Bildung und Aufklärung zu der Jugendliche aber durchaus fähig sind. Zweitens verfügen Jugendliche auch schon über die Fähigkeit, sich als politische Subjekte zu verstehen. Dieser Aspekte beschreibt, dass Jugendliche nicht nur Wissen aufnehmen und Handlungsoptionen verstehen können, sondern, dass sie Zugang zur Metaebene haben, warum, sie eine Verantwortung dafür tragen, solches Wissen zu erwerben und sich entsprechend in der Welt zu positionieren. Dass Jugendliche politische Subjekte sind und nicht nur passive Gefäße, die mit Wissen befüllt werden können, scheint mir auch angesichts der Selbstorganisationsfähigkeit und der Widerständigkeit, die Jugendliche zeigen können, evident. Daraus folgt dann auch, dass es Jugendliche sinnvoll erklärt werden kann, warum sie etwas über globale Armut wissen sollten und dass sie dahingehend auch die Eigenständigkeit entwickeln sollten, sich aktiv und aus eigenem Antrieb damit auseinanderzusetzen. Hier sollte von Jugendlichen aber nicht mehr verlangt werden als wir es von Erwachsenen tun – auch die politische Subjekthaftigkeit von erwachsenen Bürgerinnen und Bürgern ist oft nur rudimentär ausgebildet, was auf Defizite der politischen Bildung und Vermittlungsfähigkeit hindeutet.
Drittens jedenfalls haben Jugendliche einen gewissen Spielraum, um hinsichtlich der globalen Armut ihr Wissen in Handeln umzusetzen, also über die Verantwortung nicht nur Bescheid zu wissen, sondern dieser auch nachzukommen. Hier sind die Handlungsspielräume von Jugendlichen beschränkter als jene von Erwachsenen: sie verfügen über weniger ökonomischen, soziales und kulturelles Kapital und sie sind in ihrer politischen Beteiligungsmacht eingeschränkt, da sie in vielen Ländern nicht wählen dürfen. Dort wo sie wählen dürfen, kann jedoch moralisch verlangt werden, dass sie hier ihr Wissen um globale Armut und andere soziale Probleme dieser Welt miteinfließen lassen, sofern sie adäquate Bildungsangebote erhalten haben, sich selbst zu politischen Subjekten zu bilden. Im täglichen Leben verfügen Jugendliche über Mikrospielräume, die oft nicht viel eingeschränkter sind als jene von Erwachsenen. Sie können ihre Konsumentscheidungen anpassen und sie können in ihrem Umfeld aktiv für die Verbreitung von Wissen und Handlungsoptionen werden. Jugendliche, die über eigene Geldmittel verfügen, können auch spenden. Diese Handlungsoptionen von Jugendlichen stehen unter zwei Vorbehalten: die erste Einschränkung bezieht sich eben darauf, wo und wie Jugendliche handeln können (sie können zum Beispiel zumeist nicht darüber entscheiden, wie ihr Wohnraum beheizt wird oder wo sie wohnen), die zweite Einschränkung bezieht sich darauf, was ihnen von den Erziehungsberechtigten oder dem Staat erlaubt wird. Jugendliche können sich dafür einsetzen, wählen zu dürfen, sie haben jedoch nicht die Macht, es umzusetzen, wenn es ihnen verwehrt wird. Die elterliche Verfügungsmacht ist auch groß: das betrifft sowohl, was Jugendliche lernen als auch was sie tun dürfen. Diese elterliche Verfügungsmacht ist aber aus ethischer Sicht nicht konditionslos; im Gegenteil, eben weil Eltern mächtig sind, tragen sie große Verantwortung und haben ihren Kindern gegenüber Pflichten. Darunter wohl auch die Pflicht, ihre Kinder darin zu unterstützen, autonom zu werden und insoweit als politische Subjekte zu handeln als sie dazu in der Lage sind und es für ihr Wohlergehen sinnvoll ist. Eltern haben damit sicherlich auch die Verpflichtung angesichts solcher Ungerechtigkeiten wie globaler Armut ihren Kindern ein Vorbild zu sein, dass dieses Problem ernst zu nehmen ist und Handlungspflichten und Verantwortung erzeugt.
Viertens schließlich geht es nicht nur um den Jugendlichen als Individuum, der seine eigenen Entscheidungen und Handlungen im Licht seines Wissens und seiner Verantwortung ausrichten sollte, sondern gerade eben um das kollektive Handeln. Kollektives Handeln hat nämlich zwei Dimensionen: einerseits geht es um das Wissen, dass globale Armut kollektiv erzeugt wird und daher auch kollektiv bekämpft werden muss. Es geht also um das Verständnis der Position, die jeder einzelne Jugendliche im globalen System hat. Die einzelne Entscheidung Fair Trade Produkte zu kaufen, ist nur ein Baustein, der alleine nicht ausreicht. Daher ist kollektives Handeln, also das Handeln vieler nötig. Andererseits verlangt das Problem der globalen Armut auch die Vernetzung und den Austausch über Handlungsoptionen und das Schaffen neuer Handlungsoptionen und neuer Strukturen. Hier ist die politische Ebene nochmals deutlich angesprochen. Es reicht wohl nicht, dass alle ihre Schokolade Fair Trade kaufen, sondern es bedarf der der Bildung von Organisationen und Institutionen, die Fair Trade stützen, das Wissen darum weiterverbreiten und auf politischer Ebene Änderungen zu erreichen (wie etwa das nur mehr Fair Trade Schokolade verkauft werden darf). Dafür sind kollektive Abstimmungsprozesse und Handlungen nötig. Die Fähigkeiten von Jugendlichen sind hier wiederum doppelt begrenzt, da sie aus vielen Organisationen bzw. deren Entscheidungs- und Leitungsebenen tendenzielle ausgeschlossen sind (wie etwa Gewerkschaften, Kirchen oder Parteien). Die Selbstorganisationsfähigkeit der Jugend ist also begrenzt, was es für sie schwer macht wirklich kollektiv zu handeln oder in anderen Kollektiven wirkmächtig zu werden.
Kollektive Verantwortung ausbilden und stärken
Wenn es nun also durchaus eine kollektive Verantwortung von Jugendlichen gibt, sowohl als Individuen als auch als Kollektiv, dann möchte ich zum Abschluss kurz darauf eingehen, wie diese gestärkt werden könnte. Verantwortung bedarf der Bildung – sie muss auch eingeübt werden und es bedarf der richtigen Strukturen, um Verantwortung übernehmen zu können. Drei Dinge sind mir hier wichtig: Kollektive Verantwortung kann man nicht einfach am Papier lernen, sondern es bedarf der Einübung und diese Einübung bedarf gewisser Freiheitsräume. Es geht also um Widerständigkeit und darum, Fehler zu machen und Fehlerkulturen auszubilden. Wenn wir über kollektive Verantwortung und kollektives Handeln nachdenken, dann ist eben ein entscheidender Punkt, dass Kollektive heterogen sind, unterschiedliche Typen zusammenkommen, mit eigenen Meinungen und Anschauungen. Auch wenn vielleicht Einigkeit über die Ziele herrscht – globale Armut zu verringern – heißt das noch lange nicht, dass die Aushandlung der Mittel und Wege konfliktfrei vor sich gehen wird. Solche Reibungen und Kämpfe um Anerkennung innerhalb von Gruppen sind schon bei Erwachsenen mit der Gefahr von seelischen Verletzungen verbunden, damit, dass Einzelne ausgeschlossen oder nieder gemacht werden. Das ist bei Jugendlichen natürlich auch ein Risiko und die Phase der Jugend ist eine der Unsicherheit, des Findens der eigenen Position und Identität und der Schwäche und Verletzlichkeit. Kollektive Prozesse sind also frei aber wohl nicht unbegleitet zu gestalten. Zweitens ist auch von Seiten der Erwachsenen und der „erwachsenen“ Institutionen von Gesellschaft und Staat anzuerkennen, dass Jugendliche hier als individuelle und kollektive Akteure Verantwortung übernehmen. Das sollte nicht klein geredet werden und man sollte nicht so tun, als wäre das mehr ein bloßes Spiel ohne Relevanz. Das wäre eine Missachtung der politischen Subjekthaftigkeit von Jugendlichen und ihrer Fähigkeiten. Die Entscheidung, ein Fair Trade Produkt zu kaufen, mag eine kleine sein, sie ist aber dennoch anzuerkennen und nicht mit dem Hinweis abzuqualifizieren, dass sich dadurch eh nichts ändern würde. Es ist so, dass mehr nötig ist, aber gerade im Rahmen beschränkter Handlungsoptionen und mit wenig Handlungsmacht ausgestattet, die richtige Entscheidung im Kleinen zu treffen, ist wichtig und zeugt mitunter von mehr Reflexion als im Großen die Hände in den Schoß zu legen. Diese Anerkennung ist sicherlich nicht immer einfach, da soziale Normen gegenüber Jugendlichen eingeübt wurden und es auch bedeutet, die eigene Position gegenüber Jugendlichen zu verändern und Macht abzugeben. Der Abbau solcher sozialer Hierarchien war immer schwer und nicht ohne Widerstände – man denke nur an das Verhältnis von Männern gegenüber Frauen, von starken ökonomischen Schichten gegenüber den Armen, oder in rassistisch geprägten Gesellschaften wie den USA das Verhältnis von Weißen gegenüber Schwarzen. Immer ging es hier darum, anzuerkennen, dass die angeblich schwache, dumme oder ungebildete Gruppe, gleichwertig ist und dazu in der Lage Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und Zugang zu gesellschaftlicher Bildung, Macht und Ressourcen verdient. Drittens schließlich ist Jugendlichen auch echte Macht zu geben bzw. die Macht über die Entscheidungen, die auf gesellschaftlicher und politischer Ebene gefällt werden, mit ihnen zu teilen. Das betrifft zunächst einmal die Forderung, politische Mitbestimmung zu ermöglichen, sie in Institutionen einzubinden und ihnen Gehör zu verschaffen. Dafür wird es Grenzen geben, die nicht pauschal festgelegt werden können – schließlich sind Jugendliche ja doch eben Jugendliche und keine Erwachsenen. Die Schutzphase der Jugend, die ihnen für das Wohl ihrer Entwicklung zusteht, setzt der vollständigen Gleichberechtigung in Rechten und Pflichten Grenzen. Diese Grenzen sind aber weiter zu ziehen als wir dies derzeit tun. Das Beispiel der globalen Armut ist hier nur eines von vielen, wo die Initiative und das Handeln der Jugend wirkmächtiger sein sollte als es derzeit ist.
Gottfried Schweiger arbeit am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg.
Literatur
Anderson, Joel, und Rutger Claassen. 2012. „Sailing Alone: Teenage Autonomy and Regimes of Childhood“. Law and Philosophy 31 (5): 495–522. https://doi.org/10.1007/s10982-012-9130-9.
Beck, Valentin. 2016. Eine Theorie der globalen Verantwortung: was wir Menschen in extremer Armut schulden. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp.
Drerup, Johannes, und Gottfried Schweiger, Hrsg. 2019. Handbuch Philosophie der Kindheit. 1. Aufl. Stuttgaert: J.B. Metzler Verlag.
Gaisbauer, Helmut P, Gottfried Schweiger, und Clemens Sedmak, Hrsg. 2019. Absolute Poverty in Europe. 1. Aufl. Bristol: Policy Press.
Wisor, Scott. 2012. Measuring Global Poverty. 1. Aufl. London: Palgrave Macmillan. https://doi.org/10.1057/9780230357471.