Gerechte Verteilung oder verantwortbares Handeln? Nichtwissen als Herausforderung der Zukunftsethik
von Johannes Müller-Salo (Hannover)
Was muss ich wissen, um gerecht verteilen zu können?
Schon wieder steht ein Kindergeburtstag vor der Tür. Sieben Jahre ist Sophie nun alt. Neue Schul- und alte Kindergartenfreunde wuseln durch den Garten. Die Eltern des Geburtstagskinds sind vollauf mit ihren Aufsichtspflichten beschäftigt. Sie selbst wollten eigentlich gerade nur Ihr Kind vorbeibringen, als Sophies Vater Sie bittet, ob Sie nicht noch kurz im Haus – „er steht schon auf dem Esstisch!“ – den Geburtstagskuchen anschneiden könnten. Eine Kleinigkeit. „Wie viele Stücke sollen es denn werden?“ Diese Frage müssen Sie noch loswerden, dann können Sie ans Schneiden gehen.
Der Geburtstagskuchen illustriert eine wichtige Einsicht: Wer etwas verteilen will, der muss einiges wissen. Dies gilt vor allem dann, wenn eine Sache gerecht verteilt werden soll, was bei Kindergeburtstagen schon der elterlichen Nerven wegen unbedingt zu empfehlen ist. Im Beispielfall müssen Sie mindestens zwei Dinge wissen: Sie müssen wissen, was eine gerechte Verteilung ist, d.h., welche Verteilungsregel Sie Ihrem Kuchenschneiden zugrunde legen sollten. Und Sie müssen wissen, wie viele Personen ihr Stück vom Kuchen erhalten sollen. Wenn Sie eine der beiden Sachen nicht wissen, dann wird es nichts mit der gerechten Verteilung.
Sie könnten zunächst vom Standardfall ausgehen: Der Kuchen muss gleich verteilt werden. In diesem Fall müssen Sie lediglich über die Anzahl der zu berücksichtigenden Personen informiert sein und schon können Sie den Kuchen anschneiden. Doch vielleicht ist beim Kindergeburtstag ein solcher Egalitarismus nicht gerecht? Vielleicht hat Sophie einen begründeten Anspruch darauf, an ihrem Ehrentag ein größeres Stück zu erhalten? In diesem Fall wäre eine prioritaristische Verteilungsregel, die Sophie begründet bevorzugt, angemessen.
Doch damit ist es noch nicht genug. Vielleicht ist Ihr Kind an diesem Nachmittag in einem utilitaristischen Haushalt zu Gast: Der Kuchen soll so verteilt werden, dass er für alle am Geburtstagsfest insgesamt Teilnehmenden die größte Freude stiftet. Jetzt kommt auf Sie richtig Arbeit zu: Sie müssen herausfinden, welches Kind ein wie großes Interesse am Kuchen hat, welches Kind im Tausch gegen eine größere Portion Schokokekse, die ebenfalls auf dem Tisch stehen, mit einem kleineren Stück Kuchen zufrieden ist etc. Erst nach dem Erhalt entsprechender Informationen können Sie den Kuchen passgenau zuschneiden.
Die praktische Anwendung unterschiedlicher Verteilungsregeln setzt, wie das Kuchenbeispiel zeigt, bestimmtes Wissen voraus. Je nach Verteilungsregel ist anderes Wissen vonnöten. Doch für alle Verteilungsregeln gilt, dass sie ohne dies spezifische Wissen keine Anwendung finden können. Nichtwissen wird für verteilungstheoretische Ansätze zum Problem.
Als Bereichsethik befasst sich die Zukunftsethik mit der Frage, welche Pflichten gegenwärtig Lebende gegenüber zukünftigen Generationen haben. In welchem Zustand müssen in der Gegenwart lebende Menschen unseren Planeten zukünftig Lebenden hinterlassen, wenn sie gerecht und verantwortungsvoll handeln wollen? Wie sieht ein ethisch akzeptables menschliches Reproduktionsverhalten aus, d.h. wie viele Menschen soll es in Zukunft geben? Dies sind wichtige Fragen der Zukunftsethik.
Welcher Anteil steht der Zukunft zu?
Viele einflussreiche zukunftsethische Positionen lassen sich als Verteilungstheorien charakterisieren. Sie sind sich einig hinsichtlich der Frage, dass im Mittelpunkt der Zukunftsethik das Problem einer gerechten Verteilung von Ressourcen im weitesten Sinne steht. Dabei ist zum Beispiel an endliche Ressourcen zu denken, die – wie Erdöl oder seltene Erden – nur einmal verbraucht werden können. Die Frage lautet dann, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen eine Generation auf solche Ressourcen zugreifen darf und ab wann sie sich einen zu großen Anteil nimmt und sich damit gegenüber nachkommenden Generationen unfair verhält. Zu denken ist aber auch an die Verteilung von Nutzungsrechten, etwa an Böden und prinzipiell regenerativen Ressourcen wie Wäldern. Hier geht es um die Frage, auf welche Art und Weise eine Generation solche Ressourcen bewirtschaften darf, wie nachhaltig sie beispielsweise mit ihnen umgehen muss, um späteren Generationen die Möglichkeit zu lassen, ihrerseits von solchen Ressourcen zu profitieren.
Das Spektrum an zukunftsethischen Verteilungstheorien ist groß. Im Grunde werden hier die zentralen gerechtigkeitstheoretischen Positionen reproduziert, die aus den in Auseinandersetzung mit John Rawls‘ Eine Theorie der Gerechtigkeit entstandenen Debatten in der politischen Philosophie wohlbekannt sind. Egalitaristische Positionen finden sich ebenso wie prioritaristische oder utilitaristische Ansätze, die Argumente der zukunftsethischen Debatte sind derjenigen der „klassischen“ Gerechtigkeitstheorie teilweise verblüffend ähnlich. Um nur das Beispiel des Utilitarismus zu nennen: Die klassische utilitaristische Gerechtigkeitstheorie sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie unter Umständen akzeptieren müsse, den Lebensstandard einiger Personen auf minimalem Niveau zu halten, wenn davon viele ohnehin deutlich besser gestellte Personen jeweils ein wenig profitieren würden, so dass eine solche Verteilung insgesamt zu dem quantitativ besseren Ergebnis führt. Ganz analog müssen sich utilitaristische Zukunftsethiken mit dem Einwand auseinandersetzen, dass sie unter Umständen von den gegenwärtig Lebenden einen radikalen Güterverzicht verlangen müssten, damit es zukünftig lebenden Menschen nur ein wenig besser geht. Dies gilt etwa dann, wenn – was wahrscheinlich ist – in der Zukunft deutlich mehr Menschen leben, die zugleich aufgrund verbesserter technischer Fähigkeiten etc. endliche Ressourcen effektiver und nutzbringender verwerten können.
Wenn man die Zukunftsethik als angewandte Ethik versteht, wird man von ihr erwarten dürfen, dass ihre Modelle und Theorien mit Blick auf konkrete Fragestellungen Orientierung bieten. Wer Probleme der gerechten Wohlstandsverteilung in einer westlichen Gesellschaft der Gegenwart behandelt, wird zu je anderen Schlussfolgerungen gelangen, wenn er Rawls‘ egalitaristische Gerechtigkeitstheorie, Nozicks libertäre Vertragstheorie oder den Fähigkeitenansatz von Sen und Nussbaum als theoretischen Ausgangspunkt wählt. Sollte das nicht auch für die Zukunftsethik gelten? Sollten auf die Frage, wie gegenwärtig Lebende sich verhalten sollten, um sich gegenüber zukünftigen Personen fair zu verhalten, nicht z.B. egalitaristische und utilitaristische Zukunftsethiken je verschiedene Antworten geben?
Dieser Anspruch erscheint berechtigt – und doch wird er kaum eingelöst. Der Grund hierfür bringt uns zurück zum Geburtstagskuchen. Zukunftsethische Verteilungstheorien scheitern regelmäßig daran, dass kein hinreichendes Wissen zur Verfügung steht, um die ethisch begründeten Verteilungsregeln zu konkretisieren und somit praktikable Handlungsanleitungen zu formulieren. Überspitzt formuliert: Zukunftsethische Verteilungstheorien scheitern an der Aufgabe, Praxisregeln für die Verteilung eines großen Kuchens zu formulieren, von dem niemand weiß, wie groß genau er ist, wie gut er schmeckt, unter wie vielen Personen er zu verteilen ist und welches Interesse diese Personen jeweils am Kuchen haben.
Probleme des Nichtwissens sind für die Zukunftsethik von zentraler Bedeutung. Dabei sind vor allem drei große Unbekannte im Spiel. Zum einen sind für Verteilungstheorien Annahmen über die weitere demographische Entwicklung entscheidend: Wie viele Menschen werden künftig auf der Erde leben? Wie wird sich die Bevölkerungsgröße in den verschiedenen Erdregionen entwickeln? Welche Maßnahmen zur politischen Steuerung des Bevölkerungswachstums werden sich als wie erfolgreich erweisen?
Zum anderen wirft die zukünftige technische Entwicklung große Fragen auf, die für die Bewertung der Bedeutung einzelner Ressourcen entscheidend sind: In welchem Maße wird es in Zukunft möglich sein, bestimmte natürliche Ressourcen durch künstlich produzierte Substitute zu ersetzen? Wie kann die Produktion so optimiert werden, dass für die Herstellung wichtiger Produkte und Lebensmittel deutlich weniger endliche Ressourcen in Anspruch genommen werden? Aus einer Tonne Erdöl oder einer Tonne Eisen wird die Menschheit in fünfzig Jahren ganz andere Dinge herstellen können als sie es gegenwärtig kann – und davon wird mit abhängig sein, wie wertvoll diese Tonne in fünfzig Jahren sein wird und wie wichtig ihr Erhalt für die Zukunft.
Drittens schließlich stellt sich natürlich die Frage, wie sich die Veränderungen in Klima und Umwelt auswirken werden. Die Frage ist mit den demographischen und technischen Entwicklungen aufs Engste verknüpft. Wie zukünftige Generationen mit veränderten klimatischen Bedingungen umgehen können, hängt schließlich auch davon ab, wie viele Menschen leben werden und wie gut sie sich unter Rückgriff auf technische Innovationen an veränderte Umweltbedingungen anpassen können.
Für alle drei Entwicklungen gibt es natürlich wissenschaftliche Modelle, die Voraussagen ermöglichen. Dies gilt für Prognosen der demographischen Entwicklung ebenso wie für Klimamodelle und die fest etablierten Ansätze zur Abschätzung von Technikentwicklung und Technikfolgen (siehe den Beitrag von Grundwald (link)). Die Leistungsfähigkeit dieser Modelle kann nicht in Abrede gestellt werden; sie tragen wesentlich zur Möglichkeit vernünftigen Handelns angesichts unsicherer zukünftiger Entwicklungen bei. Sie sind jedoch nicht ausreichend, um das Problem des Nichtwissens für zukunftsethische Verteilungstheorien so umfassend zu reduzieren, dass theoriespezifische, praxisbezogene Handlungsanleitungen möglich werden. Zumal ein weiteres Problem hinzu kommt: Die meisten Prognosemodelle sind vor allem mit Blick auf überschaubare zukünftige Zeiträume valide. Dem theoretischen Anspruch nach kann sich eine Zukunftsethik jedoch nicht damit zufriedengeben, nur die gegenwärtige und die nächsten vier, fünf, sechs Generationen in den Blick zu nehmen. Ihr Ziel besteht, zumindest einer weit verbreiteten Auffassung nach, vielmehr darin, allgemeingültige Regeln des intergenerationellen Umgangs zu formulieren, die zeitlich unbefristete Geltung für sich in Anspruch nehmen können.
Der Blick in die fernere Zukunft verschärft das Problem des Nichtwissens, da diese jenseits des zeitlichen Horizontes vieler Prognosemodelle liegt. Dem Problem scheint man nur durch Diskontierungsregeln begegnen zu können, die es erlauben, zeitlich weit entfernte Folgen einer Handlung bei der Evaluation dieser Handlung weniger stark zu berücksichtigen als die zeitlich nahen Handlungsfolgen. Doch die Anwendbarkeit solcher Regeln bedarf selbst der ethischen Begründung, wenn sie nicht als ad hoc-Lösung der mit Nichtwissen verbundenen Schwierigkeiten erscheinen soll.
Warum wird verteilungstheoretischen Ansätzen in der Zukunftsethik so breite Aufmerksamkeit geschenkt, wenn die Probleme des Nichtwissens doch so groß sind? Warum wird heftig über die Frage gestritten, ob intergenerationelle Gerechtigkeit utilitaristisch, prioritaristisch oder egalitaristisch verstanden werden sollte, wenn zugleich unklar ist, welche Handlungen wir in der Gegenwart ausführen oder unterlassen müssten, um etwa eine utilitaristische im Gegensatz zu einer egalitaristischen Ressourcenverteilung zwischen den Generationen herbeizuführen?
Wenn man nach einem Grund – oder, je nach Standpunkt, nach einem Schuldigen – für die aktuelle Debattenlage sucht, kann man bei Derek Parfit fündig werden. Parfit, dessen Werk wie kaum ein anderes die moralphilosophischen Diskussionen der vergangenen Jahrzehnte geprägt hat, hat in seinem 1984 publizierten Reasons and Persons Problemen der Zukunftsethik breite Aufmerksamkeit geschenkt und die zukunftsethische Diskussion nachhaltig beeinflusst. Wer Parfits Buch liest, gewinnt jedoch schnell den Eindruck, dass es ihm wesentlich um theoretische Fragen der normativen Ethik geht: Zukunftsethische Fragen dienen vor allem als Beispiel, um moralische Intuitionen hinsichtlich der Plausibilität bestimmter Handlungs- und Gerechtigkeitsprinzipien zu überprüfen. Die anwendungsbezogenen Probleme des Nichtwissens bleiben weitgehend außen vor. Viele zukunftsethische Positionen suchen die kritische Auseinandersetzung mit Parfits Theorie und übernehmen dabei zugleich seinen anwendungsfernen Stil der Problembehandlung.
Nichtwissen und Zukunftsverantwortung
Spätestens an dieser Stelle ist eine energische Gegenrede zur vorgelegten Darstellung denkbar: Wird das, was hier als zukunftsethische Verteilungstheorie bezeichnet worden ist, nicht falsch dargestellt? Lässt sich nicht in entsprechenden Texten eine Vielzahl an konkreten Überlegungen finden, die Auskunft darüber geben, wie zukunftsethisch korrektes Handeln in der Praxis auszusehen hat?
Das ist zweifelsohne der Fall. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Wir wissen, dass zukünftige Menschen, sofern sie Menschen sind, auf Umweltbedingungen angewiesen sind, wie auch wir sie kennen. Sie brauchen sauberes Trinkwasser und saubere Luft, sie können nicht in einer schwer radioaktiv verseuchten Umwelt leben, sie sind auf die Nutzung von – regenerativen oder nicht-regenerativen – Ressourcen zur Erzeugung von Wärme und Energie und auf fruchtbare Böden zur Herstellung von Nahrungsmitteln angewiesen. Aus diesen Gründen ist die Gegenwart in der Pflicht, die Emission von CO2 zu reduzieren, für den Erhalt des Regenwalds zu kämpfen, gegen den Rückgang der Grundwasserspiegel und die Verwüstung fruchtbarer Lände einzuschreiten und endlich tragfähige Lösungen zur dauerhaften Lagerung radioaktiver Abfälle zu entwickeln.
Forderungen und Begründungen wie die eben genannten finden sich in vielen zukunftsethischen Positionen, die den Verteilungstheorien zuzurechnen sind – und ändern doch nichts an der Berechtigung der geäußerten Kritik: Denn, was ist an der Forderung nach Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 °C spezifisch egalitaristisch oder utilitaristisch? Inwiefern unterscheiden sich prioritaristische und egalitaristische Positionen mit Blick auf die langfristige Sicherung radioaktiven Materials? Es ist unklar, ob und wie solche Fragen beantwortet werden können. Damit ist aber auch unklar, welchem praktischen Ziel die verteilungstheoretischen Debatten in der Zukunftsethik eigentlich dienen können.
Meine These lautet daher: Wo in der Zukunftsethik konkrete Forderungen der beschriebenen Art erhoben werden, wird implizit das Modell der Verteilungstheorie aufgegeben und das Paradigma gewechselt. Wer das Problem des Nichtwissens ernst nimmt, kann in der Zukunftsethik nicht verteilungstheoretisch, sondern nur verantwortungstheoretisch argumentieren. Der Begriff der Verantwortung steht im Mittelpunkt einer anwendungsorientierten Zukunftsethik.
Verteilungs- und verantwortungstheoretische Ansätze in der Zukunftsethik unterscheiden sich in mindestens zwei Hinsichten. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Verteilungstheorien stehen Gesamtzustände, wohingegen Verantwortungstheorien Einzelhandlungen in den Blick nehmen. Verteilungstheoretische Prinzipien geben Aufschluss darüber, wie Güter und Ressourcen gerecht über Anspruchsträger – im Falle der Zukunftsethik: zwischen den Generationen – zu verteilen sind. Eine einzelne Handlung ist nur insofern von Bedeutung, als ihr Ergebnis dazu beiträgt, eine Verteilung gerechter oder ungerechter zu gestalten. Verantwortungstheorien hingegen evaluieren Handlungen im Hinblick auf ihre Folgen, wobei diese Folgen als solche und nicht in ihrem Beitrag zu Gesamtzuständen in den Blick genommen werden.
Zweitens unterscheiden sich beide Ansätze hinsichtlich der von ihnen gewählten zeitlichen Perspektive. Verteilungstheorien sind auf einen überzeitlichen Standpunkt festgelegt, insofern sie darauf abzielen, eine gerechte Verteilung zwischen den Generationen herzustellen. Ob dies gelingt und wie dies Ziel zu erreichen ist, ist nur durch den intergenerationellen Vergleich zu beurteilen, der aufgrund der geschilderten Probleme des Nichtwissens schwer durchführbar ist. Verantwortungstheoretische Positionen sind hingegen an der jeweiligen Gegenwart des Handelns orientiert. Ihre Perspektive ist die eines Akteurs, der sich angesichts verschiedener ihm möglicher Handlungsoptionen fragt, welche Option er wählen soll. Dabei muss er mit dem Wissen arbeiten, welches er zum gegenwärtigen Zeitpunkt zur Verfügung hat.
Natürlich stellt sich auch für verantwortungstheoretische Zukunftsethiken das Problem des Nichtwissens. Es ist hier jedoch aus moraltheoretischer Sicht besser zu beherrschen. Denn die ethisch relevante Frage lautet nicht: „Trägt mein Handeln zu einer (im Sinne der jeweils vertretenen Verteilungstheorie) gerechten intergenerationellen Verteilung bei?“, sondern „Kann ich mein Handeln moralisch verantworten?“. Die erste Frage ist, wie gesehen, in vielen Fällen oftmals kaum zu beantworten. Die zweite Frage ist jedoch im Regelfall beantwortbar. Dies sei abschließend erläutert.
Der Frage, ob eine Handlung verantwortet werden kann oder nicht, geht eine Evaluation der Handlungsfolgen voraus. Dabei lassen sich systematisch vier Schritte voneinander unterscheiden, in denen Nichtwissen eine zunehmend wichtigere Rolle spielt. Als erstes können Handlungsfolgen evaluiert werden, deren Eintritt als sicher bzw. relativ sicher gelten kann. Daran schließt sich die Bewertung möglicher Handlungsfolgen an, deren Eintrittswahrscheinlichkeit und deren Relevanz bekannt sind. In einem dritten Schritt werden solche Handlungsfolgen in Betracht gezogen, bei denen entweder nicht klar ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie eintreten oder wie genau sie beschaffen sind. In den beiden letztgenannten Fällen spricht man von Entscheidungen unter Risiko bzw. unter Unsicherheit. Für den Umgang mit beiden Fällen hat die Risikoethik ebenso wie die Technik- und Umweltethik Modelle und Prinzipien entwickelt, die Antworten auf die Frage liefern, in welcher Situation welche Risiken und Unsicherheiten vernünftigerweise akzeptiert und verantwortet werden können.
Was bleibt, sind Handlungsfolgen, von denen weder die Eintrittswahrscheinlichkeit noch das Ausmaß bekannt sind, man spricht hier gelegentlich von „hypothetischen Risiken“. Sie erlauben oftmals keine genaue Abwägung, sondern – wenn überhaupt – nur vage Schätzungen. Spätestens mit Blick auf Folgen dieses Typs ist das Problem des Nichtwissens auch für Verantwortungstheorien wieder virulent geworden. Doch das Problem kennt nun eine klare Antwort: Wo die Unsicherheiten zu groß geworden und die Konsequenzen zu wenig überschaubar sind, kann ein Akteur vernünftigerweise keine Verantwortung mehr für sein Handeln übernehmen. Sein Handeln wird unverantwortlich und daher moralisch fragwürdig – sofern nicht Notlagen oder andere außergewöhnliche Umstände das Wagnis eines Handelns in großer Ungewissheit unvermeidlich erscheinen lassen. Wo eine Verteilungstheorie in Schwierigkeiten gerät, weil niemand weiß, welche Folgen eine Handlung hat und ob sie einer gerechten Verteilung zuträglich ist oder nicht, erblickt eine Verantwortungstheorie in solchem Nichtwissen einen guten Grund, um Abstand von der Handlung zu nehmen.
Verantwortungstheorien prägen als zweite große Theoriegruppe die Zukunftsethik, von Hans Jonas‘ berühmtem Buch Das Prinzip Verantwortung (1979) bis hin zu den vielen gegenwärtig vertretenen Varianten des sogenannten Vorsorgeprinzips (precautionary principle) in der Umweltethik und Umweltpolitik. So erscheint es auch konsequent, dass Dieter Birnbacher seine für die deutsche Debatte Maßstäbe setzende Zukunftsethik unter dem Titel Verantwortung für zukünftige Generationen (1988) veröffentlicht hat – ein Buch, welches utilitaristische Grundlagen in Anspruch nimmt, in weiten Teilen jedoch als verantwortungstheoretische Abhandlung interpretiert werden kann.
Die zukunftsethische Debattenlage verdeutlicht, dass die Philosophie nicht nur im Kontext sehr verschiedener Fragestellungen mit Problemen des Nichtwissens konfrontiert ist, sondern die Tatsache des Nichtwissens gelegentlich Einfluss auf die Wahl und Gestalt der philosophischen Theoriebildung selbst haben kann. Zumindest eine an praktischen Anwendungsfragen orientierte Ethik wird diesen Umstand berücksichtigen müssen.
Johannes Müller-Salo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover. Er arbeitet zu Fragen der praktischen Philosophie und der Ästhetik – und interessiert sich momentan besonders für Fragen der Klimaethik und Klimapolitik sowie für die Stadt als Thema der Philosophie.