Postfaktisch

Schon bei der Benennung des Blogs gingen wir davon aus, dass die Ausdehnung des postfaktischen Denkens eine signifikante Veränderung der geistigen Landschaft darstellt und dass diese Veränderung sich noch lange auswirken wird. In postfaktischen Zeiten streitet man nicht mehr nur über Werte, wo ein rationaler Dissens möglich ist, sondern kann sich auch auf Beschreibungsebene nicht mehr auf einen geteilten Wahrnehmungs- oder Erfahrungsraum berufen, wo ein anhaltender Dissens nur selten rational sein dürfte. Besonders deutlich wird dieses Phänomen im politischen Raum, wo die Rolle von Medien und Expert_innen gleichermaßen in Frage steht. Der Themenblock beschäftigt sich mit den Herausforderungen, vor denen die Philosophie im postfaktischen Zeitalter steht. Es gibt viele solche Herausforderungen.

Beispielsweise stellt sich die Frage, wie Philosoph_innen in ihrer Rolle als Expert_innen in ihrem Forschungsfeld betroffen sind, insbesondere wenn sie zudem in den klassischen Medien präsent sind. Wären Philosoph_innen gut beraten, sich öffentlich zu Themen zu äußern, die inzwischen als politisch gelten, bspw. darüber, wie sich Überzeugungen im sozialen Raum bilden und was gute und was schlechte Gründe für eine Überzeugung sind? Eine weitere Frage wäre, inwiefern Teile der Fachphilosophie zum Erstarken des postfaktischen Denkens beigetragen hat. Die Philosophie versteht sich als kritische Disziplin, die vermeintliche Gewissheiten reflektiert. Nicht zufällig verstehen sich etwa viele – oft erstaunlich gut informierte – Klimawandelskeptiker als „Aufklärer“, die sich der „obrigkeits- und expertengläubigen“ Mehrheit entgegenstellen. Was genau ist es also, das philosophische Kritik abgrenzt von dem Skeptizismus, der in Richtung von Verschwörungstheorien führt? Und gibt es vielleicht einzelne philosophische Strömungen, wie bspw. den Poststrukturalismus, die in besonderem Maße als intellektuelle Ahnen des postfaktischen Zeitalters gelten können. Und falls dem so ist, sind sie dafür zu kritisieren?

Das postfaktische Denken zeigt sich vielleicht auch im Seminarraum. Haben Sie selbst Erfahrungen damit gemacht, etwa indem Studierende kein Verständnis mehr dafür haben, dass Begründungen verlangt werden oder dass nicht jede beliebige Überzeugung philosophisch gleichwertig ist? In den USA wurde schon diskutiert, ob es sachlich oder doch bloß politisch begründet ist, dass sich unter Hochschuldozent_innen auffallend wenige Konservative finden. Wie schätzen Sie die Situation an den Universitäten im deutschsprachigen Raum ein?

Postfaktisches Denken zeigt sich natürlich nicht zuletzt in der Politik und scheint für die Demokratietheorie eine erhebliche Herausforderung darzustellen. Ganz in der Tradition Carl Schmitts praktizieren Akteure populistischer Strömungen ein Freund-Feind-Denken in der Politik und versprechen den Wähler_innen einen effektiven Dezisionismus ohne langwierige Verfahren und politische Kompromisse. Wie Jan-Werner Müller treffend analysiert hat, kulminieren diese Aspekte in einem Antipluralismus, der mit modernen liberalen Demokratien schwer vereinbar ist: Populisten erheben oft einen Alleinvertretungsanspruch für das „wahre“ Volkes („Wir – und nur wir – sind das Volk“) und können so bei eigenen Misserfolgen „das System“ verantwortlich machen. In diesem Bereich stellt sich schon die Frage, ob diese Analysen angemessen sind oder ob die Phänomene anders erklärt werden können? Vor allem aber: Was bedeutet all dies für die Demokratietheorie?

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