Neuer Wein in alten Schläuchen?! Philosophische Rassismuskritik zwischen Akademisierung und Katalyse

von Peggy H. Breitenstein (Jena)

Bei Betrachtung der jüngsten deutschsprachigen Debatten um das rassistische und kolonialistische Erbe der Philosophie zeigen sich aufschlussreiche Tendenzen. Einige von ihnen erinnern an vergangene Zeiten, in denen dieses Thema auch bereits kürzere Konjunkturen erlebte, bevor es dann wieder erfolgreich verdrängt oder vergessen wurde. Doch diesmal scheinen sich auch Entwicklungen anzubahnen, die wirklich neuartig sind, und manche könnten Gärstoff enthalten, der alte Schläuche zum Bersten bringt.

Welche Entwicklungslinien wirkungsvoll dazu beitragen könnten, dass die Kritik der Philosophie an ihren Verstrickungen in rassistische und kolonialistische Strukturen wirklich in neuen Gleisen verläuft, lässt sich im Anschluss an einen vereinfachend-typisierenden Deutungsvorschlag des bisherigen Verlaufs der Debatten sowie an dessen Kontrastierung mit Eigenarten vergangener Kontroversen aufzeigen.

Denn: Obgleich Diskussionen um das Verhältnis von Philosophie und Rassismus wenigstens im deutschsprachigen Raum noch nie so intensiv und öffentlichkeitswirksam geführt wurden, wie in den letzten drei Jahren im Anschluss an die Morde des NSU, die Anschläge von Halle und Hanau sowie die Black-Lives-Matter-Bewegung, ist diese Problematisierung selbst durchaus nicht neu. Versteht man sie in einem weiten Sinne, d.h. in der Tradition selbstreflexiv-kritischer Fragen nach den Beiträgen philosophischen Wissens (oder motivierten Nichtwissens) zur Beförderung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeiten (z.B. Antisemitismus, Antiziganismus, Antifeminismus etc.) überhaupt, kann sie als mindestens so alt angesehen werden, wie die Untersuchungen zur Dialektik der Aufklärung (siehe z.B. das Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ in der Dialektik der Aufklärung (1944/47) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno).

Doch auch in einem engeren Sinne – zugespitzt auf die Frage nach den Beiträgen der „klassischen deutschen Philosophie“ zur Entwicklung und Etablierung des modernen Rassebegriffs und zur Legitimierung des kolonialen Rassismus – wurde eine Debatte bereits vor 30 und 20 Jahren im Fach geführt; allerdings häufig an marginalen Orten und ohne nachhaltige Resonanz. Besonders intensive und andauernde Kontroversen gab es in den USA, wo sich bereits seit den 1970er Jahren aus den Rechtswissenschaften heraus die Critical Race Theory (CRT) etablierte und schließlich die ersten einflussreichen Reader sowie Sammelbände erschienen, z.B. Emmanuel Chukwudi Ezes Race and the Enlightenment (1997) mit Textauszügen u.a. von Hume, Kant, Hegel und der von Robert Bernasconi herausgegebene Band Race mit Texten u.a. von und zu Kant (2001).

In der deutschsprachigen akademischen Philosophie hingegen wurden diese Problematisierungen kaum zur Kenntnis genommen. Zwar gab es auch hier dezidiert kritische Auseinandersetzungen mit dem rassistischen Erbe, insbesondere in Arbeiten Kants. Diese aber wurden ehedem von der Zunft entweder ignoriert oder kurzerhand zurückgewiesen. Exemplarisch erinnert sei an Axel Sutters Aufsatz „Kant und die ‚Wilden‘“ (1989), an Monika Firlas Abhandlung „Kants Thesen vom ‚Nationalcharakter‘ der Afrikaner, seine Quellen und der nicht vorhandene Zeitgeist“ (1997) und Gudrun Hentges Monographie Schattenseiten der Aufklärung (1999).

Ein solcher Umgang der deutschsprachigen Zunft mit diesen Problematisierungen war möglich, weil diese sich zum einen selbst genügte und es kein ernsthaftes Bemühen gab, neue und gar politisch motivierte Entwicklungen jenseits der eigenen Ländergrenzen zur Kenntnis zu nehmen. Zum anderen blieben die Diskussionen auf den akademischen Fachdiskurs eingeschränkt. Sie wurden – wenn überhaupt – ausgetragen unter Expert:innen, die sich weder durch Entwicklungen in anderen Fächern noch gar durch eine kritische Öffentlichkeit aus dem Elfenbeinturm locken ließen.

All das hat sich in den letzten drei Jahren ganz maßgeblich geändert. Denn die Kontroversen – im deutschsprachigen Raum besonders prominent die zu Kants und Hegels rassistischen und kolonialistischen Verstrickungen – wurden nicht nur von einer öffentlich wirksamen sozialen Bewegung überhaupt erst (heraus)gefordert, sondern auch in der Öffentlichkeit ausgetragen: in regionaler und überregionaler Tagespresse, im Radio, TV, in Podcasts, in frei zugänglichen digitalen Diskussionsrunden oder philosophischen Blogs und schließlich auch – ausgehend von studentisch initiierten Protesten an Hochschulen und Universitäten – in städtischen Räumen.

Dabei und dadurch sind die Stimmen der Beteiligten lauter und vielfältiger geworden: Inzwischen ist es kaum noch möglich, nicht auch von Rassismen betroffene Menschen selbst sowie Aktivist:innen mitsprechen zu lassen und ihnen zuzuhören. Dennoch: Sowohl in den Feuilletons als auch in neuen Medien oder Formaten sind die Fachexpert:innen stark vertreten und dominieren weiterhin den Meinungsstreit. Diese fortdauernde Dominanz hat maßgeblichen Einfluss sowohl auf die Fragestellungen wie auch auf die Gemeinplätze, die in diesen Kontroversen typischerweise bedient werden. Das jedenfalls zeigt sich an den besonders intensiv sowie emotional geführten Debatten um Kant und Hegel.

Wie bei anderen Klassiker:innen auch wurden diese Kontroversen nach 2020 sowohl in Feuilletons, Talkshows, Expert:inneninterviews, als auch in Philosophieblogs oder bei Diskussionsveranstaltungen etc. zunächst und vor allem personenzentriert geführt. Im Zentrum stand mithin lange Zeit die Frage „War Kant/Hegel ein Rassist?“, obwohl deren Unfruchtbarkeit bereits früh klar zur Sprache kam. Eine Ursache dafür, dass Fragen dieses Schemas „War K/H ein R?“ so hartnäckig sind, liegt sicherlich in der Spezifik unserer, insbesondere auch die Philosophiegeschichtsschreibung prägenden Gedenk- und Geniekultur, in der Rassismus-, Sexismus- oder Antisemitismusvorwürfe geradezu reflexartig als Denkmalstürze oder Denunziationen erfahren werden. Solche vermeintlichen „Angriffe“ auf ihre Helden lösen seitens der jeweiligen Spezialist:innen häufig persönliche Betroffenheit aus. Die Apologien beruhen dann i.d.R. ebenfalls auf Intuitionen bzw. altbekannten Gemeinplätzen. Am häufigsten findet sich dabei das sog. „Zeitgeist-Argument“, das z.B. in folgender Form begegnen kann: Wie die meisten seiner Zeitgenossen war (freilich) auch K/H Rassist, aber das gilt nur nach heutigen Maßstäben, denn er selbst konnte von Rassismus bzw. Rassismusvorwürfen noch gar nicht wissen und erst recht nicht von den Auswirkungen des Rassenwahns im 20. Jh.

Davon abgesehen, dass Behauptungen, es existierten bestimmte „Zeitgeister“ oder Kant (oder Hegel) repräsentiere angemessen den Geist seiner Zeit, inzwischen überzeugend, auch empirisch widerlegt sind (vgl. Firla 1997: 13f.), gibt es weitere gravierende Probleme, die sich sämtliche Argumentationen einhandeln, die zum Zwecke der Reinwaschung des Denkmals, der Exkulpation der Person vorgetragen werden: Sie alle laufen hinaus auf eine Schuldfrage, damit auf Individualisierung, Personalisierung und Moralisierung. Und sie alle tragen gerade dadurch zur Rationalisierung oder Bagatellisierung rassistischer Äußerungen bei. Sie alle funktionieren damit zugleich als Ablenkungsmanöver, die in der Konsequenz auf uns selbst gerichtete, kritische Reflexionen und nachhaltige Lernprozesse verhindern.

Nochmals verstärkt werden diese Konsequenzen sogar, wenn Philosoph:innen ihr liebstes Steckenpferd aus dem Stall holen: Die Forderung nämlich nach begrifflicher Klarheit und die selbstverständlich beigefügte Beteuerung, dafür selbst die besondere Expertise zu haben.

Vorgeschlagen werden dann z.B. „Minimaldefinitionen“, d.h. sehr enge, den deutschsprachigen Alltagsgebrauch abbildende biologistische Definitionen für „Rassismus“ und „Rasse“ (z.B. bei Folko Zander: Hegel als Zombie). Leider ist solchen Definitionen deutlich anzusehen, dass die bereits lang anhaltende und intensive Begriffsarbeit (etwa im Anschluss an Stuart Hall und Étienne Balibar) einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde, die gute Gründe liefert, von einem „Rassismus ohne Rassen“ (im naturalistisch-essentialistischen Sinne) zu sprechen.

Andere wiederum fordern – als Heilmittel gegen die angeblich zunehmenden Begriffsaufblähungen (concept creep) durch die „wokies“ (z.B. Dieter Schönecker) – feine Unterscheidungen ein. Differenziert werden solle etwa zwischen Rassismus, Semirassismus, Ethnizismus und Kulturchauvinismus, wobei zudem zu beachten sei, dass entsprechende Beschreibungen nicht per se evaluativ-diskriminierend eingesetzt werden müssen, sondern wertfrei und harmlos sind.

In der Konsequenz erlauben es beide analytischen Strategien zu unterstellen, dass ein Rassismus kein echter ist, wenn er kein biologischer Rassismus ist, dass Arroganz und Herablassung oder (Kultur)Chauvinismus zwar kritisierbar, aber bei Geistesgrößen auch tolerierbar sind. Dies freilich bietet wiederum die beste Basis dafür, dass rassifizierende, hierarchisierende Strukturen weiterhin reproduziert werden oder gar Forschungsfragen leiten können (vgl. Schönecker 2020).

Dergleichen bornierte Strategien zeigen sich leider nicht nur in Feuilletons deutschsprachiger Tageszeitungen und anderen Medien, sondern finden sich auch im Fachdiskurs, was angesichts der oben festgestellten Hegemonie vielleicht nicht verwunderlich ist. Zwar lässt sich inzwischen auch eine Tendenz der Abwendung zumindest von der individuellen Schuldfrage erkennen. Besonders fruchtbar dabei waren bisher Ansätze, die nicht Gesinnungen oder Haltungen, sondern unzweifelhaft rassistische Textpassagen ins Zentrum stellen und die zum einen nach deren spannungsreicher Einbettung im Gesamtwerk fragen, zum anderen aber auch ihre konkreten sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Entstehungskontexte sowie ihre teilweise verwickelten Wirkungsgeschichten rekonstruieren. Aber die Gefahr der historistischen Relativierung rassistischer Äußerungen ist damit (noch) nicht gebannt. Sie lauert auch im Schatten scheinbar harmloser Floskeln, selbst wenn diese nicht mehr auf Autor:innen bezogen sind: so etwa, wenn es heißt, bestimmte Aussagen seien rassistisch, beunruhigend, beschämend „aus heutiger Sicht“. Auch derartige beschwichtigende Zusätze, die damit verbundenen Forderungen nach sorgfältiger und umfassender Kontextualisierung und vor allem der ihnen anhaftende Gestus intellektueller wie auch moralischer Überlegenheit, können als Strategien der Distanzierung und Immunisierung funktionieren. Auch durch sie kann Rassismus unter der Hand zu einem Problem der Vergangenheit und können die Problematik struktureller sowie institutioneller Rassismen, ihrer Tradierung und Aktualität sowie Fragen nach unserer eigenen andauernden Verstrickung in ihnen systematisch ausgeblendet werden.

Angesichts der Gefahr, erneut auf diese eingefahrenen Gleise zu geraten, erscheinen deshalb weitere einflussreiche Veränderungen umso wichtiger, die auf eine Weichenstellung in Richtung eines rassismuskritischen Philosophierens überhaupt hinauslaufen könnten. Diese Veränderungen müssten sicherlich an ebenfalls seit ein bis zwei Jahren erahnbare Tendenzen anschließen, für die beispielhaft die Veröffentlichung wichtiger Texte der Critical Philosophy of Race durch junge Fachphilosophinnen stehen kann (siehe v.a. Lepold/ Martinez Mateo 2021). Diese Texte selbst sowie ihre Publikation zeigen allerdings, wie wichtig neben richtigen Fragestellungen sowohl eine transnationale Vernetzung sowie eine inter- und innerdisziplinäre Ausweitung bzw. Differenzierung der Problemstellung, wie auch tatsächliche Änderungen in den institutionellen und personellen Settings der akademischen Philosophie sind. Das recht neue Feld, das selbst auf Grundlage der oben bereits angesprochenen Critical Race Theory (CRT) entstanden ist, enthält eine Vielfalt an disziplinären Fragen (v.a. metaphysische, epistemologische, politisch-ethische) und Methoden (u.a. analytische, phänomenologische, ideologiekritische) sowie interdisziplinärer Forschungen (sozial-, kultur-, migrationstheoretische etc.), die in der dezidiert kritischen Absicht verbunden sind, Rassismen nicht nur zu erkennen, zu rekonstruieren und ethisch zu delegitimieren, sondern auch zur Abschaffung rassifizierender Praktiken, Institutionen, Strukturen beizutragen.

Zwar kann erst die Zukunft zeigen, ob dieses Ziel erreicht werden kann: Die Verkündung des Anspruchs und die Kenntnisnahme im Fach selbst sind gerade noch keine Erfolgsgarantie. Aber sie legen nahe, dass die Selbstkritik und Selbsttransformation der Philosophie, eine Diversifizierung des Kanons, der Themen und auch der philosophierenden Menschen nicht genügen, wenn sich das kritische Potential der Philosophie in den außerakademischen Raum des Politischen hinein entfalten soll.

Dafür spricht auch eine eigentümliche Entwicklung, die prima vista als krönender Abschluss einer Erfolgsgeschichte erscheint und mit der ich diese Bestandsaufnahme beenden möchte: Diskussionsreihen, Podcastserien, Themenhefte einschlägiger Fachjournale, aber auch Fachtagungen, Drittmittelprojekte und Vorlesungsverzeichnisse lassen darauf schließen, dass das problematische Verhältnis der Philosophie zum Rassismus selbst zu einem eigenen Forschungsgegenstand geworden ist. Das ist einerseits ganz ohne Zweifel eine Errungenschaft und kann dazu beitragen, dass die Reflexion auf das eigene rassistische Erbe nun auf Dauer gestellt wird. Doch andererseits kann das auch zu einer disziplinären ‚Einhegung‘ und Entpolitisierung führen, wodurch wiederum nicht nur die selbstreflexive, -kritische und -transformative Dimension des Problems selbst verloren gehen kann, sondern auch die politische.

Um die alten Schläuche tatsächlich zum Bersten zu bringen und den jungen Wein zum reißenden Strom zu machen, sind mehr als kluge Einsichten, programmatische Forderungen, akademische Initiativen nötig. Wenn das Ferment für Änderungen der Philosophie selbst aus sozialen Bewegungen, mithin aus der Gesellschaft kommt, die verändert werden soll, muss auch sie selbst Ferment dieser Veränderungen sein und sich die Hände schmutzig machen …


Literatur

Bernasconi, R. (Hg.). 2001. Race. Malden, Oxford: Blackwell Publishers.

Eze, E. C. (Hg.). 1997. Race and the Enlightenment. A Reader. Cambridge, Mass.: Blackwell Publishers.

Firla, M. 1997. Kants Thesen vom „Nationalcharakter“ der Afrikaner, seine Quellen und der nicht vorhandene Zeitgeist. IWK Mitteilungen. 52 (3): 7-17.

Hentges, G. 1999. Schattenseite der Aufklärung: Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts. Schwalbach, Taunus: Wochenschau Verlag.

Horkheimer, M./ Adorno, Th. W. 1987. Elemente des Antisemitismus. In M. Horkheimer. Gesammelte Schriften. Band 5: Dialektik der Aufklärung und Schriften 1940-1950. Frankfurt/ M.: Fischer: 197-238.

Lepold, K./ Martinez Mateo, M. (Hg.). 2021. Critical Philosophy of Race. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp.

Schönecker, D. 2020. Rassismus, Rasse und Wissenschaftsfreiheit. Eine Fallstudie. Philosophisches Jahrbuch 127 (2): 248-273.

Sutter, A. 1989. Kant und die ‚Wilden‘. Zum impliziten Rassismus in der kantischen Geschichtsphilosophie. prima philosophia 2 (2): 241-265.


Dr. Peggy H. Breitenstein ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und vertritt dort im WiSe 2023/24 die Professur für Praktische Philosophie. Zudem ist sie Assoz. Mitglied des Koselleck-Projekts „Wie umgehen mit Rassismus, Antisemitismus und Sexismus in Werken der klassischen Deutschen Philosophie?“ Zuletzt erschien von ihr: Zwischen Vernunftkritik und Völkerschau. Kants Überlegungen zu Begriff und Theorie der Rasse und der Umgang mit ihnen im philosophischen Fachdiskurs. K. Porges (Hg.) 2023: Die ‚Jenaer Erklärung‘ in der (Hoch-) Schulbildung: Den Begriff ‚Rasse‘ überwinden. Bad Heilbrunn: Klinkhardt: 100-122.