11 Jan

Anti-antisemitische »Staatsraison«?

Eine Antwort auf Igor Levits Beschwerde über fatales Schweigen angesichts der jüngsten islamistischen Demonstrationen in Deutschland

von Burkhard Liebsch (Universität Bochum)

In einem langen Interview beklagte kürzlich der bekannte Pianist Igor Levit in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT ein fatales Schweigen über die jüngsten antisemitischen Proteste auf deutschen Straßen, in denen wieder einmal, diesmal allerdings von radikalen Islamisten, »Tod den Juden« skandiert wurde. Das richte sich gegen alle, die sich der »moralischen Grundlage« der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Verrät das von Levit festgestellte Verharren der Zivilgesellschaft in kollektivem Schweigen »emotionale Teilnahmslosigkeit« (wie es der Interviewer Giovanni di Lorenzo ausdrückte) und ein völliges Verkennen der Herausforderung, die für alle Bürger in jenen Protesten liegt? 

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09 Nov

Der Universalismus der Aufklärung trotz postkolonialer Abgesänge

von Arnd Pollmann (Berlin)


Nur wenige Tage nach den grauenvollen Gewaltverbrechen der Hamas formuliert Philipp Sarasin auf dem Blog Geschichte der Gegenwart eine dezidiert postkoloniale Kritik an Omri Boehms (2022) Plädoyer für einen „radikalen Universalismus“.[*] Das Timing dieser Auseinandersetzung wirkt zunächst ungünstig: Auf Seiten vieler politisch „links“ stehender Menschen herrscht seit den schockierenden Massakern vom 7. Oktober nicht bloß unschlüssiges oder betretenes Schweigen. Spätestens seit der letzten Documenta drängt sich der ungute und in diesen Tage dann auch heftig diskutierte Verdacht auf, nicht wenige Befürworter:innen postkolonialer Herrschaftskritik könnten ein allzu sympathetisches Verhältnis zu israelkritischen oder sogar direkt antisemitischen Organisationen hegen. Und bisweilen ist gar so etwas wie ein postkoloniales Liebäugeln mit dem palästinensischen Terror zu vernehmen. Zugleich richtet sich Sarasins Kritik gegen einen israelisch-deutschen Kantianer, der selbst nicht recht in die üblichen Schubladen passt. Als „Universalist“ ist Boehm nicht nur ein erklärter Gegner postkolonialer Relativierungen. Eben dieser Universalismus führt ihn auch zu einer vehementen Kritik der israelischen Besatzung; was ihn in der Öffentlichkeit beinahe allseitig zur Zielscheibe macht.

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