Hegels Nützlichkeit

Von Jonas Heller (Frankfurt am Main) In seiner Phänomenologie des Geistes hat Hegel eine Dialektik der Aufklärung formuliert, die für die kritische Theorie der ersten Generation schulbildend wurde. Die dialektische Diagnose lautet: Im Prozess ihrer Verwirklichung zerstört sich die Aufklärung selbst.[1] Die Verwirklichung der Aufklärung erfolgt als Prozess der Befreiung.…

Ein «Experiment der reinen Vernunft»: Kants Erfindung des philosophischen Gedankenexperiments

Von Jelscha Schmid (Basel) Gedankenexperimente haben die Philosophie insofern schon immer beschäftigt, als solche Experimente schon immer Teil dessen ausgemacht haben, was es heisst zu philosophieren. Eine explizite Debatte über das, was ein Gedankenexperiment ist, entsteht aber erst viel später, nämlich einerseits als Teilgebiet der Wissenschaftsphilosophie und andererseits als Teilgebiet…

Der klinisch-ethische Fehlschluss

Von Weyma Lübbe (Regensburg) [Dieser Text ist zuerst erschienen in: Verfassungsblog, 2020/12/23, ] Das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht, auch Prognose genannt, ist in der Literatur über Zuteilungskriterien bei medizinischer Ressourcenknappheit seit langem präsent. In Deutschland haben Mediziner die Anwendung dieses Kriteriums im Kontext der aktuellen Pandemie in sogenannten klinisch-ethischen Empfehlungen…

Zwanzig-zwanzig mit Lacan

Ein Versuch über die Drei Register Von Frank Wörler In der Frage, wie wir unsere Welt wahrnehmen und damit mindestens ein Stück weit konstituieren, scheint sich heute die Lage zu verkomplizieren. Durch die Massenmedien und, in einem zweiten Schritt, die Sozialen Medien vervielfachen sich die möglichen Ebenen der Repräsentation. Während…

Bildung und absolutes Wissen im Zeitalter der Klimakatastrophe

Von Oliver Toth (Graz) Hegels Philosophie des Geistes porträtiert einen idealen Bildungsvorgang: Der Weg des Geistes zu seiner vollständigen Selbsterkenntnis mündet gemäß Hegels Darstellung in der Phänomenologie des Geistes in absolutes Wissen. Hier soll es um die Frage gehen: Hat seine Konzeption von absolutem Wissen heute – 250 Jahren nach…

Wer denkt abstrakt? Wie Philosophie in der Corona-Krise unter Anleitung von Hegel praktisch werden kann

Von Olivia Mitscherlich-Schönherr (München) Ein Rückblick auf Hegels Essay „Wer denkt abstrakt?“ vermag die Leerstelle nicht zu schließen, die Gottfried Schweiger der Philosophie in der Corona-Krise attestiert: Leitbilder einer künftigen, gerechten Gesellschaft zu entwerfen. In Auseinandersetzung mit Hegels Text können wir jedoch ein Philosophieren bahnen, das auf andere Weise praktisch…

Was ist und welchen moralischen Nutzen hat die Toleranz?

Von Achim Lohmar (Duisburg-Essen) Eine beliebte Vexierfrage lautet: Kann die Toleranz auch der Intoleranz gelten? Die Reflexion über diese Frage scheint sowohl eine positive als auch negative Antwort zu erzwingen. Wenn Toleranz etwas damit zu tun hat, abweichende Standpunkte und Orientierungen zu dulden, und wenn gerade darin der positive Wert…

Ich zähle, also bin ich? – Über die Probleme der Corona-Politik das Ungezählte und Unzählbare angemessen zu erfassen

Von Björn Engelmann (Erlangen-Nürnberg) Es scheint mir, politische Institutionen im Allgemeinen und die aktuelle deutsche Corona-Politik von Bund und Ländern im Besonderen haben ein Problem damit, diejenigen Aspekte der Pandemiebekämpfung angemessen zu berücksichtigen und zu würdigen, die sich nicht leicht in Zahlen fassen lassen oder die sich gar gänzlich der…

„Er ist wieder da!“ Die Renaissance des Stoizismus

Von Markus Rüther (Jülich) In den USA erfährt der Stoizismus gerade eine Renaissance. Auf Workshops lassen sich Unternehmer und Manager mittels der antiken Philosophie coachen. Es gibt mittlerweile Apps wie „Pocketstoic“, die einem jeden Tag ein Zitat von Marc Aurel, Epiktet und Seneca näherbringen. Die Bücherregale sind voll mit Titeln…

Der Ethikrat über Suizidwünsche und Suizidbeihilfe – Fiktion und Wirklichkeit

Von Olivia Mitscherlich-Schönherr    Im Herbst 2020 fanden zwei Sitzungen des Deutschen Ethikrats zu Sterbewunsch und Suizidbeihilfe statt. Bundesgesundheitsminister Spahn hatte den Ethikrat um eine Stellungnahme gebeten. Zwischen den beiden Sitzungen des realen Ethikrats hat die ARD Ende November Ferdinands von Schirach Spielfilm „Gott“ über eine fiktive Ethikrat-Anhörung zum selben Thema…

Boris liest etwas, das nicht aufgeht, und schaut „House of Cards“

Erzählung als Gedankenexperiment Von Veronika Reichl (Berlin) Dies ist eine Erzählung über das Lesen von Hegel und darüber, wie man mit seinen Aufhebungen umgehen könnte. Sie ist auf der Basis von Interviews mit Hegelleser*innen entstanden, doch ich ordne Motive und Beobachtungen, Thesen und Erfahrungen aus verschiedenen Interviews neu an. Ich…

Subjektive Freiheit – Warum es in einer Diktatur keine Objektivität geben kann

Von Susanne Herrmann-Sinai (Oxford) Zu Zeiten des ausgehenden real-existierenden Sozialismus in der DDR erzählte man sich folgenden Witz: „Erich Honecker hat in einer Rede gesagt: ‚Der Kapitalismus steht vor einem Abgrund.‘ Und er hat auch gesagt: ‚Der Sozialismus ist dem Kapitalismus stets einen Schritt voraus.‘“ – Der Charme mag vielleicht…

Naturdialektik und ökologische Krise. Thunberg – Holz – Engels

von Volker Schürmann (Kön) »Nun sind aber die Überlebensbedingungen der Menschheit an einen bestimmten Zustand der Natur gebunden.« (Holz 1983b: 164) 1983 veröffentlichte das Institut für Marxistische Studien und Forschungen (Frankfurt a.M.) zusammen mit der Marx-Engels-Stiftung (Wuppertal) einen Sonderband Zum 100. Todestag von Karl Marx: Aktualität und Wirkung seines Werks…

Pflichtgemäß. Immanuel Kant und Brad Raffensperger

von Herbert Hrachovec (Wien) Der Innenminister des US-amerikanischen Bundesstaates Georgia ist lebenslanger Republikaner. Er unterstützte Donald Trumps Wahlkampf finanziell und wählte ihn im November 2020. Zu diesem Zeitpunkt war er in seiner politischen Funktion auch für die korrekte Abwicklung dieser Wahl zuständig. Joe Biden gewann in Georgia mit circa 12.000 von…

Markt und Wettbewerb – Vehikel der Diskriminierung oder Katalysatoren für Toleranz?

Von Arnd Küppers (Mönchengladbach) Auf den ersten Blick scheint es geradezu abwegig, beim Thema Toleranz ausgerechnet an Markt und Wettbewerb zu denken. Ist der kapitalistische Markt nicht vielmehr der Ort mannigfaltiger Diskriminierungen und Demütigungen? Der Ort, an dem Menschen von dem Genuss bestimmter Güter ausgeschlossen werden, weil sie zu arm…

Undenkbare Gedankenexperimente

Von Fabian Börchers (Berlin) Was macht man in einem philosophischen Gedankenexperiment? Eine vorläufige und prima facie plausible Antwort lautet so: In einem philosophischen Gedankenexperiment stellt man sich einen Gegenstand, einen Sachverhalt, eine Situation vor, die man in der Realität so nicht antrifft oder vielleicht nicht antreffen kann und wertet diese…

Zur Aktualität Friedrich Engels im 21. Jahrhundert

von Frank Jacob (Nord Universitet) Vor 200 Jahren wurde Friedrich Engels geboren und auch heute noch sind seine Texte von großem Wert, denn sie sind oftmals zeitlos und für unser Leben oft von nicht zu unterschätzender Aktualität, geben sie doch Anreize, sich kritisch mit den Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen. Zu…

Hegel dekolonisieren?!

Von Filipe Campello (Recife, Brasilien) Wenn wir uns heute – 250 Jahre nach seinem Tod – an Hegel erinnern, ist vielleicht eine der am meisten beunruhigenden Reaktionen die Frage, wie derselbe Philosoph gleichzeitig geschrieben haben kann, “das was wirklich ist, das ist vernünftig” und dass “nichts Großes in der Welt…

Plädoyer für die Utopie. Notwendig und unverzichtbar als Philosophie des Wünschenswerten und Möglichen

Von Mathias Lindenau (Ostschweizer Fachhochschule) Stellen Sie sich vor, man würde Sie um eine Stellungnahme bitten, ob die Utopie irgendeine Relevanz für die Philosophie besitzt. Möglicherweise würde Ihnen Shakespeares Komödie «Viel Lärm um nichts» in den Sinn kommen und Sie würden achselzuckend Ihrer Meinung nach lieber einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen.…

Unwissenheit als Unvermögen

von Hannes Worthmann (Erlangen) Die philosophische Untersuchung des Wissensbegriffs wird nach wie vor dominiert von Varianten der sogenannten Standardanalyse des Wissens. Demnach weiß eine Person S genau dann, dass p der Fall ist, wenn S gerechtfertigt davon überzeugt ist, dass p der Fall ist, und p auch tatsächlich der Fall…

Verschont das Denken mit Experimenten. Oder: Warum Gedankenexperimente in Philosophie und Moral nichts zu suchen haben

Von Falk Bornmüller (Halle-Wittenberg) Es scheint ganz einfach zu sein: Gedankenexperimente sind Experimente in Gedanken – und da beide Komponenten dieses Wortes positiv besetzt sind, wird das charmant verkuppelte Kompositum in philosophischen Kontexten mittlerweile derart rege und affirmativ gebraucht, als verstünde es sich bereits von selbst, was Experimentieren in Gedanken…

Was heißt Toleranz – und warum soll man es verteidigen?

Von Matthias Kaufmann (Halle) Nachdem Toleranz lange Zeit als einer der wichtigen Beiträge der europäischen Aufklärung zur politischen und sozialen Kultur gefeiert wurde, erfuhr sie heftige Kritik als angebliche Legitimation von Indifferenz und Unmoral. Wenn man die vielen möglichen Verwendungsweisen etwas sortiert und genauer ansieht, wird deutlich, dass Toleranz in…

Gedankenexperimente zwischen Himmel und Erde

Von Yiftach Fehige (Toronto) Einst war es möglich, im Laufe eines Wochenendes zu Experten*innen in Sachen Gedankenexperimente zu werden. So wenig Literatur gab es dazu. Das kann man sich kaum noch vorstellen, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Monographien, Anthologien und Fachzeitschriftenartikel es heute zum Thema gibt. So…

Zu den Erfolgsbedingungen von Rechtfertigungen

Von Luise Müller (Dresden) Dieser Blogbeitrag kann auch als Podcast gehört und heruntergeladen werden Im Zuge der immer stärker werdenden Erwartung, Drittmittelprojekte einzuwerben, werden nun auch die Philosoph:innen bei den entsprechenden Forschungsanträgen mit einer Frage konfrontiert, die bislang in der praktischen Philosophie wenig reflektiert wurde: nämlich die nach den Forschungsmethoden.…

Die andere Pest

Von Thomas Pölzler (Graz) Albert Camus erfreut sich neuer Beliebtheit. Auch abseits der Pandemie ist eine Auseinandersetzung mit dem französischen Schriftsteller und Philosophen lohnend.

Was taugen philosophische Gedankenexperimente? Zur Ethik des Kontrafaktischen

Von Florian Arnold (Stuttgart) Wer sich in seinem Leben länger an philosophischen Instituten aufgehalten hat, dem dürfte die Situation schon einmal untergekommen sein, dass im Zuge einer Seminarübung, ausgestattet mit einem oder mehreren Texten und befeuert durch den didaktischen Übermut des Dozierenden, die Welt in Gedanken kurzerhand auch einmal vernichtet…

Neue Technologien – neue Kindheiten?

von Gottfried Schweiger (Salzburg) Techniken und Technologien spielen während der Kindheit eine immer größere Rolle. Kinder und Jugendliche verwenden fast täglich neuere Techniken wie PCs, Tablets, Smartphones, das Internet, Soziale Medien, Software oder Computerspiele ebenso wie Eltern, Schulen und Unternehmen. Technologische Entwicklungen in der KI, Robotik und Digitalisierung werden in…

Hegel und die sexuelle Differenz

von Karen Koch (FU Berlin) & Tobias Wieland (FU Berlin) Anlässlich des 250. Geburtstages Hegels steht die Frage der Aktualität seiner Philosophie im Zentrum der Debatte. In seiner Biographie etwa rühmt Klaus Vieweg Hegel als den Philosophen der Freiheit, dessen Aussagen über Freiheit auch heute noch – und gerade zu…

Die neue Sichtbarkeit der Lehre. Eine Zwischenbilanz zur philosophischen Lehre in Zeiten der Pandemie

von Daniel Kersting (Jena) und Michael Reder (München) Heute beginnt das neue Semester – bei vielen sicherlich mit gemischten Gefühlen. Eigentlich sollte das Wintersemester als ein „Hybrid-Semester“ stattfinden: So viel Präsenzlehre wie möglich, soviel Distanzlehre wie nötig. Doch die Infektionszahlen steigen rapide an und vielerorts startet das Semester nun doch…