GastherausgeberInnen: Andrea Klonschinski (Kiel) und Tim Kraft (Regensburg)
Wir wissen sehr viel nicht. Auch wenn die genauen
Grenzen unseres Nichtwissens umstritten sind – der Skeptikerin zufolge ist unser
Nichtwissen allumfassend und unüberwindbar –, gestehen auch epistemische
Optimisten ein, dass unser Nichtwissen, wenn auch grundsätzlich überwindbar,
faktisch unser Erkenntnisstreben und unseren Alltag prägt. Auf den ersten Blick
ist unser Nichtwissen in doppelter Hinsicht negativ: Erstens ist es begrifflich
eine Negation: Dass Nichtwissen dann und nur dann vorliegt, wenn man etwas
nicht weiß, klingt nach einer Trivialität, die sich kaum auszusprechen lohnt. Zweitens
ist es normativ etwas Negatives: Dass es meistens besser ist, etwas zu wissen
statt unwissend zu bleiben, ist ein weiterer Gemeinplatz.
Es lohnt sich, beides genauer zu prüfen. Ist
Nichtwissen wirklich nur die Negation oder Abwesenheit von Wissen? Und wann
spielt Nichtwissen ethisch gesehen eine positive, wann eine negative Rolle?
Einige Problemfelder illustrieren dies:
- Nichtwissen
über Risiken ist problematisch (Entscheidung unter Nichtwissen,
Technikfolgenabschätzung), kann aber auch schützen (Geheimhaltung von
Bombenanleitungen, Sicherheitslücken, Suizidmethoden u.ä.)
- Nichtwissen
kann Vorbedingung für Fairness und Gerechtigkeit sein („veil of ignorance“),
aber auch (epistemische) Ungerechtigkeit bedingen („white ignorance“, „invested
ignorance“)
- Nichtwissen
kann Freiheit einschränken (Nichtwissen über Handlungsoptionen), aber auch
ermöglichen (Unvorhersehbarkeit als Vorbedingung für Freiheit)
- Nichtwissen
kann eine Ausrede sein (Nichtwissen über Produktionsbedingungen der eigenen
Kleidung u.a.), aber auch vor ethischer Überforderung und Paralyse schützen
- In
medizinischen Kontexten besteht sowohl ein Recht auf Aufklärung („mündiger
Patient“) als auch ein Recht auf Nichtwissen (Zufallsbefunde, Gendiagnostik
u.a.)
- Nichtwissen
kann ein politisches Problem sein (uniformierte Wahlentscheidungen,
Desinformationskampagnen), aber auch die Bürger und ihre Privatsphäre schützen
- Nichtwissen
soll in den Wissenschaften überwinden werden, ist aber auch Bedingung für objektive
Erkenntnis (triple blind studies
u.a.)
Das Phänomen des Nichtwissens wird seit einiger Zeit nicht nur in der Erkenntnistheorie, sondern auch in der Ethik vermehrt thematisiert und problematisiert. Wir wollen mit dem Themenschwerpunkt sowohl die Pluralität der Debatten um Nichtwissen verdeutlichen, als auch die gemeinsamen Fragen und Ansätze, die in den verschiedenen Debatten wiederkehren, aufzeigen. Wenn du eine Idee für einen Beitrag hast, schick uns doch bitte eine Mail (tim.kraft@ur.de und klonschinski@philsem.uni-kiel.de). Die Publikation der Beiträge soll im September beginnen, also wäre es schön, wenn uns die ausgearbeiteten Beiträge bis dahin erreichen, Ideen und Vorschläge gerne früher.
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11. Oktober 2022
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