19 Nov

Unwissenheit als Unvermögen

von Hannes Worthmann (Erlangen)


Die philosophische Untersuchung des Wissensbegriffs wird nach wie vor dominiert von Varianten der sogenannten Standardanalyse des Wissens. Demnach weiß eine Person S genau dann, dass p der Fall ist, wenn S gerechtfertigt davon überzeugt ist, dass p der Fall ist, und p auch tatsächlich der Fall ist. Neben der Standardauffassung existiert eine weniger verbreitete Sichtweise: Wissen ist eine Fähigkeit. Erachtet man Wissen als Fähigkeit, ist es naheliegend, Unwissenheit als Unvermögen oder Unfähigkeit aufzufassen: Personen, die um einen bestehenden Sachverhalt nicht Wissen, fehlt die Fähigkeit, sich im Denken und Handeln von diesem leiten zu lassen. Um diese Idee verständlich zu machen, werde ich zunächst Grundlegendes zum Begriff der Fähigkeit sagen und dann die Fähigkeitskonzeption des Wissens skizzieren. Im Anschluss wird es um das Phänomen der Unwissenheit gehen.

1. Fähigkeiten

Fähigkeiten sind Eigenschaften mit besonderen Eigenheiten:

(1) Bei der Zuschreibung einer Fähigkeit treffen wir eine Unterscheidung zwischen ihrem Besitz und ihrer Ausübung: Eine Fähigkeit wird auch dann von einer Person besessen, wenn diese sie gerade nicht ausübt. So können wir beispielsweise von einer Grundschülerin sagen, dass sie im Zahlenraum bis 100 multiplizieren kann, auch wenn sie ihr Können gerade nicht zeigt, etwa weil sie spielt oder schläft. In dieser Hinsicht ähneln Fähigkeiten anderen, möglicherweise verwandten Phänomenen wie etwa Dispositionen, Tendenzen oder Anfälligkeiten. Auch von Zuckerwürfeln sagen wir beispielsweise, dass sie wasserlöslich sind, selbst wenn sie ihre Disposition gerade nicht manifestieren, sie also nicht im Wasser aufgelöst sind. Und als Raucher bezeichnen wir eine Person, wenn sie mit gewisser Regelmäßigkeit (aber nicht ununterbrochen) raucht. Die genannten Eigenschaften unterscheiden sich in dieser Hinsicht von anderen Eigenschaften, die den Unterschied von Besitz und Ausübung bzw. Manifestation nicht zulassen. Man denke etwa an die Eigenschaft von einer Person, älter als ihr kleiner Bruder zu sein, oder die Eigenschaft Angela Merkels, Bundeskanzlerin Deutschlands zu sein.

Neben dem Unterschied zwischen Besitz und Ausübung spielt das Verhältnis zwischen (2) Besitz und Gelegenheit sowie zwischen (3) Besitz und Verhinderung der Ausübung eine zentrale Rolle in unserem Umgang mit Fähigkeitsbegriffen. Jemand mag ein sehr guter Schwimmer sein, der seine Fähigkeit jedoch gerade nicht ausüben kann, weil weit und breit kein Schwimmbad, See oder Meer ihm Gelegenheit dazu bietet. Und selbst dann, wenn sich ihm die Gelegenheit böte, könnte es sein, dass er seine Fähigkeit eine Zeitlang nicht ausüben kann, da ein gebrochenes Bein ihn daran hindert. Gleichwohl würden wir ihm die Fähigkeit, schwimmen zu können, nicht gleich absprechen.

(4) Die Ausübung einer Fähigkeit zielt auf Erfolge ab. Personen, die eine Fähigkeit besitzen, können etwas – sie bekommen etwas richtig hin. Kompetente Schachspieler*innen beherrschen die Regeln des Schachs und richten ihre Züge nach diesen. Wer die Fähigkeit besitzt, im Zahlenraum bis 100 zu multiplizieren, kann entsprechende Aufgaben lösen. Und wer Englisch spricht, kann die Verbformen der dritten Person Singular korrekt bilden. Natürlich ist etwas zu können jedoch nicht gleichbedeutend damit, es immer und überall richtig zu machen. Vielmehr unterscheiden wir hinsichtlich der Häufigkeit des Erfolges in Bezug auf die meisten Fähigkeiten graduell zwischen bloß kompetenten Personen und Expert*innen. So erwarten wir beispielswiese von bloß kompetenten Schachspieler*innen, dass sie korrekte Züge tätigen, nicht jedoch, dass sie mit gewisser Regelmäßigkeit gewinnen.

2. Wissen als Fähigkeit

Alle vier skizzierten begrifflichen Eigenheiten treffen ebenfalls auf den Wissensbegriff zu:

(1) Wir alle verfügen über Wissen, das wir nur manchmal oder selten anwenden, obgleich wir es besitzen, und wir alle verfügen sogar über Wissen, das wir noch nie angewendet haben, insofern wir noch nie beim Urteilen oder Handeln auf dieses Wissen zurückgegriffen haben. So wissen Sie vielleicht, ob Ihre Kinder oder Ihre Großmutter jemals den europäischen Kontinent verlassen haben. Genau wie andere Fähigkeiten, die sie besitzen, können sie dieses Wissen unter geeigneten Umständen anwenden, etwa im Zuge einer Schlussfolgerung, oder wenn Sie auf Nachfrage eine entsprechende Auskunft geben.

(2) Oft fehlt uns die Gelegenheit, unser Wissen anzuwenden. Wenn uns niemand fragt, ob der Jangtsekiang länger als der Mississippi ist, können wir (trivialerweise) unser Wissen nicht ausüben, indem wir eine Antwort auf diese Frage geben. Wie die meisten anderen intellektuellen Fähigkeiten können wir unser Wissen jedoch auch ganz für uns alleine zur Anwendung bringen, etwa indem wir schließen, dass, weil der Jangtsekiang länger als der Mississippi ist und letzter länger als der Ob, der Jangtsekiang auch länger als der Ob ist. Auf diese und ähnliche Art und Weise können wir kognitive Fähigkeiten fast immer ausüben, es sei denn, die Ausübung wird verhindert.

(3) Sind wir zu müde, zu unkonzentriert oder zu betrunken, um beispielsweise einen korrekten Schluss durchzuführen, mag uns unser Wissen insofern im Stich lassen, als dass wir es auf diese Weise nicht unter Beweis stellen können. Gleichwohl mag jemand von uns sagen, dass wir es eigentlich wissen.

Die bisher genannten Eigenschaften des Wissensbegriffs zeigen bereits die Ähnlichkeit von Wissen und Fähigkeiten. Besonders entscheidend für die Bestimmung des Wissens als Fähigkeit ist jedoch der vierte Aspekt, denn dieser führt uns zu der entscheidenden Frage, in welcher Fähigkeit Wissen denn nun eigentlich besteht.

(4) Wie oben gesagt, zeichnen sich Fähigkeiten durch Erfolg aus. Tatsächlich sind sie dadurch bestimmt, d. h. die erfolgreiche Ausübung der Fähigkeit legt fest, um welche Fähigkeit es sich handelt. In manchen Fällen ist dies (fast) trivial: So besitzt eine Person die Fähigkeit, 5 km unter 20 Minuten zu laufen, genau dann, wenn sie (unter geeigneten Umständen) 5 km unter 20 Minuten laufen kann. Manche Fähigkeiten sind jedoch heterogener in ihrer Ausübung: Eine fähige Geschäftsfrau muss ganz verschiedene Dinge beherrschen, um dieses Prädikat zu verdienen. Sie muss beispielsweise gut verhandeln können, ein gutes Gespür für den Markt haben usw. usf. Ähnliches gilt für einen fähigen Tennisspieler, der eine ganze Reihe verschiedener Tätigkeiten beherrschen muss (verschiedene Schläge, Lauftechniken usw.). Angesichts dieser Beispiele werden manchmal generische bzw. determinierbare Fähigkeiten einerseits und determinierte Fähigkeiten andererseits unterschieden. Determinierte Fähigkeiten sind solche, denen eine bestimmte Tätigkeit entspricht, während sich generische Fähigkeiten in weitere Fähigkeiten untergliedern lassen. Der Unterschied findet sich auch auf sprachlicher Ebene wieder, insofern wir für generische Fähigkeiten in der Regel keine Verben besitzen und bestimmte Konstruktionen mit „können“ nicht gebräuchlich sind. Wir sprechen etwa davon, dass ein Schüler Kopfrechnen kann, nicht aber davon, dass eine kluge Anwältin gut „anwalten“ kann.

Die entscheidende Frage lautet nun also: Worin besteht die erfolgreiche Ausübung von Wissen? Was genau bekommen Wissende richtig hin? Die Beantwortung dieser Frage hat sich als erstaunlich schwierig erwiesen, was nicht zuletzt dafür gesorgt haben dürfte, dass die Auffassung, Wissen als Fähigkeit zu verstehen, bisher eine Minderheitenposition geblieben ist.

Zuletzt hat ein Vorschlag von sich reden gemacht, welcher auf Überlegungen Gilbert Ryles zurückgeht und von John Hyman weiterentwickelt wurde. (Zur Entwicklung und Diskussion dieses Vorschlags siehe Abschnitt 4). Diesem Vorschlag zufolge besteht Wissen in der Fähigkeit, im Denken und Handeln durch Gründe geleitet zu werden, die Tatsachen sind. Die Grundidee ist schnell erläutert: Wenn Personen eine Handlung oder einen Gedankengang vollziehen, dann tun sie dies in der Regel im Lichte von Gründen. Deshalb können wir ihr Denken und Handeln unter Verweis auf diese Gründe auch erklären. Betrachten wir als Beispiel die Handlung einer Person, nennen wir sie Karl, die Wohnzimmertür vorsichtig zu öffnen, weil auf der anderen Seite der Tür seine Katze liegt. Hierbei können wir Karls Handlung damit erklären, dass seine Katze auf der anderen Seite vor der Tür liegt. In Bezug auf solche Erklärungen lässt sich nun eine gewisse Asymmetrie zwischen Wissen und Überzeugung feststellen. Betrachten wir zunächst den Fall, dass Karls Katze tatsächlich vor der Wohnzimmertür liegt, und nehmen wir zusätzlich an, dass Karl davon weiß. In diesem Fall lässt sich sein vorsichtiges Türöffnen entweder unter Verweis auf seinen Wissenszustand erklären: „Karl hat die Wohnzimmertür vorsichtig geöffnet, weil er wusste, dass seine Katze davor liegt.“ Oder wir können sein Verhalten erklären, indem wir auf die erklärende Tatsache selbst verweisen: „Karl hat die Wohnzimmertür vorsichtig geöffnet, weil seine Katze davor lag.“ Beide Erklärungen sind offenbar gleich gut geeignet, um sein Verhalten zu erklären. Die treibende Vermutung dieses Ansatzes ist nun, dass dies deshalb der Fall ist, weil es beim Wissen um das Geleitetsein durch Tatsachen geht. Karl handelt im Lichte der Tatsache, dass seine Katze vor der Tür liegt. Und genau darauf kommt es beim Wissen an. Hierin besteht nun ein wichtiger Kontrast zum Handeln, welches auf Überzeugungen beruht. Nehmen wir einmal an, dass Karls Katze sich nicht mehr vor der Tür befindet, ohne dass Karl dies gemerkt hat, sodass er die Tür vorsichtig öffnet, weil er fälschlicherweise glaubt, dass seine Katze vor dieser liegt. Unter dieser Annahme können wir Karls Verhalten nun weder unter Verweis auf den Wissenszustand noch auf die Tatsache selbst erklären. Was stattdessen Karls Verhalten erklärt ist eine Überzeugung. Er handelt also nicht im Lichte der Tatsache, dass seine Katze vor der Tür liegt, sondern im Lichte des Gehaltes einer entsprechenden Überzeugung.

Für Personen, die um eine Tatsache wissen, ist diese Tatsache also ein möglicher Grund, aus dem sie handeln können. Und es ist naheliegend, dieses „Können“ als Mittel zur Zuschreibung einer Fähigkeit zu verstehen, die sich in zahlreichen Handlungen (aus Gründen die Tatsachen sind) manifestieren kann: So kann Karl etwa andere Personen warnen, die Tür nur vorsichtig zu öffnen, weil die Katze vor der Tür liegt; oder er kann schließen, dass die Katze nicht draußen ist, weil sie vor der Wohnzimmertür liegt usw.

3. Unwissenheit als Unvermögen

Überträgt man die vorangegangenen Überlegungen nun auf den Fall der Unwissenheit ergibt sich folgendes Bild: Zuschreibungen von Unwissenheit sind Zuschreibungen von Unvermögen. Indem wir von einer Person S sagen, dass sie nicht weiß, dass p, sagen wir über sie, dass sie nicht die Fähigkeit hat, im Denken und Handeln durch die Tatsache, dass p, gleitet zu werden: Weiß Karl nicht, dass die Katze vor der Tür liegt, kann er diese nicht vorsichtig öffnen, weil die Katze davor liegt. Er kann es natürlich tun, weil er dies vermutet oder weil er es sich angewöhnt hat, die Tür vorsichtig zu öffnen, weil seine Katze häufig davor liegt, doch in diesen Fällen ist der Grund seines Handelns nicht die genannte Tatsache, sondern eine Vermutung, eine Gewohnheit oder vielleicht eine andere Tatsache (z. B. die Tatsache, dass die Katze häufig vor der Tür liegt).

Angesichts dieser Beispiele ist es naheliegend anzunehmen, dass Zuschreibungen von Unwissenheit (genauso wie Zuschreibungen des Wissens) faktiv sind. Dies würde bedeuten, dass man nur über bestehende Sachverhalte sagen kann, dass diese von einer Person gewusst oder nicht gewusst werden. Dies ist jedoch offenbar nicht immer der Fall, denn manchmal geht es uns gerade darum, mit Behauptungen von Unwissenheit in Frage zu stellen, ob etwas der Fall ist. Tim Kraft verweist in seinem Beitrag auf folgende, typische Erwiderung, um diesen Gebrauch zu illustrieren: „Hör bitte mit deinen haltlosen Anschuldigungen auf. Du weißt doch gar nicht, dass Ben das Geld aus der Spendendose gestohlen hat“. Sinn und Zweck einer solchen Äußerung scheint es gerade zu sein, darauf hinzuweisen, dass das vermeintlich Gewusste eben nicht (oder nicht sicher) der Fall ist.  Was hat es mit solchen Unterstellungen der Unwissenheit auf sich? Stellen sie die Faktivität von Wissen tatsächlich in Frage oder handelt es sich dabei um sekundäre Verwendungen, wie Kraft es vorschlägt?

Versteht man Nicht-Wissen als Unvermögen, ergeben sich mindestens zwei Lesarten solcher Zuschreibungen des Nicht-Wissens. Gemäß beiden Lesarten soll damit gesagt sein, dass die Wissensrelation nicht vorliegt, d. h., dass die betreffende Person nicht die Fähigkeit besitzt, im Lichte der Tatsache zu handeln. Doch der Grund für das Nicht-Vorliegen der Relation ist je ein anderer, denn einerseits kann es sein, dass die Person deshalb nicht in der Lage ist, aufgrund der Tatsache zu handeln, weil der Sachverhalt nicht besteht, oder aber es kann der Fall sein, dass der Sachverhalt zwar besteht oder bestehen könnte, die Person aber nicht aufgrund der Tatsache gehandelt hat. Oft wissen wir von anderen, dass sie ihre Überzeugungen nicht aufgrund der in ihnen ausgedrückten Tatsachen erlangt haben, sondern beispielsweise auf Grundlage von Vermutungen oder Vorurteilen. Selbst wenn sie mit diesen Überzeugungen daher richtig lägen, können sie kein Wissen für sich beanspruchen.

Unterschieden werden muss die Unwissenheit zudem von Fällen, in denen Personen ihr Wissen aus verschiedenen Gründen nicht anwenden können. Doch auch hier gleicht unser Umgang mit dem Wissensbegriff unserem Umgang mit Fähigkeitsbegriffen. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass wir über Schüler*innen sagen, dass sie die Antwort auf eine Frage eigentlich wissen, auch wenn sie diese gerade nicht geben konnten. Dieser Umstand lässt sich analog zu den oben skizzierten Fällen als Verhinderung verstehen: Leidet ein Schüler unter sehr großer Prüfungsangst, kann es sein, dass er im entscheidenden Moment der mündlichen Prüfung vor lauter Nervosität nicht sagen kann, dass p, obgleich er es seinen Mitschüler*innen außerhalb einer Prüfungssituation sehr wohl sagen könnte. Deshalb ist der bloße Umstand, dass eine Person nicht sagen kann, dass p, keine unmittelbare Evidenz dafür, dass sie unter keinen Umständen geleitet von der Tatsache, dass p, denken und handeln kann.

4. Historischer Abriss und Hinweise zum Weiterlesen

Der Vorschlag, Wissen als Vermögen zu verstehen, findet sich – zumindest manchen Interpretationen zufolge – bereits bei Platon (vgl. Politeia, 447d). In der jüngeren Auseinandersetzung wird hingegen meist auf Ludwig Wittgenstein als Inspirationsquelle verwiesen, der in den Philosophischen Untersuchungen jedoch nicht für genau diesen Vorschlag argumentiert, sondern nur auf eine gewisse Verwandtschaft im Gebrauch von Worten wie „wissen“, „können“, „imstande sein“ und dem Ausdruck „eine Technik beherrschen“ verweist (vgl. Philosophische Untersuchungen, § 150). Wittgenstein verfolgt diesen Hinweis jedoch nicht weiter. Vor allem unterbreitet er keinen Vorschlag dazu, in welchem Können Wissen besteht, oder dazu, was eine wissende Person beherrscht. Etwas weiter als Wittgenstein wagt sich Gilbert Ryle vor, der davon spricht, dass Wissen ein Fähigkeitswort sei, und die Fähigkeit als „a capacity to get things right“ beschreibt (vgl. Ryle 1949, 133-134). Zu der Frage, was Wissende richtig hinbekommen, ist er jedoch ähnlich zurückhaltend. Entsprechend wurde Ryle für seinen vagen Vorschlag kritisiert (vgl. z. B. White 1982, S. 105–107 & 155ff). Er verweist jedoch bereits darauf, dass es uns bei Wissenszuschreibungen (im Unterschied zu Überzeugungszuschreibungen) um Erklärungen mithilfe bestimmter Gründe geht. Zum Beispiel manifestiere sich die Überzeugung, dass das Eis eines zugefrorenen Sees zu dünn ist, um eine Person zu tragen, darin, bestimmte Schlüsse zu ziehen, wie man sich zu verhalten habe: vorsichtig auf dem Eis zu laufen; anderen Personen zu sagen, dass das Eis zu dünn ist; Vorstellungen auszubilden, welche Konsequenzen es haben könnte einzubrechen und sich angesichts dieser Vorstellungen zu schaudern (vgl. 1949, 134–135). Eine Person, die nicht nur überzeugt davon ist, sondern weiß, dass das Eis zu dünn ist, würde – so Ryle – in ganz ähnlicher Weise reagieren. Doch bestehe ein Unterschied in der Erklärung:

 [T]o say that [a person] keeps to the edge because he knows that the ice is thin, is […] to give quite a different sort of ‘explanation’, from that conveyed by saying that he keeps to the edge because he believes that the ice is thin (ebd.).

Im Falle der bloß überzeugten Person wird ihr Verhalten dadurch erklärt, dass sie eine bestimmte Überzeugung hat. Im Falle des Wissens wird ihr Verhalten dadurch erklärt, dass etwas der Fall ist. Der Unterschied liegt demnach in der Begründung des Verhaltens. So fasst auch John Hyman – der jüngste Vertreter dieser Positionsfamilie – Ryles Überlegung zusammen:

In the first case, the man’s reason is that the ice is thin; in the second case, it is that he believes that the ice is thin. But the man’s reason stands to his action in a different relation in the two cases, and the sort of explanation given by identifying his reason differs commensurately. (1999, 446)

Ryle und Hyman vertreten daher die Auffassung, dass Wissen in der Fähigkeit besteht, im Denken und Handeln durch Gründe geleitet zu werden, die Tatsachen sind (vgl. Hyman 1999 & 2015). Weiß eine Person S, dass p, so besitzt sie die Fähigkeit zu urteilen, dass p, weil p; oder sich zu freuen, dass p, weil p usw.

Der Ryle-Hyman-Ansatz ist die Wissensanalyse, die ich diesem Beitrag zugrunde gelegt habe. Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass auch dieser Vorschlag umstritten ist. So wurde etwa kritisiert, dass das Handeln aus Gründen streng genommen keine Fähigkeit ist. Fähigkeiten sind normalerweise durch ihre Ausübungen bestimmt und Ausübungen wiederum durch Handlungstypen. Das heißt, die Fähigkeit zu φ-en manifestiert sich im φ-en. Aus-Gründen-zu-φ-en scheint jedoch kein Handlungstyp zu sein und so auch keine Fähigkeit (vgl. Hacker 2013, 182f). Hinzu kommt, dass die Fähigkeiten, die wir von Wissenden erwarten, sich von Fall zu Fall zu unterscheiden scheinen: Oft genügt uns eine wahre Auskunft, sodass die Fähigkeit aus dem Grund zu urteilen, dass p, zu genügen scheint, um eine Wissenszuschreibung zu erhalten. Doch manchmal sind wir bei der Verwendung des Ausdrucks „Wissen“ zurückhaltender, insofern wir diesen nur für Personen reservieren, die ihren Wissensanspruch begründen können. Die Fähigkeit, einen Wissensanspruch begründen zu können, ist jedoch eine ganz andere Fähigkeit, als diejenige, aufgrund von Tatsachen zu handeln. So mag beispielsweise ein Zweijähriger in der Lage sein, in einem Gebüsch nach seinem Ball zu suchen, der darunter gerollt ist, und so aufgrund der Tatsache zu handeln, dass sich sein Ball im Gebüsch befindet, ohne dass er in der Lage wäre, sein Handeln zu begründen oder zu erklären. Angesichts dieser und ähnlicher Überlegungen lässt sich bezweifeln, dass unser Gebrauch des Wissensbegriffs tatsächlich darauf hinausläuft, eine spezifische Fähigkeit zuzuschreiben.


Hannes Worthmann ist akademischer Rat am Institut für Philosophie der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Er forscht und lehrt vor allem zu Themen der Erkenntnis- und Handlungstheorie sowie der Philosophie des Geistes.


Literatur

Hacker, P. (2013) The Intellectual Powers. A Study of Human Nature. Chichester, Wiley Blackwell.

Hyman, J. (1999) How Knowledge Works. The Philosophical Quarterly 49 (197), 433–451.

Hyman, J. (2015) Action, Knowledge, and Will. Oxford, Oxford University Press.

Kraft, T. (2019): „Die Wahrheit des Nichtwissens“, https://praefaktisch.de/nichtwissen/die-wahrheit-des-nichtwissens/

Ryle, G. (1949) The Concept of Mind. London, Hutchinson.

White, A.R. (1982) The Nature of Knowledge. Totowa, Rowman and Littlefield.

Wittgenstein, L. (1953) Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Band 1. Frankfurt am Main, Suhrkamp (1984).

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