Für Forschendes Lernen braucht man keinen Seminarraum

von Joschka Haltaufderheide (Potsdam) & Katja Kühlmeyer (München) Eine typische Stellenanzeige, die über den Verteiler der medizinethischen Fachgesellschaften verschickt wird, sucht einen Postdoc für ein neues Drittmittelprojekt. Es soll um die ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen einer neuen digitalen Gesundheitsanwendung gehen. Es stellen sich sozial-empirische und ethisch-normative Forschungsfragen. Das Anforderungsprofil…

Habermas und die Medien: Überlegungen zum neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit

von Hans-Henrik Dassow (Universität Bremen) Wenn von Personen der Öffentlichkeit akademische Arbeiten erneut hervorgeholt werden, ist dies für die Betroffenen häufig nicht sehr erfreulich: Zu treffsicher sind die Algorithmen von Plagiat-Software darin, akademische Verfehlungen von Autor*innen aufzudecken. Der Philosoph der Öffentlichkeit, Jürgen Habermas (*1929), muss zunächst nicht um seine akademischen…

Demokratie und Expertise

von Lisa Herzog (Universität Groningen) „People have had enough of experts!” Dieser Spruch aus dem Brexit-Wahlkampf wird häufig zitiert, wenn es darum geht, dass Bürger*innen dem Einfluss von Expert*innen auf die Politik misstrauen. Aber ist die Spannung zwischen Gleichheit demokratischer und ungleicher Expert*innenautorität wirklich unüberwindbar? In diesem Blogpost argumentiere ich,…

Digitalisierung und Alltagswelt

Von Oliver Zöllner (Hochschule der Medien Stuttgart) „Digitalisierung“ scheint fast ein Zauberwort der Gegenwart zu sein. Mit diesem Begriff verbinden sich Vorstellungen von Modernität, Zukunft und der Lösung alltäglicher Probleme – quasi per Zahlencode und Programmierung. Viele alltägliche Verrichtungen sind durch ihre digitalisierte Ausgestaltung in den letzten 30 Jahren auch…

Ein religionspädagogischer Beutelsbacher Konsens? Der Schwerter Konsent als Ergebnis einer Fachtagung

Von Jan-Hendrik Herbst (TU Dortmund) In unterschiedlichen Fachdidaktiken gibt es eine Auseinandersetzung um den Beutelsbacher Konsens (BK), die Neutralität von schulischer Bildung und eine „Kontroverse über Kontroversitätsgebote“. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Aktualisierungen und Modifizierungen vom BK vorgenommen, u. a. im Magdeburger Manifest (Demokratiepädagogik), in der Frankfurter Erklärung (kritische politische…

Disruptionen in Zeitlupe? Sorgen in der digitalen Transformation

Von Armin Grunwald (Karlsruher Institut für Technologie) Disruption ist zu einem vielfach verwendeten Begriff geworden, zunächst als disruptive Innovation im wirtschaftlichen Wettbewerb, zurzeit eher anlässlich aktueller Krisenphänomene wie Pandemie und Ukraine-Krieg. Verbreitete Sorge ist, dass die digitale Transformation vieler gesellschaftlicher Bereiche durch allmähliche Entwicklungen wie etwa Zersetzung der Demokratie, Freiheitsverlust…

Was hat Wahrscheinlichkeit mit Zufall zu tun?

Würfelspiel

Rüdiger Stegen (Hochschule Weserbergland) Beim Eingangsbild dieses Artikels werden sich wahrscheinlich viele an den Mathematikunterricht in der Schule erinnern, denn Würfeln ist das Paradebeispiel für den Einstieg in die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Aber was hat Wahrscheinlichkeit mit Zufall zu tun? Sucht man in diesem Blog das Wort „wahrscheinlich“, so findet man viele…

Was ist digitale Aufklärung? Kant und das Problem der neuen Medien

Jörg Noller (Universität Konstanz) In unserer hochdigitalisierten Welt ist eine digitale Aufklärung gerade deswegen nötig, weil die Digitalisierung nicht nur neue Möglichkeiten und Freiheiten eröffnet, sondern auch die Gefahr einer digitalen Unmündigkeit mit sich führt. Immanuel Kant hatte vor über 200 Jahren Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst…

Welt und Welterklärung

Fragezeichen an Bäumen

Uwe Meixner (Universität Augsburg) Die Welt ist in ganz bestimmter Weise; sie war es und wird es sein. In unendlich vielen anderen Weisen, in denen die Welt offenbar auch sein könnte, ist sie nicht. Warum also ist die Welt in dieser ganz bestimmten Weise und nicht in einer anderen? Diese…

Waste Animals

Von Johann S. Ach (Münster) In Deutschland wurden 2021 rund 2,5 Millionen Tiere im Zusammenhang der tierexperimentellen Forschung gezüchtet und getötet, die nicht in Versuchsvorhaben eingesetzt wurden. Ihre Nutzung als Futtermittel stellt, wie im Folgenden dargelegt wird, nicht nur aus rechtlicher, sondern auch aus ethischer Perspektive keinen Grund dar, der…

Sollten Berufsempfehlungen durch Algorithmen abgegeben werden?

Antonia Kempkens (Universität Bremen) Als ich in der 11. Klasse war, haben wir einen Schulausflug ins Berufsinformationszentrum der Bundesagentur für Arbeit gemacht, um herauszufinden, welche Berufe zu uns passen. Nachdem wir am Computer Fragen zu unseren Interessen beantwortet hatten, wurde uns eine Liste mit zu uns passenden Berufen ausgestellt. Auf…

Zur Gleichzeitigkeit von digitaler Dystopie und digitaler Utopie

Karoline Reinhardt (Universität Passau) Das Reden und Schreiben über Digitalisierung und Künstliche Intelligenz ist von einer Gleichzeitigkeit von Untergangsvisionen und Heilsversprechen geprägt: Utopie und Dystopie liegen hier nah beieinander. Dystopien „als düstere Extrapolation all unserer Leiden“ mobilisieren „unsere Einbildungskraft“ (Heller 2016: 70). Dies gilt auch für die digitalen Dystopien: Sie…

Menschenrechte fürs Metaverse

Dorothea Winter (Humanistische Hochschule Berlin) KI verändert die Gesellschaft. Doch welchen Einfluss hat sie auf unsere Demokratie? Zur Beantwortung müssen die Sphären Wirtschaft und Politik zusammengebracht werden. Zwischen ihnen wirkt der Mensch als zoon politikon und homo oeconomicus: Er ist politisches und Wirtschaftssubjekt. Doch ist das Zusammenwirken dieser Bereiche nicht…

Feministische Forschung – Wie gelingt eine gute wissenschaftliche Praxis?

Das Orga-Team der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ in der Akademie für Ethik in der Medizin in alphabetischer Reihenfolge: Mirjam Faissner (Bochum), Isabella Marcinski-Michel (Göttingen), Regina Müller (Bremen), Merle Weßel (Oldenburg) Als Organisatorinnen der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ (FME) sprechen wir uns für…

„Ampeln“ für die moralische Bewertung von Lebensmitteln

Von Norbert Paulo (Berlin) Seit etlichen Jahren wird über die Einführung von „Lebensmittelampeln“ diskutiert. Sie sollen eine einfache und schnelle Einordnung ermöglichen, wie gesund oder ungesund ein Lebensmittel ist. Viel ist bisher nicht daraus geworden. Eine Lebensmittelampel, die anzeigt, wie ein Lebensmittel in moralischer Hinsicht abschneidet, wäre allerdings noch wichtiger.…

Onkomoderne. Kapitalismus und/als Krankheit.

Von Michaela Wünsch (Berlin) Onkomoderne ist eine Sammlung von Kolumnen der Berliner Künstlerin und Autorin Christina Zück, die zuerst in der Zeitschrift von hundert erschienen. Allein der programmatische Titel legt eine Zustandsbeschreibung und -analyse gegenwärtiger Verhältnisse nahe, die sich durch selbstdestruktive Expansion, Wucherung, aber auch Pathologisierung[1] von vermeintlichen Abweichungen von…

Informed Consent, Vulnerabilität und algorithmische Diskriminierung

Von Hauke Behrendt (Stuttgart) und Wulf Loh (IZEW Tübingen) Zu den größten Binsen des Digitalisierungsdiskurses der letzten Jahre gehört die Einsicht, dass personenbezogene Daten für große Digitalkonzerne wie Apple, Facebook, Amazon oder Google eine Schlüsselrolle einnehmen. Mehr noch: Für manche besitzt die Ressource Daten einen vergleichbaren Stellenwert für die Plattformökonomie…

Multiparadigmatizität in den Wissenschaften

Von Stephan Kornmesser (Oldenburg und Hannover) In diesem Beitrag werde ich Thomas S. Kuhns These, dass in einer paradigmenbasierten Wissenschaft immer genau ein Paradigma vorherrscht, kritisieren und für die These einer multiparadigmatischen Struktur von Wissenschaften argumentieren. Ich werde zeigen, dass es Wissenschaften gibt, die erstens paradigmenbasiert funktionieren, in denen aber…

Sehnsucht nach Wissenschaft. Die romantische Universität

Von Markus Steinmayr (Duisburg-Essen) Die Idee der romantischen Universität wird in unterschiedlichen Formen und Textsorten entwickelt. Es gibt Verwaltungsschriften wie Humboldts berühmte „Denkschrift über die äußere und innere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin“ aus dem Jahre 1809. Anders blickt zum Beispiel Joseph von Eichendorff auf Sache und Funktion…

Ethische Fragen an die technische Lösung der Klimakrise [Teil II]: Was die Atombombe uns über die sittlichen Voraussetzungen der Klimakrise lehren kann

Von Hannes Wendler (Köln und Heidelberg) Angesichts der Klimakrise erwacht ein neues sittliches Bewusstsein in der jüngeren Generation. Ethischen Selbstverständigungsangeboten wie dem Effektiven Altruismus (z.B. 80,000 hours) liegt jedoch dieselbe Mittel-Zweck Rationalität zugrunde, aus der auch die Klimakrise entsprungen ist. Die Klimakrise enthält demnach eine ethische Tiefendimension, die weder technisch…

Ethische Fragen an die technische Lösung der Klimakrise [Teil I]: Warum die ökologische Krise nicht durch dieselbe Zweck-Mittel-Rationalität gelöst werden kann, aus welcher sie hervorgegangen ist

Von Hannes Wendler (Köln und Heidelberg) Angesichts der Klimakrise kommt es zu einem neuen Selbstverständnis der betroffenen, größtenteils jungen Generationen. Anders als sich vermuten ließe, begreift diese sich nicht als nihilistische, sondern als moralische Generation, die durch eine distinkte Aufbruchsstimmung charakterisiert werden muss. Obgleich aus der Selbstverständigung dieser Generation begrüßenswerte,…

„Karl May würde AfD wählen!“ Ein mutmaßlicher Wahlkampfslogan von 2023 und seine Vorgeschichte

Von Christian Niemeyer (Berlin) Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier brüten? Nietzsche: Also sprach Zarathustra III Mein Kriegspfad gegen Bellizist*innen aller Couleur (vorwiegende schwarze, aber auch gelbe wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die mir ausgerechnet heute, beim Schreiben dieser Zeilen, per Phoenix-TV ein Ohr abkaut…

Politik für das Postwachstum

Von Max Koch (Lund) Ein halbes Jahrhundert ist seit der Publikation der bahnbrechenden Studie zu den „Grenzen des Wachstums“ von Meadows et al. vergangen. Seitdem hat die Literatur der ökologischen Ökonomie, des Postwachstums (Degrowth) und der nachhaltigen Wohlfahrt (sustainable welfare) immer wieder darauf hingewiesen, dass eine umfassende ökologisch-soziale Transformation möglichst…

Die Philosophie von Severance

Von Rebecca Bachmann (Kassel) „Who are you“ – das ist nicht nur eine Grundsatzfrage der Philosophie, sondern auch der erste Satz der 2022 erschienenen Serie Severance. Die Serie gleicht in ihrer Prämisse einem philosophischen Gedankenexperiment: Stell dir vor, es gibt einen Chip, der es dir ermöglicht, dein Selbst in zwei…

Organisationsethisch basiertes Krankenhaus-Management – am Beispiel des Controlling

von Heinz Naegler (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) Die Ergebnisse der auf der Makro- und auf der Meso-Ebene des Gesundheitssystems gefällten Entscheidungen ragen weit in den klinischen Bereich des Krankenhauses hinein[1]. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass angesichts des finanziellen Drucks die Bestandssicherungsinteressen des Krankenhauses patientenbezogene Entscheidungen der Ärzte[1]…

Das Nichtwissen und die Philosophie – Rückblick auf den Themenschwerpunkt

von Tim Kraft (Regensburg) Als wir hier auf Präfaktisch im Oktober 2019 den Themenschwerpunkt „Nichtwissen“ starteten, der mit diesem Beitrag zu einem Ende kommt, hatten wir viele Erwartungen, aber mit mehreren Dingen haben wir nicht gerechnet. Zuerst einmal haben wir nicht gewagt, damit zu rechnen, dass es – inkl. diesem…

Wachstums-Schizophrenie

Von Richard Sturn (Graz) Am Wirtschaftswachstum scheiden sich die Geister – oder sollte man besser von einer Schizophrenie moderner Gesellschaften sprechen? Wenn in Deutschland, Österreich, China oder anderswo die Wachstumsprognosen um einen halben Prozentpunkt nach unten korrigiert werden, dann folgen mit größter Selbstverständlichkeit augurenhafte Hinweise auf damit verbundene Schwierigkeiten für…

Sprachlose Opfer. Zum Zusammenhang von institutionalisierter Gewalt und epistemischem Unrecht

Von Dietrich Schotte (Regensburg) Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in einem Schwerpunkt zur epistemischen Ungerechtigkeit in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP) erschienen ist. Der Aufsatz kann auf der Website der ZfPP kostenlos heruntergeladen werden. Dieser Blogbeitrag kann auch als Podcast gehört und heruntergeladen werden: Nach…