14 Sep

Feminist Strike: Frauen machen Revolution.

von Maria Robaszkiewicz (Paderborn)


Der Begriff des feministischen Streiks rückt wieder ins Zentrum feministischer Debatten, diesmal durch das Buch von Verónica Gago, Feminist Inernational. How to change everything.[1] Gago und ihre Compañeras vom Kollektiv Ni una menos gerieten auch ins Blickfeld der Mainstream-Medien, als kurz vor dem Ende des letzten Jahres in Argentinien ein Gesetz verabschiedet wurde, das die kostenlose Abtreibung bis zur 14. Schwangerschaftswoche legalisiert. Die Massen von Aktivist*innen, die sich vor dem Argentinischen Nationalkongress versammelt haben, jubelten vor Freude.

Dieses Ereignis war der Höhepunkt eines jahrzehntelangen Kampfes und ein Zeugnis der feministischen Dynamik in vielen lateinamerikanischen Ländern; eine politische Reaktion auf die drastische Einschränkung vom  Selbstbestimmungsrecht  der Frauen und anderer gebärenden Subjekte und zugleich eine pragmatische Reaktion auf die Risiken der illegalen Abtreibung. In ihrem Buch argumentiert Verónica Gago für einen radikal innovativen Charakter des dabei in Lateinamerika entstandenen Aktivismus: Der Streik[2] brachte nicht nur verschiedene Gruppen von Frauen zusammen, sondern auch Menschen, die unter verschiedenen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt leiden, wobei der Schwerpunkt auf neoliberalen Ausbeutungspraktiken lag. Da viele Frauen nicht außerhalb des Hauses arbeiten, bietet ihnen die Öffnung des Streiks über den üblichen gewerkschaftlichen Rahmen hinaus (Gago 2020, 14) eine revolutionäre Möglichkeit, ihre Stimme zu erheben und sich von Opfern in Kämpferinnen zu verwandeln (13). Angetrieben von dem, was Gago „feministische potencia“ nennt – eine begehrende Fähigkeit, eine Kraft, die das, was als möglich wahrgenommen wird, tatsächlich möglich macht – protestieren Frauen für ihre Rechte, motiviert von einem kollektiven Wunsch, alles zu verändern.

Dieser Wunsch wurde zum gleichen Zeitpunkt an einem ganz anderen Ort geäußert. Im Oktober 2020 hat das polnische Verfassungsgerichtshof ein Urteil gefällt, dem nach das bereits davor extrem restriktive Abtreibungsgesetz weiter verschärft wird. Eine schwangere Frau darf die Schwangerschaft nicht abbrechen, wenn der Fötus eine letale Missbildung erweist, heißt es jetzt. Nur zur Veranschaulichung: Das bedeutet, dass wenn der Fötus kein Gehirn hat, oder sagen wir – überhaupt keinen Kopf, muss die Frau die Schwangerschaft fortsetzen, bis der Fötus abstirbt; möglicherweise bis zum regulären Zeitpunkt der Entbindung. Tausende Frauen und ihrer Unterstützer*innen gingen auf die Straßen in allen großen und vielen kleineren Städten Polens. Die friedlichen Proteste generierten ein großartiges Gefühl der revolutionären Macht, das in dieser Form seit längerer Zeit nicht zu spüren war, aber sie brachten auch die repressiven Staatsstrukturen zum Vorschein, wenn die Polizeikräfte die Demonstrierende angriffen.

Das Thema ist riesig und kann aus verschiedenen (feministischen) Positionen betrachtet werden. Ich werde hier nicht diskutieren, auf welche Weise und zu welchem Ausmaß Abtreibungsverbot ein Angriff in die Freiheit der Frau auf Bestimmung über das eigenen Körper ist. Was mich in diesem Beitrag interessiert, ist die feministische Ermächtigung, die durch das gemeinsame Handeln entsteht, in diesem Fall durch Straßenproteste. Denn Frauenproteste haben eine lange Tradition – Straßenmarsche der Suffragetten, Arbeiterinnenstreiks anfangs des 20. Jahrhunderts, Women’s Strike for Equality, isländischer „Frauen-Ruhetag“, um nur wenige zu nennen – und diese Tradition wird in beiden von mir beschriebenen Fällen fortgesetzt. Frauen und ihre Unterstützer*innen gehen auf die Straßen, um für eine Veränderung zu kämpfen.

Ich bin in der Hannah Arendt Forschung zu Hause und beobachte die Proteste aus dieser Perspektive: durch ihre Konzepte des Handelns, der Revolution und des zivilen Ungehorsams. Aber obwohl der Streik, wie in Gagos Buch beschrieben, ein ausgesprochen arendtscher Moment ist, ein hervorragendes Beispiel für freies, plurales, spontanes und konzertiertes Handeln, spielt Arendt darin keine Rolle. Das liegt, wie ich denke, an Arendts Missbilligung von politischen Frauenbewegungen. Wenn Feminismus es voraussetzt, Geschlecht als die Achse, die den Zugang zur Macht differenziert anzuerkennen (Graff 2021), hat sie es verfehlt. Für Arendt war ihre jüdische Herkunft von politischer Bedeutung, im Gegensatz zu ihrem Frausein. Sie bleibt für viele eine problematische Figur und definitiv keine intuitive Wahl für feministische Untersuchungen. Aber die anfangs, maßgeblich wegen ihrer Trennung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen (Arendt 2007, 62–81), extrem kritische Rezeption ihrer Schriften aus feministischer Perspektive hat sich inzwischen sehr zum Positiven entwickelt. Ich will hier das Potenzial ihrer Theorie nutzen, um einen ersten Schritt zu machen, das Phänomen der Frauenproteste besser zu verstehen.

Handeln ist öffentlich. Das bedeutet, dass jede menschliche Aktivität, die man als Handlung bezeichnen könnte, im öffentlichen Raum stattfinden, für andere sichtbar und/oder hörbar sein muss. (Arendt 2007, 251) Diese Sichtbarkeit ist der Hauptunterschied zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, was viele Feministinnen problematisieren. Sollten wir diese Räume allerdings als Erscheinungsräume verstehen, kann das, was als privat und intim angesehen wird, nämlich die Verkörperung der Frau und Reproduktion der Spezies, in eine öffentliche Angelegenheit übersetzt werden. Und es sind nicht die Feministinnen oder gar Frauen, die diese Übersetzung zuerst vornehmen, sondern Politiker, meistens männliche, meistens durch religiöse Institutionen unterschiedlicher Art unterstützt. Ihr Wille, die Freiheit der Frauen, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, zu verwalten, zu kontrollieren und zu sanktionieren, ist harscher und restriktiver als die natürliche Materialität der weiblichen Verkörperung und ihre Notwendigkeiten. Ungewollt beeinflussen Schwanger zu sein beeinflusst das Leben der betroffenen Frauen bis in den existenziellen Kern, bestimmen ihre Zukunft und hindern sie daran, ihr Leben als freie und gleichberechtigte Menschen zu leben. Arendts öffentliches und gemeinsames Handeln erzeugt Macht und in diesem Sinne erlauben die feministischen Proteste, die ich beschreibe, der Frauenverkörperung und den Fragen der reproduktiven Rechte von Frauen im Sinne der Ermächtigung statt der Ohnmacht zu begegnen.

Handeln ist spontan. Das mag kontraintuitiv erscheinen, da wir dazu neigen, uns Handlung als ein Projekt vorzustellen: ein Ziel verfolgen; Mittel erschaffen, die uns zu diesem Ziel führen; und schließlich das Ziel erreichen – oder nicht. Doch mit Spontaneität wird nicht gemeint, dass arendtsches Handeln kontingent ist. Das Handeln wird durch Pluralität gekennzeichnet und hat seine phänomenale Struktur. Es gibt eine Absicht, auf die das Handeln gerichtet ist. Es muss jemanden geben, der einen Anfang macht und es muss Menschen geben, die mitwirken. Die Spontaneität des Handelns resultiert aus der Unvorhersehbarkeit Taten einzelner Akteure, die sich gegenseitig auf unzählige Weisen bedingen. Konzertiertes Handeln[3] ist kein Prozess, der nach einem Schema abläuft; es ist vielmehr eine fragile, aber machtvolle Ko-Performance politischer Subjekte in ihrer Gleichheit und Differenz – das freie und spontane Handeln erzeugt seinen eigenen Rhythmus und seine eigene Harmonie, so dass es vielleicht eher an eine Jam-Session als an ein Konzert erinnert. Wenn also Verónica Gago die Streikpraktiken von Ni una menos als alles andere als spontan beschreibt und vielmehr „patiently woven and worked on, threading together enormous street events with everyday activism“ (Gago 2020, 4), erinnert dieses Weben an Arendts Netz menschlicher Angelegenheiten, das sich aus den Handlungen vieler ergibt und den politischen Subjekten ermöglicht, zu zeigen, wer sie sind. (Arendt 2007, 219)

Handeln ist verkörpert. Arendt stellt die Verkörperung explizit als natürlich, privat, bedürftig und rechtlos, damit als vorpolitisch oder entpolitisiert dar und in diesem Sinne defizitär. Es wird aber schnell deutlich, dass die Verkörperung des Handelns immer implizit vorausgesetzt wird. Der Mensch ist, offensichtlich, ein verkörpertes Wesen und hinter jeder Tat und jedem Wort steht immer ein Körper. Der feministische Streik ist ein perfektes Beispiel für eine solche verkörperte Handlung. Judith Butler weist darauf hin, dass protestierende Körper ausgesetzt und gefährdet sind: „they are (…) face-to-face with those they oppose, unprotected, injurable, persistent if not insurgent“ (Butler 2018, 92) und in allen feministischen Protesten sind dies überwiegend Frauenkörper. Denn obwohl feministische Proteste in der Regel gewaltfrei sind, sind sie von Gewalt geprägt. Unterschiedliche Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt führen zum Protest, zur Entscheidung, in die Öffentlichkeit zu treten. In Argentinien war die Motivation für die Proteste eine Welle von Femiziden in Lateinamerika. Übermäßige Gewalt ist auch häufig die Antwort des politischen Regimes auf die Protestierenden.

Feminismus geht von der Anerkennung der patriarchalischen Machtstrukturen, die nicht nur für Frauen, sondern für die gesamte Gesellschaft schädlich sind aus sowie von der Anerkennung der Notwendigkeit, dagegen zu handeln. Dies ist einer der Gründe, dass Feminismus als revolutionäre Praxis (Borren 2013) verstanden werden muss. Der feministische Streik ist in diesem Sinne ein revolutionäres Moment.

Die feministische Agenda so zu übersetzen, dass sie zu einem Thema des öffentlichen Interesses wird, ist immer eine Herausforderung. Hannah Arendts Konzept des Handelns bietet einen theoretischen Bezugspunkt, um die Ermächtigung, die aus den Protesten resultiert zu beschreiben und zu verstehen. Spontan und frei, unabhängig von einschränkenden Institutionen, treffen sich Freuen und ihre Unterstützer*innen[4] um gemeinsam, durch Worte und Taten eine politische Veränderung zu erreichen. Sie setzen ihre Körper in Gefahr aber zugleich bringen ihre Kraft in einer kritischen, verkörperten Versammlung zum Ausdruck. Konzertiertes Handeln, das in diesen Protesten realisiert wird, basiert auf der Wertschätzung der Ähnlichkeiten und Anerkennung der Unterschiede und vermittelt eine klare Botschaft: wir stehen hier und weichen nicht zurück.


Maria Robaszkiewicz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Philosophie an der Universität Paderborn. Sie hat Philosophie in Polen, Finnland und Deutschland studiert und ist 2015 mit einer Dissertation über Hannah Arendts Übungen im politischen Denken promoviert. Sie schätzt philosophische/akademische Allianzen, Kooperationen und Freundschaften. Aktuell forscht sie über Migrationserfahrung aus der Perspektive der kritischen Phänomenologie, sucht aber auch nach philosophischen Spuren im Persönlichen und Politischen. Im Mai 2022 veranstaltet sie gemeinsam mir Marieke Borren, Sara Cohen Shabot und Katja Čičigoj die Konferenz People on Streets. Critical Phenomenologies of Embodied Resistance.


Literatur

Arendt, Hannah 2007. Vita activa oder vom tätigen Leben. München & Zürich: Piper.

Borren, Marieke 2013. Feminism as Revolutionary Practice: From Justice and the Politics of Recognition to Freedom, in Hypatia 28 (1), 197–214.

Gago, Verónica 2020, Feminist International. How to change everything. London & New York: Verso.

Graff, Agnieszka 2021. Interview: Nie jesteś feministką, jeśli się dostosowałaś, in Gazeta Wyborcza Magazyn, 26.06.2021. URL https://wyborcza.pl/magazyn/7,124059,27249997,agnieszka-graff-nie-jestes-feministka-jesli-sie.html (30.06.2021).


[1] Das Buch ist 2021 in deutscher Übersetzung erschienen. Ich benutze hier die amerikanische Ausgabe.

[2] In diesem Beitrag verwende ich die Begriffe Protest und Streik synonym, da dies die Praxis der Protestierenden selbst ist.

[3] Arendt übernimmt den Begriff des acting in concert von Edmund Burke, deutet ihn aber für ihre Theorie um.

[4] Die Frage der feministischen Zugehörigkeit zwischen Selbstanerkennung und internen Kontrollmechanismen der (in der Tat sehr heterogenen) feministischen Bewegung verdient einen separaten Blogbeitrag.