15 Okt

Der praktische Nutzen des Ideals. Die Relevanz idealer Theorie zur Bewertung politischer Optionen­

Von Jürgen Sirsch (Bamberg)


Wie sollte man aktuelle gesellschaftliche Zustände bewerten? Wie sollte man beurteilen, in welche Richtung wir uns bewegen sollten, wenn wir aktuelle Zustände verändern wollen? Ideale Theorie liefert Antworten auf diese Fragen. In idealer Theorie stellen wir systematisch Überlegungen darüber an, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen könnte – etwa, ob es sich hierbei um eine kapitalistische oder sozialistische Gesellschaft handelt. Gleichzeitig liefern uns Ideale auch relevante Hinweise darüber, was wir im Hier und Jetzt tun sollten.

Der Philosoph John Rawls ist die entscheidende Referenzfigur für diese Methode der praktischen Philosophie. Rawls hat hierfür auch den Begriff der „realistischen Utopie“ geprägt: Ideale Theorie soll demnach keine Fantasiewelt beschreiben, sondern eine Gesellschaft, die Gerechtigkeit so weit wie möglich realisiert (Rawls 2001). Damit solch ein Gerechtigkeitsideal aber relevant für uns ist und eine für uns erstrebenswerte und mögliche Welt beschreibt, sollte es grundlegende psychologische, ökonomische, und soziale Restriktionen berücksichtigen. Der Status quo darf dabei aber nicht so stark als Restriktion berücksichtigt werden, dass ideale Theorie ihren kritischen Anspruch verliert.  

Ideale Theorie besteht aus zwei Komponenten: Prinzipien und idealen Institutionen. Prinzipien formulieren Kriterien für eine gerechte Gesellschaft. Beispielsweise fordern Rawls‘ Prinzipien für eine vollkommen gerechte Gesellschaft eine umfassende und gleiche Realisierung bestimmter Grundfreiheiten, faire Chancen auf Ämter und Positionen sowie eine Maximierung der Aussichten derjenigen mit den geringsten Aussichten auf sozio-ökonomische Vorteile. Diese Kriterien spiegeln die Prioritäten in einer vollkommen gerechten Gesellschaft wider.

Auf der Grundlage der Prinzipien werden ideale Institutionen entworfen, die eine konkretere Beschreibung einer idealen Gesellschaft liefern. Bei der Konstruktion idealer Institutionen fließen Überlegungen darüber mit ein, wie die Prinzipien am besten verwirklicht werden können. Zurzeit werden im Anschluss an Rawls vor allem zwei ideale Institutionendesigns diskutiert: „Property-Owning Democracy“ und ein liberal-demokratischer Marktsozialismus (siehe etwa Edmundson 2017; O’Neill und Williamson 2012).

Die Konstruktion idealer Gesellschaftsentwürfe

Im weiteren Verlauf werde ich nicht genauer auf die konkreten Ideale eingehen, sondern der grundlegenderen Frage nachgehen, wie ideale Institutionen konstruiert werden sollten und in welcher Hinsicht diese praktisch-politische Relevanz haben. Ideale Theorie unterscheidet sich dadurch von anderen Vorgehensweisen in der politischen Philosophie, dass bei der Konstruktion idealer Prinzipien und Institutionen bewusst bestimmte Aspekte der Realität ausblendet werden. Dies wirft natürlich die Frage auf, welche Aspekte der Realität für ideale Theorie so relevant sind, dass sie berücksichtigt werden sollten und welche dagegen bei der Konstruktion eines gesellschaftlichen Ideals ausgeblendet werden sollten.

Sollten wir beispielsweise beim Nachdenken über eine ideale Gesellschaft berücksichtigen, dass die meisten Menschen nur eine eingeschränkte Bereitschaft haben Geld für wohltätige Zwecke zu spenden? Von dieser Annahme beim Nachdenken über ein gesellschaftliches Ideal auszugehen bedeutet, dass wir die eingeschränkte Spendenbereitschaft hinnehmen und etwa Umverteilungsziele durch Besteuerung oder andere Finanzierungsquellen erreichen müssen.

Sollten wir bei der Konstruktion des Ideals auch annehmen, dass es keine Mehrheiten für anspruchsvolle politische Programme, wie etwa ein bedingungsloses Grundeinkommen, gibt? Wenn wir dies zugrundlegen, dann hieße das, anspruchsvolle gesellschaftliche Ideale auszuschließen: Denn ideale Theorie soll eine prinzipiell realisierbare Gesellschaft beschreiben und wenn wir davon ausgehen, dass anspruchsvolle politische Programme keine Mehrheiten erhalten können, können wir sie nicht als prinzipiell realisierbare Ideale vorschlagen.

Eine praktisch-politisch relevante Form von idealer Theorie sollte die erste Art von Restriktionen (Beispiel: individuelle Spendenbereitschaft) beachten, jedoch die zweite Art (Beispiel: Mehrheiten für politische Programme) nicht. Allgemeiner gesagt handelt es sich bei der ersten Art von Restriktionen um Fragen des Verhaltens von Individuen in unterschiedlichen institutionellen Kontexten. Diese Restriktionen sollten beachtet werden. Nehmen wir wieder das Beispiel eines bedingungslosen Grundeinkommens: Die Wünschbarkeit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens hängt auch davon ab, wie sich die Einführung eines Grundeinkommens auf die Entscheidungen von Individuen auswirkt. Denn davon hängt ab, ob die Ziele, die man mit der Einführung eines Grundeinkommens verfolgen möchte – wie die Reduzierung von Ungleichheit, aber auch die Stabilität der Institutionen – erreicht werden können (Sirsch 2020).

Solche Fragen sind dann relevant, wenn wir über die Institutionen, die eine ideale Gesellschaft ausmachen, nachdenken. Die Frage jedoch, ob solch eine ideale Gesellschaft aktuell oder in absehbarer Zeit politisch realisierbar erscheint, sollten wir ausblenden. Damit kommen wir zum zweiten Typ von Restriktionen, nämlich, politischen Restriktionen: Politische Philosophie diskutiert Fragen der gerechten Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen. Ideale Theorie hat die Aufgabe uns vor Augen zu führen, wie eine gerechte Gesellschaft aussehen könnte. Was politisch durchsetzbar ist, hängt aber zu einem Großteil davon ab, welche politischen Maßnahmen von den Bürger*innen als umsetzbar und wünschenswert wahrgenommen werden. Es ist eine Funktion idealer Theorie hier eine mögliche Orientierung für die Öffentlichkeit zu bieten, indem gezeigt wird, wie eine gerechtere Gesellschaft aussehen könnte. Es entspricht daher nicht der kritischen Funktion idealer Theorie, die öffentliche Meinung als gegeben anzunehmen, sondern eine kritische Perspektive auf Ungerechtigkeit und vermeintliche Hindernisse der Realisierung einer gerechteren Gesellschaft bereitzustellen. Diese Funktion erfüllt ideale Theorie am besten, wenn sie zeigt, welche Art von Gesellschaft möglich wäre, sollten wir den politischen Willen aufbringen, eine solche Gesellschaft zu realisieren.

Außerdem sind politische Restriktionen auf lange Sicht besonders schwer zu identifizieren: Das liegt daran, das zufällige Ereignisse, wie etwa die COVID-19 Pandemie oder der atomare Unfall in Fukushima, politische Restriktionen unmittelbar radikal ändern können. Solche Ereignisse können den politischen Möglichkeitsraum unter bestimmten Bedingungen stark erweitern, so dass vormals für unmöglich gehaltene politische Veränderungen plötzlich möglich sind (Kingdon 2011). Für ideale Theorie spielt es keine Rolle, ob hier und jetzt genügend politische Unterstützung zur Realisierung einer idealen Gesellschaft mobilisiert werden kann – es muss nur sichergestellt sein, dass eine ideale Gesellschaftsordnung langfristig entstehen könnte und funktionsfähig wäre.

Idealtheoretische Gesellschaftsentwürfe, wie eine Property-Owning Democracy oder ein liberal-demokratischer Marktsozialismus sollten also nicht dahingehend geprüft werden, ob sie politisch durchsetzbar sind. Stattdessen muss überlegt werden, ob diese Institutionen unsere idealen Prinzipien bestmöglich realisieren würden und ob sie politisch sowie sozio-ökonomisch stabil wären. Die Prüfung dieser Aspekte sollte unter Einbeziehung realistischer Annahmen darüber, wie sich Individuen unter den jeweiligen institutionellen Bedingungen Verhalten, geschehen. Nur dann ist gesichert, dass die Realisierung idealer Institutionen auch tatsächlich zu einer stabilen und gerechten Gesellschaftsordnung führt.

Die praktisch-politische Relevanz idealer Theorie

Warum ist diese Art von idealer Theorie praktisch relevant für die Beurteilung politischer Fragen im Hier und Jetzt, auch wenn die gesellschaftlichen Ideale, die sie formuliert, nicht unmittelbar realisierbar sind? Zunächst einmal hat ideale Theorie eine kritische und inspirierende Funktion – indem sie aufzeigt, welche Arten von Gesellschaft möglich wären.

Aber ist ideale Theorie auch relevant für praktische Entscheidungen im Hier und Jetzt? Das heißt, liefert sie Informationen, die wir bei der Wahl zwischen praktisch verfügbaren Alternativen berücksichtigen sollten? Dies wird etwa von Amartya Sen bezweifelt. Sen argumentiert, dass ideale Gesellschaftsentwürfe für praktische Verbesserungen der Gerechtigkeit irrelevant sind. Man bräuchte ja auch nicht den Mount Everest zu kennen, um die Höhe zweier kleinerer Berge zu vergleichen (Sen 2009).

Diese Analogie geht jedoch fehl: Wenn wir über die Gerechtigkeit zweier „verfügbarer“ Reformen nachdenken, müssen wir mehr tun als nur ihre unmittelbare Gerechtigkeitswirkung zu vergleichen. Denn es stellt sich auch die Frage nach ihren langfristigen Auswirkungen auf die Realisierbarkeit einer gerechten Gesellschaft. Die Relevanz politischer Reformen im Hier und Jetzt für die langfristige Realisierbarkeit des Ideals hängt mit bestimmten Regelmäßigkeiten der politischen Ökonomie von politischen Reformen zusammen: Denn sozio-ökonomische Institutionen, beispielsweise bestimmte sozialstaatliche Programme, sind pfadabhängig (Pierson 2000): Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein bestimmter institutioneller Pfad, der einmal eingeschlagen wurde, weiter beschritten wird. Dies bedeutet, dass Programme anhand ihrer bestehenden Funktionslogik weiterentwickelt werden und ein Wechsel zu einer anderen Art von Programm immer unwahrscheinlicher wird.

Aufgrund von Pfadabhängigkeit müssen bereits bei der Analyse von aktuellen Politikoptionen die Auswirkungen auf die Verfügbarkeit zukünftiger Reformoptionen berücksichtigt werden (Sirsch 2012). Hierfür ist die Vorstellung davon, wie eine ideale Gesellschaft aussieht, von grundlegender Bedeutung: So kann beispielsweise die Realisierung von Reformoptionen, die gut zu den idealen Institutionen passen, weitere Schritte in Richtung des Ideals fördern. Auch sollte beachtet werden, dass Reformschritte im Hier und Jetzt die Bildung politischer Interessenkoalitionen fördern können, die auch ein Interesse an der Realisierung des Ideals hätten.

Ideale Theorie erfüllt somit eine wichtige Funktion im Rahmen praktisch-politischer Überlegungen. Sie liefert einen Gesellschaftsentwurf, der es uns erlaubt, über den aktuellen politischen Kontext hinauszuschauen. Hierbei ist der Anspruch jedoch ein anderer als bei einer Utopie: Idealtheoretische Gesellschaftsentwürfe haben den Anspruch, ambitionierte, aber realistische Gesellschaftsentwürfe zu formulieren. Deshalb ist ideale Theorie im Gegensatz zur Utopie relevant für politisch-strategische Überlegungen im Hier und Jetzt.


Jürgen Sirsch (twitter.com/juergensirsch) ist PostDoc am Lehrstuhl für Politischer Theorie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Er beschäftigt sich mit methodologischen Fragen der Politischen Philosophie, insbesondere in Bezug auf ideale Theorie, sowie gerechtigkeitstheoretischen Fragen und dem institutionellen Design gerechter Gesellschaften. Im Herbst diesen Jahres erscheint sein Buch zu idealer Theorie im Nomos Verlag in der Schriftenreihe der Sektion „Politische Theorie und Ideengeschichte“ der DVPW.

Literatur

Edmundson, William A. 2017. John Rawls: Reticent Socialist. Cambridge: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781316779934.

Kingdon, John W. 2011. Agendas, Alternatives, and Public Policies. Updated 2nd ed. Longman Classics in Political Science. Boston: Longman.

O’Neill, Martin, und Thad Williamson, Hrsg. 2012. Property-owning Democracy: Rawls and Beyond. Malden, MA: Wiley-Blackwell.

Pierson, Paul. 2000. „Increasing Returns, Path Dependence, and the Study of Politics“. American Political Science Review 94 (2).

Rawls, John. 2001. Justice as Fairness: A Restatement. Cambridge (Mass.): Belknap Press.

Sen, Amartya. 2009. The Idea of Justice. Cambridge (Mass.): Belknap Press.

Sirsch, Jürgen. 2012. „Die Relevanz idealer Theorie bei der Beurteilung praktischer Probleme“. Zeitschrift für Politische Theorie 3 (1): 25–41.

Sirsch, Jürgen. 2020. „Should Liberal-Egalitarians Support a Basic Income? An Examination of the Effectiveness and Stability of Ideal Welfare Regimes“. Moral Philosophy and Politics 0 (0). https://doi.org/10.1515/mopp-2019-0024.

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